Heft 903, August 2024

Die Sylter Pfingstgemeinde und der grenzenlose Spaß

Rassismus wird Pop von Robert Hugo Ziegler
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Rassismus wird Pop

Ein kurzes Video, mit dem Handy aufgenommen. Darauf eine Festgesellschaft, offenkundig gut betucht. Nicht nur, weil sie in einem feinen Lokal in Kampen feiert; auch Kleidung und Stil weisen sie unzweideutig einer gehobenen Klasse zu. Im Vordergrund eine junge Frau, Mitte, Ende zwanzig, blonde Haare, die Sonnenbrille lässig ins Haar geschoben, weißes Hemd, den dunkleren Pulli locker darübergelegt. Fast ein Modeklischee. Sie lächelt in die Kamera, vielleicht hält sie das Handy, zumindest wirkt es so. Es läuft Musik, die man nicht gut hört, die junge Frau lacht und singt mit. Sie singt: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« Im Hintergrund steht ein Mann, etwa gleiches Alter, auf einem Stuhl oder Tisch, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase gelegt, das Hitler-Bärtchen andeutend, die rechte macht eine uneindeutige Geste, eine Mischung aus Hitlergruß und Taktschlagen mit der flachen Hand. Vielleicht konnte er sich nicht ganz entscheiden. Die Musik im Hintergrund ist ein Song von Gigi D’Agostino, L’amour toujours von 2001. Die fremdenfeindliche Neubetextung kursiert in gewissen Kreisen offenbar seit 2023.

Die Aufnahmen sind zu Pfingsten 2024 in Kampen auf Sylt entstanden und wurden sofort zu einem Skandal, und das zu Recht. Mich interessiert hier aber nicht die Verurteilung des unverhohlenen Rassismus, nicht die Empörung und Entrüstung. Mich interessiert, was da passiert ist – und ich will das, bei aller Abscheu, nach seinen eigenen Maßstäben zu verstehen suchen. Was ist da also geschehen? Was genau?

Die Frage könnte überflüssig erscheinen: Da haben sich ein paar reiche Schnösel getroffen, gefeiert, sicher getrunken und dann ihrem sonst gut verkleideten Chauvinismus freien Lauf gelassen. Die Heftigkeit vieler Reaktionen kommt dann vielleicht auch daher, dass man endlich einmal sieht, was man auch wissen könnte, meist aber zu ignorieren vorzieht: dass Rassismus keine Sache nur für den tumben Pöbel ist, dass nicht einfach die vom Abstieg bedrohte Mittelschicht der Motor der rechten Radikalisierung ist, sondern dass die Oberschicht genauso ihre Rolle spielt im Wiedererstarken rechter und rassistischer Agenden wie alle anderen Klassen auch. Eigenartig, dass das so schwer zu fassen ist. Die Narrative, wonach es die piefigen Kleinbürger sind, die den Faschismus besonders herzlich umarmen, scheint selbst eine wichtige Funktion in der Erledigung des Faschismusproblems zu erfüllen. Aber auch darum geht es mir hier nicht.

Ich will Spaß

Ich gehe aus von zwei Beobachtungen, die vielleicht weniger eindeutig sind, aber die man ernst nehmen muss, um zu verstehen, was genau da geschehen ist. Ich habe das Video im Internet, auf YouTube, gefunden, und zwar in einer kurzen Meldung vom Welt-Nachrichtensender (ehemals N24).1 Als ich die Kommentarspalte durchgescrollt habe, ist mir aufgefallen, dass die meisten der Kommentare – zumindest die meisten, die mir angezeigt wurden – das Geschehen zu bagatellisieren und die Reaktionen darauf zu diskreditieren versuchten. Auch das war keine große Überraschung; anders steht es schon bei den Mitteln, mit denen das erreicht werden sollte: Neben dem Naheliegenden, vor allem dem allgegenwärtigen »whataboutism« (»Aber wenn einer nach dem Kalifat schreit, schert das keinen!«), stach vor allem eine Argumentationslinie immer wieder heraus: »Man darf wohl keinen Spaß mehr haben!« Dieses Argument, das sei doch alles nur Spaß gewesen, man habe wohl Dampf abgelassen, ordentlich gefeiert, und man solle das doch nicht überbewerten, begegnete einem im Kommentarfeld immer wieder.

Nun wäre die Entgegnung auf dieses Argument natürlich einfach: Man könnte zum Beispiel darauf verweisen, dass die Taktik inzwischen altbekannt ist: etwas zu setzen, was gegen die aus gutem Grund etablierten Tabus verstößt, und dann, wenn die Empörung hochkocht, erklären, das sei doch nur Spaß gewesen, man dürfe das nicht so ernst nehmen, und die, die es doch täten, wollten sich wohl nur wichtigmachen, und überhaupt verstünden sie, wie man ja sehe, keinen Spaß. Diese Taktik dient sowohl der Strategie einer fortdauernden Verschiebung der gesellschaftlichen Orientierungspunkte nach rechts als auch der, die liberalen und linken Kritiker als miesepetrige Spielverderber und lebensfeindliche Rigoristen dastehen zu lassen. Die ganze Sache ist inzwischen allzu bekannt – und leider immer noch hoch wirksam. (Warum, das wird noch klarer werden.)

Man könnte auch einfach sagen: Wenn deine Vorstellung von Spaß zwingend rassistische Ausfälle beinhaltet, stimmt doch wohl etwas mit dir und deiner Vorstellung von Spaß nicht. Im Grunde ist das doch ein ganz unsinniges Argument, da es ja implizit unterstellt, es gäbe keine anderen Arten von Spaß: So, als wäre es keine Party, wenn man nicht jemanden beschimpfen darf.

