Heft 875, April 2022

Die Zeitlichkeit der Freiheit

Rechtsphilosophische Anmerkungen zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von Klaus Günther

Rechtsphilosophische Anmerkungen zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts

An zentraler Stelle der Begründung seines Klimabeschlusses führt das Bundesverfassungsgericht das Konzept der »intertemporalen Freiheitssicherung« ein. Das Grundgesetz verpflichte, so heißt es erläuternd, auch zur »Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit« und »zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen«. Geltende gesetzliche Regelungen könnten eine »eingriffsähnliche Vorwirkung« auf die in der Zukunft noch verbleibenden Möglichkeiten haben, von den Freiheitsgrundrechten einen tatsächlichen CO2-relevanten Gebrauch zu machen. Sie könnten sogar zu einer legislativen »Vollbremsung« nötigen. Jenseits der unmittelbar verfassungsrechtlich relevanten Fragen und über die konkrete Fallkonstellation hinaus eröffnet der neue Schlüsselbegriff der intertemporalen Freiheitssicherung eine Bedeutungsdimension der Freiheit, die bisher nur unzureichend beachtet worden ist, aber künftig eine immer größere Rolle spielen wird: Die Zeitlichkeit der Freiheit.

Die Freiheit, sich zur eigenen Zukunft verhalten zu können

Frei handeln zu können bedeutet zuallererst, zu einem beliebigen, selbst gewählten Zeitpunkt tun und lassen zu können, was man will, ohne von anderen daran gehindert zu werden, vor allem nicht vom Staat selbst. Diese Handlungs- oder Willkürfreiheit ist als solche sehr voraussetzungsreich und nicht grenzenlos, aber für den Handelnden kommt es darauf im entscheidenden Zeitpunkt in der Regel nicht an. Der Vollzug einer Handlung findet hier und jetzt statt, also in der Zeitdimension der Gegenwart an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Raum. In der subjektiven Perspektive des Handelnden sortiert sich von diesem Zeitpunkt aus die Reihe »gleichzeitig, früher und später«. Frei handeln heißt dann, hier und jetzt tun und unterlassen zu können, was man will. Insofern ist Handlungsfreiheit stets auf den Zeitpunkt des Handelns und den Standpunkt des Handelnden bezogen. Am Beispiel der Bewegungsfreiheit: Ich bin frei, von A nach B zu gehen, wenn ich hier und jetzt von A nach B gehen will und dies tun kann.

Freilich weist eine Handlung mit dem, was man tun oder unterlassen will, insofern über die Gegenwart des Handelns hinaus, als sie sich mit dem Willen, der Absicht, dem Zweck auf etwas Zukünftiges bezieht. Dieser dem intentionalen Gehalt innewohnende Zukunftsbezug des Handelns stellt sich aber nicht immer nur spontan, von Fall zu Fall ad hoc her, gleichsam von einem gegenwärtigen Zeit- und Standpunkt zum nächsten, sondern greift häufig auch darüber hinaus und ist Teil von längerfristigen und umfassenderen Zielsetzungen der Person. Im Zukunftsbezug des Handelns manifestiert sich daher ein – überwiegend implizit erfahrenes – reflexives Verhältnis zu sich selbst. Es besteht schon darin, dass der Handelnde, indem er sich mit seiner Absicht auf etwas Zukünftiges bezieht, dies als Teil seiner eigenen Zukunft versteht.

Sich zur eigenen Zukunft verhalten zu können – sei es implizit und spontan in einer einzelnen Handlung, sei es explizit und längerfristig in der reflexiven Thematisierung und der mal mehr, mal weniger tief greifenden Änderung des je eigenen Selbst- und Lebensentwurfs –, gehört dann auch zur menschlichen Freiheit. Es geht dabei nicht nur um die Freiheit, sich hier und jetzt von A nach B zu bewegen und während der Dauer des Handlungsvollzugs nicht daran gehindert zu werden. Vielmehr bedarf es außerdem noch der Freiheit, für sich selbst die entsprechenden Absichten bilden und Zwecke setzen sowie mit ihnen und darüber hinaus sein eigenes Leben entwerfen und, schließlich, den Entwurf dann auch wieder in einzelnen freien Handlungen leben zu können. Das schließt ein, nicht auf einen Lebensentwurf festgelegt zu sein oder gegen den eigenen Willen daran festgehalten zu werden. Sich verhalten zur eigenen Zukunft bedeutet auch, das bevorstehende Leben in verschiedene Richtungen führen und bis zu einem gewissen Grad die einmal eingeschlagene Richtung wechseln, gleichsam zwischen verschiedenen möglichen subjektiven Zukünften innerhalb der einen objektiven Zukunft wählen zu können.

