Heft 903, August 2024

Die Sylter Pfingstgemeinde und der grenzenlose Spaß

Rassismus wird Pop von Robert Hugo Ziegler

Rassismus wird Pop

Ein kurzes Video, mit dem Handy aufgenommen. Darauf eine Festgesellschaft, offenkundig gut betucht. Nicht nur, weil sie in einem feinen Lokal in Kampen feiert; auch Kleidung und Stil weisen sie unzweideutig einer gehobenen Klasse zu. Im Vordergrund eine junge Frau, Mitte, Ende zwanzig, blonde Haare, die Sonnenbrille lässig ins Haar geschoben, weißes Hemd, den dunkleren Pulli locker darübergelegt. Fast ein Modeklischee. Sie lächelt in die Kamera, vielleicht hält sie das Handy, zumindest wirkt es so. Es läuft Musik, die man nicht gut hört, die junge Frau lacht und singt mit. Sie singt: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« Im Hintergrund steht ein Mann, etwa gleiches Alter, auf einem Stuhl oder Tisch, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase gelegt, das Hitler-Bärtchen andeutend, die rechte macht eine uneindeutige Geste, eine Mischung aus Hitlergruß und Taktschlagen mit der flachen Hand. Vielleicht konnte er sich nicht ganz entscheiden. Die Musik im Hintergrund ist ein Song von Gigi D’Agostino, L’amour toujours von 2001. Die fremdenfeindliche Neubetextung kursiert in gewissen Kreisen offenbar seit 2023.

Die Aufnahmen sind zu Pfingsten 2024 in Kampen auf Sylt entstanden und wurden sofort zu einem Skandal, und das zu Recht. Mich interessiert hier aber nicht die Verurteilung des unverhohlenen Rassismus, nicht die Empörung und Entrüstung. Mich interessiert, was da passiert ist – und ich will das, bei aller Abscheu, nach seinen eigenen Maßstäben zu verstehen suchen. Was ist da also geschehen? Was genau?

Die Frage könnte überflüssig erscheinen: Da haben sich ein paar reiche Schnösel getroffen, gefeiert, sicher getrunken und dann ihrem sonst gut verkleideten Chauvinismus freien Lauf gelassen. Die Heftigkeit vieler Reaktionen kommt dann vielleicht auch daher, dass man endlich einmal sieht, was man auch wissen könnte, meist aber zu ignorieren vorzieht: dass Rassismus keine Sache nur für den tumben Pöbel ist, dass nicht einfach die vom Abstieg bedrohte Mittelschicht der Motor der rechten Radikalisierung ist, sondern dass die Oberschicht genauso ihre Rolle spielt im Wiedererstarken rechter und rassistischer Agenden wie alle anderen Klassen auch. Eigenartig, dass das so schwer zu fassen ist. Die Narrative, wonach es die piefigen Kleinbürger sind, die den Faschismus besonders herzlich umarmen, scheint selbst eine wichtige Funktion in der Erledigung des Faschismusproblems zu erfüllen. Aber auch darum geht es mir hier nicht.

Ich will Spaß

Ich gehe aus von zwei Beobachtungen, die vielleicht weniger eindeutig sind, aber die man ernst nehmen muss, um zu verstehen, was genau da geschehen ist. Ich habe das Video im Internet, auf YouTube, gefunden, und zwar in einer kurzen Meldung vom Welt-Nachrichtensender (ehemals N24). Als ich die Kommentarspalte durchgescrollt habe, ist mir aufgefallen, dass die meisten der Kommentare – zumindest die meisten, die mir angezeigt wurden – das Geschehen zu bagatellisieren und die Reaktionen darauf zu diskreditieren versuchten. Auch das war keine große Überraschung; anders steht es schon bei den Mitteln, mit denen das erreicht werden sollte: Neben dem Naheliegenden, vor allem dem allgegenwärtigen »whataboutism« (»Aber wenn einer nach dem Kalifat schreit, schert das keinen!«), stach vor allem eine Argumentationslinie immer wieder heraus: »Man darf wohl keinen Spaß mehr haben!« Dieses Argument, das sei doch alles nur Spaß gewesen, man habe wohl Dampf abgelassen, ordentlich gefeiert, und man solle das doch nicht überbewerten, begegnete einem im Kommentarfeld immer wieder.

Nun wäre die Entgegnung auf dieses Argument natürlich einfach: Man könnte zum Beispiel darauf verweisen, dass die Taktik inzwischen altbekannt ist: etwas zu setzen, was gegen die aus gutem Grund etablierten Tabus verstößt, und dann, wenn die Empörung hochkocht, erklären, das sei doch nur Spaß gewesen, man dürfe das nicht so ernst nehmen, und die, die es doch täten, wollten sich wohl nur wichtigmachen, und überhaupt verstünden sie, wie man ja sehe, keinen Spaß. Diese Taktik dient sowohl der Strategie einer fortdauernden Verschiebung der gesellschaftlichen Orientierungspunkte nach rechts als auch der, die liberalen und linken Kritiker als miesepetrige Spielverderber und lebensfeindliche Rigoristen dastehen zu lassen. Die ganze Sache ist inzwischen allzu bekannt – und leider immer noch hoch wirksam. (Warum, das wird noch klarer werden.)

Man könnte auch einfach sagen: Wenn deine Vorstellung von Spaß zwingend rassistische Ausfälle beinhaltet, stimmt doch wohl etwas mit dir und deiner Vorstellung von Spaß nicht. Im Grunde ist das doch ein ganz unsinniges Argument, da es ja implizit unterstellt, es gäbe keine anderen Arten von Spaß: So, als wäre es keine Party, wenn man nicht jemanden beschimpfen darf.