Aber mir geht es um etwas anderes: Wenn man nämlich das Video anschaut, dann stellt man eines fest: Die Leute hatten mächtig Spaß! Der Kommentar, der als Entschuldigung nicht funktioniert, verweist auf etwas ganz Richtiges. Vor allem die junge Frau – auch, weil man sie am besten wahrnimmt auf diesem kurzen Video – strahlt eine solch unbekümmerte Gelöstheit aus, eine – das Wort wirkt völlig deplatziert, aber es gehört hierher – unschuldige Freude, dass man von dort anfangen muss. Sie lacht und ist übermütig und kichert und singt die rassistische Parole mehr, als sie sie grölt. Ihre Heiterkeit ist fast ansteckend. Und das ist genau der Punkt, der mich interessiert.

Man muss sich nur vergegenwärtigen, mit welchen Bildern diese Parole sonst verbunden ist. Ich denke da an dunkle Keller, in denen sich Nazis zum Rechtsrockabend zusammengefunden haben, oder an die Menschentrauben vor den Flüchtlingswohnheimen in Hoyerswerda. Davon ist man meilenweit entfernt. Die tumben, brunftschreiartigen Sprechgesänge, die man dort hörte oder mindestens vermutete und die man für das Wesen des Rechtsextremismus hielt, haben sich hier in eine ausgelassene Feier der Verachtung verwandelt. Natürlich hatten auch die Neonazis vor den Wohnheimen in Hoyerswerda ihren Spaß. Aber das ist doch wohl ein anderer Spaß als der, den die Kaschmirpulli-Träger in Kampen hatten. Was kann das heißen, dass Rassismus Spaß macht?

Überschreitung als Sackgasse

Man muss eine eigentümliche Umkehrung der Rollen konstatieren. Vor allem in den Sechzigern und frühen Siebzigern waren es die Linken, die als die Avantgarde einer heiteren Befreiung der Menschen auftraten. Der Nimbus, den man sich – zu Recht oder nicht – damals zugelegt hatte, wirkte noch lange nach. Nicht nur waren die Ziele solche einer verallgemeinerten Befreiung, einer ständigen Durchbrechung der beengenden Schranken, einer Überschreitung derjenigen Grenzen, deren quasipolizeiliche Durchsetzung schmerzhaft ist und unablässig Pathologien erzeugt: Nicht nur also sollte durch die Arbeit einer radikalen und rücksichtslosen Befreiung eine soziale Existenz in Heiterkeit und Ausgelassenheit, in Spontaneität und Freude erreicht werden, so sehr, dass die zentrale Rolle der Sexualität und ihrer Befreiung für die Achtundsechziger und ihre Nachfolger kein Zufall war, sondern das freie Ausleben der Sexualität jenseits aller Grenzen geradezu paradigmatische Bedeutung für die politische Arbeit selbst erlangte. Sondern auch die Mittel der Befreiung sollten primär solche sein, die sich durch dieselbe Spontaneität, Ausgelassenheit, Nonkonformität, gelegentlich nachgerade Albernheit auszeichneten.

Die kreative Neuerfindung von allerlei Techniken der Provokation, der Störung, der Überschreitung ließ Mittel und Zwecke zusammenfallen und begründete zugleich eine neue Lust an der Politik, die diese als eine Sache für Lausbuben und -mädchen erscheinen ließ. Auch von dieser Seite ist klar, dass die Sexualität paradigmatisch für diese Arbeit an der Befreiung wurde (eine Arbeit, die demnach ebenso sehr ein Spiel sein durfte), denn wenn man guten, befreienden, befriedigenden, urteilslosen Sex haben will, dann gibt es nur den einen Weg: ihn zu haben. Mittel und Zweck fallen hier unmittelbar zusammen.

Das Problem ist aber, dass diese Sichtweise und diese Praxis von Politik leicht einer allzu naheliegenden, aber schwerwiegenden Verwechslung unterliegen. Denn es ist zweifelsohne richtig, dass beispielsweise die rigiden Disziplinierungen von Sexualität vor allem junger Frauen, die bis in die sechziger und siebziger Jahre fast durchgängig herrschten, schlicht und ergreifend tyrannisch und destruktiv sind; die Grenze, die hier überschritten wurde, war nicht nur eine willkürliche, sondern auch eine ungerechte. Ihre Überschreitung war ein Akt echter Befreiung oder zumindest Auftakt dazu, ein erster Schritt zu einer umfassenderen Befreiung. Das heißt aber noch lange nicht, dass jede Überschreitung deshalb auch schon Befreiung ist.

Genau das aber scheint der große Irrtum zu sein, der implizit oder explizit seit den späten Sechzigern durch emanzipatorische Philosophie und Praxis geisterte. In einem überaus kritischen Text hat Mark Lilla konstatiert, dass Foucault als ein privater Abenteurer in Sachen Transgression einzuschätzen sei, der sich eher zufällig zwischendurch auch in die Politik verirrt habe.2 Ob diese Diagnose zutreffend ist, muss hier nicht interessieren, entscheidend ist, was daraus folgt: Transgression ist nicht per se eine emanzipatorische Geste. Es kommt eben immer darauf an, was man überschreitet.3 Auch ein Hitlergruß ist eine Transgression. Dass die neuen Rechten sich strategisch großzügig bei den alten Linken bedienen, muss dann nicht mehr verwundern.

Andererseits kann es immerhin sein, dass jede Überschreitung eine spezifische Lust produziert. Das ist die These Lacans. In der Überschreitung der Grenze entsteht die »jouissance«, die sich vielleicht als eine rauschhafte, orgiastische Lust beschreiben lässt, die aber zugleich offenkundig politische Obertöne hat: Nicht nur kann in dieser (also der lacanianischen) Perspektive die Aufgabe nie in der Abschaffung der Grenzen bestehen, weil die »jouissance« auf deren Überschreitung angewiesen ist; eine völlige Diskreditierung des »Gesetzes«, wie Lacan es nennt, würde damit die »jouissance« ganz einfach unmöglich machen. Daher bleibt diese Perspektive statisch und (in einem weiten Sinn) konservativ – Lacan ist und bleibt guter Katholik.