Diese über die allgemeine Willkür- und Handlungsfreiheit hinausreichende Freiheit wird als allgemeines Persönlichkeitsrecht auch rechtlich geschützt. Es ist vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG (»Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit«) zusammen mit der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 entwickelt worden: »Die Freiheit, die das Grundgesetz schützt, ist nicht bloße Willkürfreiheit, sondern Autonomie im Sinn der Fähigkeit, vor dem Hintergrund eines Selbstentwurfs begründete Entscheidungen treffen zu können.« Eine der markantesten Ausprägungen dieses Freiheitsrechts ist das Recht, sich das Leben zu nehmen, wie dies in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit des assistierten Suizids noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist. Das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit sind zwar aus guten Gründen verschiedene Grundrechte, gehören aber zusammen und sind gleichermaßen konstitutiv für die Würde des Menschen: »Erst die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemeinsam schützen Freiheit als Autonomie, die den Kern der Menschenwürde ausmacht.« Beide Rechte und damit auch die Menschenwürde besitzen kraft des inhärenten Zukunftsbezugs eine zeitliche Dimension.

Schon jetzt zeigt sich, dass mit einer intertemporalen Freiheitssicherung mehr gemeint sein könnte als nur der Schutz vor einer zu massiven Einschränkung des künftigen Gebrauchs CO2-produzierender Willkürfreiheiten. Vielmehr geht es auch um den Zukunftsbezug, der über jede einzelne Handlung hinaus ein Sich-Verhalten zur je eigenen Zukunft ermöglicht. Voraussetzung dafür ist, dass es überhaupt noch eine Zukunft gibt, in die hinein sich der Einzelne zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählend entwerfen kann und in der sich ein Leben nach modifizierbaren Selbstentwürfen führen lässt. Würde der sich beschleunigende Klimawandel die im Beschluss apostrophierte »Vollbremsung« aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen erzwingen, wäre mit dem Zukunftsbezug jeder einzelnen Handlung auch das freie Sich-Verhalten zu einer je eigenen Zukunft gefährdet.

Die Möglichkeiten einer autonomen Lebensführung wären infolge der durch den Klimawandel ausgelösten massiven Anpassungszwänge in einem Ausmaß eingeschränkt, das der individuellen Entscheidungsfreiheit nur noch einen geringen oder am Ende gar keinen Spielraum mehr ließe. Dann ginge es auch nicht mehr nur darum, ob man sich noch mit kraftstoffverbrauchenden oder überhaupt mit Pkws fortbewegen oder mit Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen reisen oder überhaupt noch reisen kann. Die Sorge, keine Zukunft mehr oder nur noch eine extrem eingeschränkte zu haben, zu der man sich als Zukunft des je eigenen bevorstehenden Lebens verhalten könnte, ist schließlich das, was die jüngeren Generationen und namentlich die Fridays-for-Future-Bewegung umtreibt.

Die Diskontierung der Zukunft

Nun gibt es allerdings viele gute Gründe, das bevorstehende Leben vor allem auf die nächste Zukunft auszurichten, also noch im Horizont der Gegenwart zu führen. Den Wirtschaftswissenschaften ist wohl zuerst aufgefallen, dass es angesichts der epistemischen Unsicherheiten eines objektivierbaren Wissens über die Zukunft, der subjektiven Ungewissheit über künftige Wünsche und Bedürfnisse sowie der späteren Lebensumstände (einschließlich der Frage, ab wann es alters- oder krankheitsbedingt immer unwahrscheinlicher wird, eine Zukunft noch erleben zu können) oder auch schlicht aus Bequemlichkeit eine starke Präferenz für die Gegenwart gibt. Auch ein solcher Gegenwarts-Bias ist eine Weise, sich zur eigenen Zukunft zu verhalten, die dann eben darin besteht, sie entweder abzuwerten, nur für eine verlängerte Gegenwart zu halten oder mit unterschiedlichen Graden an Naivität darauf zu vertrauen, dass es dann schon irgendwelche neuen Möglichkeiten geben werde (weil es ja bisher auch schon meistens immer irgendwie gut gegangen sei).

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