Aber mir geht es um etwas anderes: Wenn man nämlich das Video anschaut, dann stellt man eines fest: Die Leute hatten mächtig Spaß! Der Kommentar, der als Entschuldigung nicht funktioniert, verweist auf etwas ganz Richtiges. Vor allem die junge Frau – auch, weil man sie am besten wahrnimmt auf diesem kurzen Video – strahlt eine solch unbekümmerte Gelöstheit aus, eine – das Wort wirkt völlig deplatziert, aber es gehört hierher – unschuldige Freude, dass man von dort anfangen muss. Sie lacht und ist übermütig und kichert und singt die rassistische Parole mehr, als sie sie grölt. Ihre Heiterkeit ist fast ansteckend. Und das ist genau der Punkt, der mich interessiert.

Man muss sich nur vergegenwärtigen, mit welchen Bildern diese Parole sonst verbunden ist. Ich denke da an dunkle Keller, in denen sich Nazis zum Rechtsrockabend zusammengefunden haben, oder an die Menschentrauben vor den Flüchtlingswohnheimen in Hoyerswerda. Davon ist man meilenweit entfernt. Die tumben, brunftschreiartigen Sprechgesänge, die man dort hörte oder mindestens vermutete und die man für das Wesen des Rechtsextremismus hielt, haben sich hier in eine ausgelassene Feier der Verachtung verwandelt. Natürlich hatten auch die Neonazis vor den Wohnheimen in Hoyerswerda ihren Spaß. Aber das ist doch wohl ein anderer Spaß als der, den die Kaschmirpulli-Träger in Kampen hatten. Was kann das heißen, dass Rassismus Spaß macht?

Überschreitung als Sackgasse

Man muss eine eigentümliche Umkehrung der Rollen konstatieren. Vor allem in den Sechzigern und frühen Siebzigern waren es die Linken, die als die Avantgarde einer heiteren Befreiung der Menschen auftraten. Der Nimbus, den man sich – zu Recht oder nicht – damals zugelegt hatte, wirkte noch lange nach. Nicht nur waren die Ziele solche einer verallgemeinerten Befreiung, einer ständigen Durchbrechung der beengenden Schranken, einer Überschreitung derjenigen Grenzen, deren quasipolizeiliche Durchsetzung schmerzhaft ist und unablässig Pathologien erzeugt: Nicht nur also sollte durch die Arbeit einer radikalen und rücksichtslosen Befreiung eine soziale Existenz in Heiterkeit und Ausgelassenheit, in Spontaneität und Freude erreicht werden, so sehr, dass die zentrale Rolle der Sexualität und ihrer Befreiung für die Achtundsechziger und ihre Nachfolger kein Zufall war, sondern das freie Ausleben der Sexualität jenseits aller Grenzen geradezu paradigmatische Bedeutung für die politische Arbeit selbst erlangte. Sondern auch die Mittel der Befreiung sollten primär solche sein, die sich durch dieselbe Spontaneität, Ausgelassenheit, Nonkonformität, gelegentlich nachgerade Albernheit auszeichneten.

Die kreative Neuerfindung von allerlei Techniken der Provokation, der Störung, der Überschreitung ließ Mittel und Zwecke zusammenfallen und begründete zugleich eine neue Lust an der Politik, die diese als eine Sache für Lausbuben und -mädchen erscheinen ließ. Auch von dieser Seite ist klar, dass die Sexualität paradigmatisch für diese Arbeit an der Befreiung wurde (eine Arbeit, die demnach ebenso sehr ein Spiel sein durfte), denn wenn man guten, befreienden, befriedigenden, urteilslosen Sex haben will, dann gibt es nur den einen Weg: ihn zu haben. Mittel und Zweck fallen hier unmittelbar zusammen.

Das Problem ist aber, dass diese Sichtweise und diese Praxis von Politik leicht einer allzu naheliegenden, aber schwerwiegenden Verwechslung unterliegen. Denn es ist zweifelsohne richtig, dass beispielsweise die rigiden Disziplinierungen von Sexualität vor allem junger Frauen, die bis in die sechziger und siebziger Jahre fast durchgängig herrschten, schlicht und ergreifend tyrannisch und destruktiv sind; die Grenze, die hier überschritten wurde, war nicht nur eine willkürliche, sondern auch eine ungerechte. Ihre Überschreitung war ein Akt echter Befreiung oder zumindest Auftakt dazu, ein erster Schritt zu einer umfassenderen Befreiung. Das heißt aber noch lange nicht, dass jede Überschreitung deshalb auch schon Befreiung ist.

Genau das aber scheint der große Irrtum zu sein, der implizit oder explizit seit den späten Sechzigern durch emanzipatorische Philosophie und Praxis geisterte. In einem überaus kritischen Text hat Mark Lilla konstatiert, dass Foucault als ein privater Abenteurer in Sachen Transgression einzuschätzen sei, der sich eher zufällig zwischendurch auch in die Politik verirrt habe. Ob diese Diagnose zutreffend ist, muss hier nicht interessieren, entscheidend ist, was daraus folgt: Transgression ist nicht per se eine emanzipatorische Geste. Es kommt eben immer darauf an, was man überschreitet. Auch ein Hitlergruß ist eine Transgression. Dass die neuen Rechten sich strategisch großzügig bei den alten Linken bedienen, muss dann nicht mehr verwundern.

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