Aber nicht nur das, sondern diese Konzeption von »jouissance« begreift diese, insofern sie Überschreitung ist, als eine Machtergreifung und -demonstration. Es ist dabei letztlich nicht irgendeine empirische Macht, die ich mir (sei es auch flüchtig) »aneigne«, sondern im Gegenteil erhalte ich Anteil an der einen großen Macht des Gesetzes und des großen Anderen. Das heißt, dass die »jouissance« mich in die Position dessen setzt (allerdings nicht dauerhaft und stabil), der außerhalb des Gesetzes steht, weil er es erlässt. Die Lust der »jouissance« ist dann der Taumel der momenthaften Abwesenheit des Gesetzes, als dessen Träger ich mich selbst verkennen kann – weshalb folgerichtig Perversion durch die Anmaßung definiert ist, sich selbst das Gesetz zu geben. Es geht da also um einen Moment absoluter Macht, der zugleich auf einen absoluten Machthaber verweist, der diese absolute Macht in einem engen Sinn verkörpert. Ob es den nun geben kann oder ob er nur eine psychische Instanz oder Projektion ist, ist dabei nebensächlich, solange diese Instanz oder Projektion oder Funktion wirkt. So ist man bei der Sehnsucht nach einem absoluten Machthaber, an dessen permanenter, konstitutiver Lust man teilhaben könnte.

Ja, so eine Überschreitung ist lustvoll. In ihr wirkt das Gefühl von Befreiung und Ermächtigung – und zwar einer Befreiung, die gerade nicht mehr an die gängigen Konzeptionen politischer Befreiung gebunden ist; diese Befreiung ähnelt vielmehr Fantasien wie der, in ein fremdes Land zu reisen, in eine neue Welt, ein ungeahntes Leben zu leben, ohne Restriktionen, ohne Urteile, ohne Druck und Beengung. Es ist der Schwindel, der einen erfasst, wenn man meint zu erkennen, dass nun wirklich alles erlaubt ist. Ähnliches haben vielleicht einige erhofft und ersehnt, die seinerzeit in die Kolonien gegangen sind, um dort vor einer Bevölkerung zu stehen, mit der man einfach machen konnte, was man wollte. Und manche haben es dort wohl auch gefunden.

Ist das die Befreiung, die die junge Frau in Kampen zelebrierte? Ich kann das natürlich nicht wissen, aber mir scheint, dass das noch nicht ausreicht als Beschreibung.

Rassismus ohne Rassisten

Meine Ausführungen könnten auf den Einwand stoßen, dass ich unablässig über die Beweggründe, Gefühle und das Innenleben von Leuten spekuliere, die ich nicht kenne. Müsste ich nicht mindestens Gespräche, am besten gleich wissenschaftlich strukturierte Interviews führen? Ist es legitim, sich dergestalt über die Gefühlslage von Menschen auszulassen, die man auf einem verwackelten Video gesehen hat, das ein paar Sekunden dauert?

Die methodische Schwierigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Es kann sein, dass meine Deutungen ganz danebengehen. Etwa, wenn sich herausstellen sollte, dass die Feiernden auf Sylt alle bekennende Rechtsextreme wären. In diesem Fall aber würde auch gar keine philosophische Frage in Bezug auf das Phänomen bestehen, das ich zu umreißen suche. Meine Vermutung ist allerdings, dass die Sachlage etwas komplizierter ist und sich aus umfassenderen sozialen und politischen Ereignissen und Entwicklungen speist, deren Zeugen wir in den vergangenen Jahren werden konnten. Damit ist nichts Geheimnisvolles gemeint, sondern nur die Geschehnisse, die sich ganz öffentlich und medial weit verbreitet vollzogen haben. Im Übrigen stellt sich nicht einmal die Frage der Glaubwürdigkeit der Medien in diesem Fall – eine Frage, die, so wie sie heute meist gestellt wird, bereits Teil der Geschehnisse ist, die ich meine –, da es einfach um Entwicklungen und Wortmeldungen geht, die als solche gar nicht bezweifelt werden. Ich beschränke mich auf zwei Momente, die miteinander zu tun haben.

Auf der einen Seite steht die Tatsache, dass rechte, rechtsextreme, rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, mit dem Faschismus liebäugelnde und faschistische Denkweisen, Redeformen und politische Zielsetzungen in vielen Ländern des globalen »Westens« an Boden gewonnen haben.4 In einigen Ländern sind mehr oder weniger offen rechte oder rechtsradikale Parteien und Politikerinnen an die Regierung gelangt. In praktisch allen Ländern des »Westens« haben die Wahlergebnisse dieser Parteien massiv zugelegt (im Fall von Deutschland verbunden mit der Radikalisierung der entsprechenden Partei).

Es geht hier nicht um die Ursachenanalyse, die man ohnehin nicht so einfach betreiben kann. Es geht zuerst nur um die triviale Feststellung, dass, wenn solche Parteien zunehmend an Wählerschaft und Zustimmung gewinnen, ihre ideologischen Grundzüge breitere Akzeptanz finden müssen, als sie sie vorher genossen. Es scheint mir wenig hilfreich, alles, was wir an rechter Mobilisierung sehen, auf die Aktivierung eines bereits bestehenden, aber latenten Rassismuspotentials zu schieben. Natürlich gab es immer Rassismus, latenten wie offenen, und manche, die früher ihre Gedanken lieber nicht laut ausgesprochen haben, tun das jetzt voller Stolz. Aber Umfragewerte von etwa 30 Prozent für die AfD in Thüringen wird man damit nicht mehr erklären können. Es ist – noch diesseits aller Deutung und Erklärung – so, dass es viele Menschen gibt, die die Radikalität der AfD (vor allem der Thüringer) akzeptieren und die das früher und bei Parteien mit vergleichbarer Rhetorik und Programmatik nicht taten. Sie akzeptieren das: Ob jubelnd oder widerwillig, genau das müssen zum Beispiel Umfragen klären; dass diese breitere Akzeptanz von oder Zustimmung zu rassistischen und rechtsextremen Politikformen da ist, steht diesseits der Deutung.

Auf der anderen Seite kontrastiert damit die mehr als anekdotische Tatsache, dass immer wieder solche, die in der einen oder anderen Weise rassistische Rhetorik oder Politik betreiben, versichern, sie seien keine Rassisten. Exemplarisch tat das zum Beispiel Donald Trump, als er erklärte: »I don’t have a racist bone in my body.« Man kann annehmen, dass Trump das auch in allem Ernst glaubt. Diese Annahme hat immerhin den Vorteil, dass sie bereit ist, eine Aussage auf ihrer öffentlichen Ebene zu würdigen, und nicht verborgene Absichten und Hintergedanken unterstellt, die per definitionem nicht öffentlich sind. Ich möchte weiterhin für die gegenwärtige Diskussion annehmen, dass die Feiernden von Kampen das ebenfalls von sich sagen würden. Es ist richtig, dass ich damit spekuliere, aber diese Annahme kann sich auf die lange Reihe aufrichtiger Rassismusleugnung stützen, und sie ist deshalb gerade nicht die wohlwollendste – schon gar nicht eine entschuldigende –, sondern in Wahrheit die verstörendste Hypothese, die (das ist zumindest die Vermutung) mit der ersten Tatsache in Zusammenhang steht.

Nehmen wir also zum Zweck der Analyse an, dass die Feiernden von sich sagen, sie seien »natürlich« keine Rassisten. Nehmen wir an, dass sie darin »ehrlich« sind – in dem Sinn, dass sie jedenfalls nicht eine ihnen ansonsten bekannte Wahrheit verschleiern, um soziale Ächtung zu vermeiden. Sie denken also vielleicht wirklich von sich, sie seien keine Rassisten. Manche werden zum Beweis darauf verweisen, dass sie doch eine iranische Freundin und einen schwarzen Kollegen haben, mit dem sie sich hervorragend verstehen.

Auch lässt sich die Frage nicht mit Definitionen lösen. Man könnte ja, die vermeintlichen Rassisten verteidigend, behaupten, der »linksgrüne Diskurs« habe nach und nach die Grenzen des Sagbaren so eng gezurrt, dass man fast nichts mehr sagen könne, ohne als rassistisch zu gelten. Dieses Narrativ ist sicher Unfug. Man kann sehr vieles sagen, ohne rassistisch zu sein. »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« gehört nicht dazu. Das ist aber ein interessanter Punkt, denn offenbar werden da heiter und spaßig alle Grenzen übersprungen. Hier werden nicht, wie etwa in den öffentlichen und halböffentlichen Kommunikationen der AfD regelmäßig, die Grenzen ein wenig ausgetestet, es wird nicht mit Zweideutigkeiten provoziert. Nein, da setzten sich welche entschieden weit ins Aus des öffentlich erlaubten Diskurses. So weit, dass keine Interpretation mehr möglich ist. Außer der einen – die auch nicht möglich ist, die aber eben bemüht wird, und nicht durch Zufall –, dass das Ganze doch nur Spaß gewesen sei. Diese Entschlossenheit scheint aber entscheidend zu sein.

Man könnte (mit einem Maximum an interpretatorischem Wohlwollen) sagen, dass sich im Vorwurf an einen angeblich tyrannischen »linksgrünen« Diskurs der politischen Korrektheit eine richtige Empfindung verkleidet: Es gibt Gründe anzunehmen, dass einige Formen und vor allem einige Durchsetzungsformen politischer Korrektheit in Wahrheit nicht an der Herstellung gerechterer Verhältnisse interessiert sind, sondern nur als soziale Distinktionsprozesse funktionieren, um bestimmte Gruppen und Klassen verlässlich von der Teilhabe auszuschließen. Wenn das stimmen sollte, ließen sich vielleicht Verengungen und Malaisen, nicht zuletzt affektive erklären; das heißt noch lange nicht, dass dadurch auch rassistische Gesänge gerechtfertigt wären, denn die sind nicht zu rechtfertigen.

Schließlich, wenn die Feiernden kategorisch erklärten, sie seien keine Rassisten, dann liegt darin auch, aber nicht nur der Effekt einer gewissen sprachlichen Praxis: Rassist zu sein ist heute so weitreichend diskreditiert, dass fast niemand sich zu so einem Begriff bekennen würde. In gewisser Weise ist der Begriff fast nicht mehr zur Selbstzuschreibung zu gebrauchen. Und das selbst bei denen, die zweifellos Rassisten sind.

Aber man muss die Funktionsweise eines solchen Begriffs näher beleuchten. Wenn sich zum Beispiel ein Mann als Feminist bezeichnet, dann überantwortet er sich dadurch einer Festschreibung, die sich nicht mehr so leicht abschütteln lässt, und das nicht zuletzt, weil er als Mann nicht darüber entscheiden kann, was es bedeutet, Feminist zu sein. (Dadurch unterscheidet sich so ein Bekenntnis von einem zu beispielsweise einer philosophischen Schule oder einer politischen Parteinahme: Die Begriffe »Platoniker« oder das notorisch vage »Sozialist« funktionieren nach einer anderen Logik.)

Mit dem Feminismus ist es aber anders, denn die Deutungsmacht darüber lässt sich nicht einfach abschütteln und nicht vereinnahmen, vor allem nicht von einem Mann. Genau darin besteht ja ein unverzichtbarer Aspekt des Sinns von Feminismus überhaupt. Sage ich von mir, ich sei Feminist, dann ist klar, dass ich mich einer Reihe von Forderungen gegenübersehen werde, die ich noch gar nicht absehen kann. Man (und Frau) wird von mir erwarten, dass ich mich auch dementsprechend verhalte, und wie das »dementsprechend« zu verstehen ist, entscheide dabei nicht ich. Ich kann auch nicht einfach sagen, ich habe es mir anders überlegt. An so entscheidender Stelle frivol zu tun, würde mich zu Recht diskreditieren. Man merkt, dass so ein Bekenntnis eine nicht ganz harmlose Sache ist. Man legt sich fest auf eine Verbindlichkeit, deren Weite und Auswirkungen nicht im Vorhinein feststehen und die von anderen bestimmt werden.

Nun ist mit einem hypothetischen Bekenntnis zum Rassismus nicht eine ähnliche Verbindlichkeit verknüpft: Wer würde schon von einem Rassisten viel erwarten? Es ist ganz einfach so, dass diese Kategorie fast nur noch als Fremdzuschreibung gebraucht wird.5 Der Begriff funktioniert primär als Kategorie des Anderen. Als solche Fremdzuschreibung und Abgrenzungskategorie, die ihren wohlverdienten abschätzigen Gehalt hat, handelt es sich nicht zuletzt um eine massive Verdinglichung. Es ist nicht, wie im Fall des Bekenntnisses zum Feminismus, so, dass ich mich fortan bereitzuhalten habe für die Forderungen, die dieses Bekenntnis mir einhandeln wird; vielmehr wird mit der Kategorie eine fertige Gestalt mitgeliefert, mit intellektuell wie moralisch festen Konturen. Wie jede solche Kategorie des Anderen ist auch die des Rassisten notwendig reduktiv und nähert sich der Karikatur an – was gerade nicht bedeutet, dass sie nicht richtig wäre oder unzulässig. Doch als solche stellt sie eben eine Verdinglichung dar, mit der man sich in der Tat kaum identifizieren kann, weiß man doch, dass man so nicht ist: Denn wer ist schon genau wie eine harte Kategorie.

Falls das nicht ohnehin klar sein sollte: Diese Analyse ist keine Kritik an der Kategorie des Rassismus und keine Aufforderung, sie aufzugeben – was in der Tat gleichbedeutend wäre mit der Legalisierung des Rassismus. Sie soll ganz im Gegenteil die Kategorie des Rassismus und der Rassistin oder des Rassisten klären und schärfen helfen. Dazu gehört, dass auch in der Kategorie des Rassismus immer ein Moment der Fremdheit liegt, dem man sich aber – anders als im Fall des »Feminismus« – nicht einfach überantworten kann. Es ist die Fremdheit meines Rassismus, der mir fremd bleibt, weil ich ihn selbst verabscheue (und vielleicht nicht wahrhaben will), und der als fremder doch meiner bleibt; und es ist die Fremdheit des Vorwurfs und der Zuschreibung von Rassismus durch andere, die nicht zuletzt deshalb Ablehnung hervorruft, weil Rassisten eben immer nur die anderen sind. Verdinglichung und Fremdheit schaffen die begriffslogischen Voraussetzungen dafür, dass es allerorten Menschen gibt, die rassistisch sprechen und handeln und zugleich ihren Nichtrassismus mit bestem Gewissen bekräftigen.

Zu dieser begriffslogischen Dimension kommt eine sozial-pragmatische. Der soziale Druck kann es dahin bringen, dass ein Rassist nicht einmal selbst versteht, dass er einer ist. Es ist bekannt, wie regelmäßig und zuverlässig hier die Selbsteinschätzungen (als tolerant, weltoffen, nichtdiskriminierend usw.) und die faktischen Handlungsweisen (Gesten, Erwartungen, Zögerlichkeiten in der Konfrontation mit fremd Aussehenden, Kommentare, Neigung zur Benachteiligung etc.) auseinanderklaffen. In der Tat ist fast niemand für sich selbst ein Rassist, weil sich Toleranz und Humanismus auf der abstrakten Ebene, ganz allgemein eben, begrifflich, mit der faktischen Ausgrenzung und Diskriminierung in allen tatsächlichen Fällen hervorragend vertragen. Rassist wäre man nur – so die dahinterstehende, aber nie ausgesprochene Prämisse –, wenn man die Hierarchisierung der »Rassen« nicht nur praktiziert, sondern auch in aller Allgemeinheit, als Theorie behauptet. Rassist wäre man dann nur, wenn man selbst von sich sagt, dass man Rassist ist.

Auch diese Selbstimmunisierung, die Rassismus ohne Rassisten hervorbringt, scheint sich bei einer Tendenz zu bedienen, die man üblicherweise eher mit liberalen Diskursen verbindet (und dass diese Überkreuzung von Liberalismus und Rassismus möglich ist, ist eben der entscheidende Punkt): bei der Tendenz, sämtliche fremden Zuschreibungen und alle objektiven Ansprüche an Handlungen und Begriffe zu diskreditieren. Nur die Selbstdefinition könne wahrhaften Aufschluss geben.

Freilich umfasst der Rassismus ohne Rassisten eine ganze Bandbreite von Phänomenen, vom subtilen Alltagsrassismus bis zur massiven Ausgrenzung. In seinem Licht ist eine differenzierte Betrachtung von Handlungsweisen möglich und eine ebenso differenzierte Reaktion auf sie. Er bereitet das Verständnis des Sylter Spaß-Rassismus vor, bringt aber dessen spezifische Natur noch nicht zum Ausdruck.

Grenzenloser Spaß

Nach diesen umwegigen Vorüberlegungen komme ich zum Kern meines Arguments: Die Grundannahme ist dabei, dass sich das, was zum Beispiel in Kampen geschehen ist, nur wirklich verstehen lässt, wenn man ganz ernst nimmt, dass da junge Leute Spaß hatten. Das klingt wie die empörendste Verharmlosung. Ich meine aber das genaue Gegenteil davon: Ich glaube im Ernst, dass wir die Schwere und die Gefahr dieses spezifischen Rassismus ohne Rassisten nur dann begreifen werden und dass wir auch erst dann dagegen Instrumente finden werden, wenn wir von dieser ersten Konstatierung ausgehen.

Selbstverständlich ist das Grölen dieser Parole rassistisch. Aber wenn wir davon ausgehen, verstehen wir nicht, wieso sie gegrölt wird. Sie wird ja auch nicht unbedingt gegrölt. Die junge Frau im Vordergrund, deren Stimme man (wie es scheint) hört, singt sie halbwegs tonsicher mit. Die rassistische Parole camoufliert sich als, transformiert sich in eine Pop-Hymne. Der Mann im Hintergrund hält sich die stereotypen beiden Finger als angedeutetes Hitler-Bärtchen unter die Nase; seine Rechte macht dabei eine Bewegung, die sich nicht eindeutig identifizieren lässt, und das ist wohl auch genau der Witz an der Sache (wobei es wieder unerheblich ist, ob dahinter eine präzise Absicht steht): Es lässt sich einfach nicht klar entscheiden, ob die Hand einen Hitlergruß macht oder, wie im Hip-Hop üblich, flach im Rhythmus auf und ab schwingt.

Das ist exakt der Punkt: Wir sind da Zeugen einer Annexion der Popkultur durch den Rassismus und (umgekehrt) einer Integration, einer Absorption des Rassismus in die Formen der Popkultur. Von außen ist klar, dass da Rassismus wirkt: Es ist von außen klar, denn jenseits der Popkultur des überreifen Liberalismus ist unzweifelhaft, dass es eine öffentliche, kollektive, Verantwortung heischende Wahrheit von Akten gibt (körperlichen und sprachlichen). Egal, wie man es dreht und wendet: Wer diese Parole von sich gibt, sagt Rassistisches.

Von innen aber, aus der Perspektive der Feiernden, verfehlt diese Anschuldigung die gesamte Realität der Feier: nämlich Feier zu sein. Alles ein riesengroßer Spaß. Wo etwas in die Formen der Populärkultur gegossen wird, verliert es automatisch jede politische Dimension – zumindest gilt das für die Populärkultur, die wir gegenwärtig haben. Daher ergibt es einen guten Sinn, dass das, was von außen als Rassismus erkennbar ist, von innen nicht nur kein Rassismus ist, sondern überhaupt nichts Politisches. Was Trump als System betreibt – die Leugnung aller Verbindlichkeiten unter Menschen –, ist hier zu einer selbstverständlichen Voraussetzung des Feierns geworden.

Dabei ist es aber eben nicht gleichgültig, dass es diese Parole ist, die in Kampen ebenso gerne und lustvoll gerufen wird wie in Vechta und in Louisenlund. Wie schon gesagt, ist das nicht eine der Formeln, deren sich gewiefte rechte Agitatoren bedienen, um einerseits ihre Botschaft unters Volk zu bringen, andererseits aber »deniability« zu wahren (und wie nebenbei jedes Mal die Grenzmarken der öffentlichen Kommunikation, letztlich die im Sprachlichen niedergelegte Wertordnung einer Gesellschaft, ein klein wenig zu verschieben). Nein, die Parole »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« lässt keinen Deutungsraum mehr zu. Und genau darum geht es. Dieser Spaß funktioniert nur, wenn man sich so weit in das Jenseits des Sagbaren katapultiert, dass man von allen Pflichten befreit ist.

Dieser Spaß ist aber durch die Lacan’sche Definition der »jouissance« nicht erschöpft. Sie allein würde ihn nicht herstellen, diesen ganz spezifischen Spaß. Vielmehr erfüllt die Umdichtung von L’amour toujours zwei augenscheinlich unvereinbare Forderungen: Erstens erlaubt man sich, mit dem Unsagbaren zu experimentieren. Man spricht aus, was untersagt ist. Man überschreitet eine Grenze. Diese Transgression hält also einerseits gewiss den Lustgewinn im Sinn der »jouissance« bereit. Es kommt hinzu, dass es eine kollektive Transgression ist: Man schafft und bekräftigt so eine Gemeinschaft. Nun ist aber das, was da gewagt wird, nicht irgendetwas. Die Transgression ist keine beliebige. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Transgression ins Faschistische.

Der Faschismus hält mehr bereit als nur das allgemeine Versprechen auf Transgression. In der Tat ist sein Verhältnis zur Transgression ambivalent, denn Grenzüberschreitung wird im Faschismus ja nur im Rahmen striktesten Gehorsams ermöglicht. Was der Faschismus aber immer kultiviert und bereithält als affektive Gratifikation, ist das Schwelgen in Brutalität. Das ist in zivilisierten Kontexten mit Acht belegt; noch genauer: Die Acht der Brutalität ist die Bedingung, dass eine Situation oder Gemeinschaft zivilisiert ist. Das Schwelgen in Brutalität aber – das auch nur verbal sein kann oder, wie im vorliegenden Fall, halbwegs melodisch gesungen – ist eine Lust ganz eigener Art, die in der Fantasie besteht, man könne alles, was einen stört oder vermeintlich am eigenen Glück hindert, einfach zerstören. Vollständigkeit durch Vernichtung, das Hochgefühl des Überlebenden,6 Herstellung einer unvermischten und von allem Fremden gereinigten Einheit. »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« »Das Glück als Kugel«, wollte ich schon schreiben, und das fasst vielleicht den anvisierten Endzustand; aber um den geht es nicht, sondern es geht um den Weg dahin, um die Vernichtung des Anderen, weil es stört. Wer den Impuls zu diesem Brutalismus gar nicht kennt, ist entweder ein ethisch sehr hochstehender Mensch oder ein sehr gewissenhafter Lügner. Wer sich ihm hingibt, ist in Gefahr – und seine Umgebung noch mehr. Der Lustgewinn der Parole mobilisiert also mehrere Ebenen: Transgression und »jouissance«, Faschismus und Brutalismus, Gewalt und Selbstbejahung, und das alles in einer ad hoc hergestellten Gemeinschaft, die zugleich eine größere, überzeitliche aktualisiert (»die Deutschen«).

Der Sinn dieses Spaßes ist aber nicht vollständig, wenn man nicht die andere Seite berücksichtigt. Man sichert sich nämlich auch ab: Diese Sätze sind so inakzeptabel, dass niemand – kann man nun zugleich behaupten – sie im Ernst sagen kann. Es war doch nur Spaß. Außerdem hat man sie doch nicht vor brennenden Asylbewerberheimen gegrölt und auch nicht auf der AfD-Demo, sondern im schicken Nobelrestaurant, mit lauter feinen gebildeten Leuten um sich. Ja, man hat es sogar gesungen. Das muss doch wohl ironisch gemeint gewesen sein. So oder so ähnlich ist in diesen Akt eine »deniability« des Rassismus eingebaut, die seine Brutalität unvermittelt mit einer ausgelassenen und dem Anschein nach unschuldigen Heiterkeit vermengt.

Es ist nicht auszuschließen, dass ein guter Teil des Abscheus, den dieses Video und andere, ähnliche Akte und Äußerungen beim bürgerlichen Publikum hervorrufen, zu dem gehört, was die Psychoanalyse »Abwehr« nennt. Wenn das stimmt, dann ist die Verlockung des Rassismus stark, und sie ist stark auch in jenen, die sich in allen Einzelheiten ihres Lebens gegen sie zu wehren wissen.

Die besondere Reaktion aber, die das Sylter Video hervorruft, hat zudem – so die These – mit dem zweiten Aspekt zu tun: mit der eingebauten »deniability«, die reale Heiterkeit ermöglicht. Alles ein riesiger Spaß. Diese Entpolitisierung von etwas, das nicht entpolitisiert werden kann, der Rassismus ohne Rassisten als Pop-Phänomen, ist auf eine bislang unbekannte Weise verstörend. Es ist ein Spaß, der gerade durch die Triebenergie des politischen Tabus denen, die ihn mitmachen, wie unpolitisch und als absoluter Spaß erscheinen muss. Die Verstörung rührt auch daher, dass die Grenzziehung zwischen dem Politischen und »Ernsten« einerseits und dem bloßen Spaß andererseits verwischt und eine ganz spezifische Uneindeutigkeit hergestellt wird, von der man kaum noch weiß, von welcher Seite sie anzupacken ist.

»Kulturmarxismus« als Vorbild

Die Neuen Rechten haben ganze Arbeit geleistet. Während die linksliberale und die bürgerlich-konservative Öffentlichkeit in Politik, Journalismus und Wissenschaft sich gar nicht mehr im Ernst fragte, ob sich grundsätzlich etwas ändern würde – warum auch, lief doch alles spitze … für sie –, und den Schlaf der Gerechten schlief, arbeiteten die Neuen Rechten konsequent an einer Strategie, die ihnen langfristig die Deutungshoheit gewinnen sollte.

Ausgerechnet die Linken waren die Vorbilder dieser Strategie. Man glaubte, in der nachmarxistischen Tradition eine Tendenz erkannt zu haben, die materialistischen Vorzeichen der Marx’schen Revolutionstheorie umzukehren. Man fand, etwa bei Gramsci oder in der Frankfurter Schule, eine Theorie, die in Reaktion auf die Nichterfüllung revolutionärer Heilserwartungen noch einmal ihre Hoffnungen auf die Kultur warf: Man müsse, so die Rekonstruktion, Kultur, Bildung, Medien, Kunst usw. als den Kampfplatz begreifen, der das Schicksal der Revolution entscheide; man müsse über diese Bereiche die Herrschaft erringen, um so die Menschen, vor allem die jungen, zu erreichen und mit dem richtigen Denken zu umgeben; der Rest ergebe sich dann fast von allein.

Als Tendenz lassen sich ähnliche Gedanken in der linken Theorie des 20. Jahrhunderts sicher immer wieder nachweisen. In der neurechten Imagination wurde daraus allerdings etwas mehr, nämlich geradezu ein diabolischer Masterplan, der unter dem Namen des »Kulturmarxismus« durch zahlreiche Publikationen geistert – unter anderem berief sich Anders Behring Breivik auf diese Verschwörungstheorie.

Hier ist nicht diese Verschwörungstheorie an sich relevant, sondern die Strategie, die die Neuen Rechten aus ihr abgeleitet haben. Sie haben sich nämlich vorgenommen, diese Strategie zu übernehmen und in ihrem Sinn umzukehren. Man könnte meinen, damit wäre die eine Verschwörungstheorie durch eine andere ersetzt worden; aber man muss das gar nicht zu großartig interpretieren: Nicht nur war diese Strategie keine, die alle Rechten in den letzten Jahrzehnten verfolgt hätten, noch muss man dazu irgendwelche verborgenen Mächte und Gesellschaften ins Spiel bringen. Die Teilverschleierung der Ziele und Werte hat mit der Natur dieser Ziele und Werte zu tun; aber es gibt benennbare und einflussreiche Akteure, die exakt diese Strategie offen aussprechen. In dem Buch Die Angstmacher von Thomas Wagner, das eine Art Panorama der Neuen Rechten bietet (in ganz kritischer Ausrichtung) und diese gerade im Kontext der umgekehrten Anwendung der altlinken Strategien darstellt, findet sich ein Interview mit Götz Kubitschek und seiner Frau Ellen Kositza. Die beiden stehen mit ihrem »Institut für Staatspolitik« (offiziell aufgelöst im Mai 2024), der Zeitschrift Sezession und dem Verlag Antaios im Zentrum der publizistischen und ideologischen Arbeit der Neuen Rechten in Deutschland. Es ist also nicht irgendwer, der da spricht. Kubitschek beschreibt seine Arbeit so: »Wir wollen den Staat über das Argument und über eine kulturelle Hegemoniestrategie zu einer Tendenzwende bringen – und nicht gewalttätig.«7 Denselben Sinn einer Strategie der Verschiebung und, in Wahrheit, Umkehrung kultureller Werte durch geduldige Manipulation bedient der in diesem Interview wie in vielen ähnlichen Publikationen verwendete Begriff der »Metapolitik«. Man braucht keine Verschwörungstheorie, es ist ja auch keine Verschwörung: Prominente Vertreter der Neuen Rechten sprechen offen und öffentlich diese Strategie aus.

Sie können dabei aber auf einen anderen Aspekt zurückgreifen, den sie ebenfalls von den alten Linken übernehmen und vereinnahmen – diesmal mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Gegner. Wie erwähnt, ist die Transgression per se kein politischer Akt; sie ist vor allem nicht per se ein emanzipatorischer politischer Akt.

Der Irrtum mancher Linker bestand darin, für einen Inhalt, für ein Ziel oder einen Zweck zu halten, was bestenfalls gelegentliche Taktik sein konnte. Die Leere der Transgression als solcher erwies sich als Hindernis für echte Emanzipation, weil sie einen vagen Appell zu Überschreitungen forderte, für die immer neue Grenzen gefunden werden mussten. In dem Maß aber, in dem sich linksliberale (also bereits domestizierte linke) Diskurse in die Machtpositionen schoben, durften gewisse Grenzen gerade nicht mehr angetastet werden. Zusammen mit einem naiven Begriff des Fortschritts ergab das einen Imperativ, der darauf zielte, erstens immer »liberaler« zu sein, das heißt eine immer umfassendere Durchlässigkeit und letztlich Auflösung von Kategorien überhaupt zu betreiben, bei zweitens gleichzeitiger Aufforderung, auf keinen Fall hinter die einmal erreichte Flüssigkeit der Kategorien zurückzufallen. Mit anderen Worten, die Transgression sollte einerseits der Name der Befreiungsarbeit selbst sein, sie sollte aber immer nur in der einen Richtung weitergetrieben werden, und da musste sie auch weitergetrieben werden. Schließlich funktionierte das drittens nur, weil man zugleich übereinkam, dass gerade die ökonomischen und politischen Grundverhältnisse nicht angetastet werden konnten. Diese Konstellation ergab das Bild der linksliberalen Eliten oder dessen, was Michel Clouscard als »libertäre Sozialdemokratie« oder »libertären Liberalismus« bezeichnet. Es war Clouscard, der diese Gesellschaftsformation auf ihren einfachsten Nenner gebracht hat: »tout est permis, mais rien n’est possible«.8

Man sieht also, dass die Berufung auf die Transgression nicht nur von Anfang an mindestens problematisch war, sondern dass sie längst heuchlerisch geworden ist. Die Linken (oder die als solche gelten) treten in Wahrheit oft als Spielverderber auf, ganz einfach weil sie herrschende Positionen einnehmen oder zumindest Diskurse hegemonial bestimmen. Wenn zum Beispiel die Grünen als »Verbotspartei« kritisiert werden, dann stimmt das natürlich so nicht; es trifft aber einerseits den Aspekt, dass Überschreitungen nur noch eine Richtung haben dürfen – und ist das, der Überschreitung gewisse Richtungen vorschreiben, andere verbieten zu wollen, nicht schon die Aufgabe der Idee der Überschreitung selbst? Andererseits verschafft sich in diesem Vorwurf vielleicht auf unklaren Wegen das Empfinden für die widersprüchliche Position der Grünen und der Linksliberalen allgemein Ausdruck: wortreich die Transgression zu fordern und sie zugleich faktisch (nämlich auch politisch, ökonomisch) unmöglich zu machen. Alles ist erlaubt, nichts ist möglich.

Die Rechten profitieren heute von diesem Widerspruch. Sie können sich als die Vertreter der Lebensfreude, als die Wortführer der Freiheit, als die Verteidiger des Genusses und der Heiterkeit verkaufen, als hip und cool. Und sie tun dies, indem sie genau das kultivieren, was die Linken für ihre Domäne gehalten hatten, die Transgression eben. Es ist also nicht nur so, dass die ultimative Gelöstheit der Sylter Festgesellschaft genau durch diese Überschreitung provoziert wird; es ist andererseits auch das Angebot, das ihr von den Rechten selbst gemacht wurde (als Einlösung des gebrochenen Versprechens der Linken), auf das sie zurückgreifen kann. Begehren und kulturelle Offerte entsprechen einander. Wo sich Angebot und Nachfrage treffen, entsteht der Rassismus als Pop.

Anmerkungen

1

https://www.youtube.com/watch?v=As6LOK5ArOY

2

Vgl. Mark Lilla, Michel Foucault. In: Ders., The Reckless Mind. Intellectuals in Politics. New York Review Books 2016.

3

Auf dieser Verwechslung beruhte auch der Flirt mancher Linker, Alternativer und Grüner mit Pädophilen, die es für ein paar Jahre lang wagen konnten, ihre Neigungen und die brutalen Konsequenzen des Auslebens derselben als eine andere Art von Transgression, als Liquidierung bourgeoiser Einschränkungen einer in sich natürlichen und gesunden Sexualität zu camouflieren. Simon Leys zitiert einmal George Orwell, der gesagt habe, es gebe gewisse Dinge, die nur Intellektuelle von sich geben könnten – kein normaler Mensch wäre dazu dumm genug. Das scheint nicht weit von der Wahrheit zu sein. Vgl. Simon Leys, Roland Barthes en Chine. In: Ders., Le Studio de l’inutilité. Paris: Flammarion 2014.

4

Dieser Westen ist natürlich keine geografische Kategorie. Man kann etwa an die pointierte Problematisierung von Stuart Hall denken. (Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hrsg. u. übersetzt von Ulrich Mehlem u.a. Hamburg: Argument Verlag 2021.

5

Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass diese Einschätzung auf der spezifischen Form optischer Täuschung beruht, die ganz grundsätzlich die bürgerliche Sicht auf die Welt ausmacht.

6

Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt: Fischer 2006.

7

Thomas Wagner, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten. Berlin: Aufbau 2017 (meine Hervorhebung).

8

Michel Clouscard, Néo-fascisme et idéologie du désir. Genèse du libéralisme libertaire [1973]. Paris: Éditions Delga 2013 (das Zitat stammt aus einem Post-Scriptum von 1998).