Heft 897, Februar 2024

Die Zukunft ausgraben

von Sandro Paul Heidelbach

Wenn Vertreter der Wissenschaften von den künftigen Spuren des Anthropozän erzählen, ist es fast unvermeidlich, dass sie dabei Geschöpfen Leben einhauchen, die auf ebendiesen Spuren wandeln. Jene Wesen treten nicht nur als namenlose Entdecker der von uns hinterlassenen Plastikfasern, Bleipartikel und radioaktiven Stoffe auf. Sie fungieren zugleich als Zeugen für das lineare Voranschreiten der Zeit und damit die unhintergehbare Abgeschlossenheit des Gestrigen. Mit der Anwesenheit nachweltlicher Spurenleser versichert sich das moderne Bewusstsein gewissermaßen der Geschichtlichkeit der von ihm erzeugten Verhältnisse und der überdauernden Gültigkeit seiner Prinzipien. Sie stehen in einer Traditionslinie mit anderen erzählerischen Kunstgriffen, derer es immer dann bedarf, wenn eine entlegene Zeit einem bestehenden Geschichtssinn zugeführt und sozusagen von der Vorstellung gebändigt werden soll.

Entlegen meint hier Zeiträume, die weit jenseits des Vorstellungsvermögens liegen, in der tiefen Vergangenheit oder fernen Zukunft des Planeten. Zur Auslotung dieser Tiefendimensionen wandte man sich lange Zeit an die Autorität der biblischen Schriften. Solange der Grund aller noch kommenden Ereignisse durch die Offenbarung vorgegeben war, blieb der schwindelerregende Blick in die Tiefe der Zeit eine dem Studium der Vergangenheit vorbehaltene Erfahrung. Dieses Studium setzte in erster Linie genaue Kenntnisse der biblischen Genesis voraus.

Hierfür steht das Beispiel des Schweizer Gelehrten Johann Jakob Scheuchzer. Eine Episode seines Lebens führt vor, wie Konstruktionen, die über den Horizont der verfügbaren Geschichte hinausragen, von den Voraussetzungen ihrer Erzählbarkeit geformt und in ihrer Belastbarkeit beeinträchtigt werden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entdeckte Scheuchzer in den Süßwasserkalken eines Steinbruches am Bodensee fossile Spuren. Dass es sich um die Überreste zweier Riesensalamander handelte, sollte erst ein Jahrhundert später aufgedeckt werden. Scheuchzer war lange Zeit der alten Lehrmeinung gefolgt, solche Muster im Gestein zeugten von einer spielerischen Laune der Natur. Seit einiger Zeit aber reifte in ihm der Anspruch, das Studium der Geologie mit seinem theologischen Eifer zu versöhnen. Die Anatomie der versteinerten Wesen regte ihn folgerecht zu der Vermutung an, es handle sich um »das betrübliche Beingerüst eines in der Sintflut ertrunkenen Sünders«.

Die beiden hier vorgestellten Szenarien nachweltlicher Geologie umweht unverkennbar eine gewisse Tragik. Sowohl dem Forscher, der auf den Spuren des Anthropozän wandelt, als auch dem Entdecker vorsintflutlichen Lebens teilt sich in seinem Fund der Niedergang einer Zivilisation mit. Für den barocken Gelehrten verheißt diese Mitteilung, wie sich vermuten lässt, ein Gefühl der Erhabenheit, die Rechtfertigung seiner Glaubenssätze. Jedoch spricht aus seinem Urteil nicht nur die Behauptung des Dogmas. Seine Vermenschlichung der tierischen Überreste lässt sich zunächst aus der Verlegenheit verstehen, Spuren der Vergangenheit in einen existierenden Bestand aus Erzählungen einzurücken und dadurch aufzuwerten. Überhaupt erst ein solches Verfahren erschließt die in weite Ferne entrückte Zeit dem Vorstellungsvermögen und leiht ihr Signifikanz.

Die Abhängigkeit von Verfahren dieser Art wirkte tief in die Geschichte der Geologie hinein und prägt noch ihre heutige Gestalt. In gewisser Weise erklärt sie die gemeinsamen Wurzeln der Geologie und der Paläontologie, der Erforschung vergangener Lebensformen. Denn dass die Neugierde für den Abgrund der Zeit sich an fossilen Spuren ausbildete; dass sich die Frage nach dem Alter der Landmassen und das Wissen um ihre Verschiebung oftmals erst im Zuge der Enträtselung versteinerten Lebens stellte – all das verweist nicht zuletzt auf die Privilegierung des Lebens als Gegenstand von Geschichte.

In dieser Weise gibt sich die wissenschaftliche Periodisierung der Erdgeschichte als langwierige Ablösung aus der Tradition anthropozentrischen und biozentrischen Erzählens zu erkennen. Noch bis in die Moderne gaben auf Leitfossilien beruhende Datierungsmethoden die Gestalt von Erdzeittafeln vor. Vermeintlich frühe Erdzeitalter wie das Präkambrium, aus denen nur wenig oder gar kein fossiles Leben überliefert ist, galten als dunkle Vorzeit, was ihre verkürzte Wiedergabe in Lehrbüchern legitimierte. Entgegen seiner früheren Bezeichnung als Abiotikum handelt es sich um ein von Mikroben, Schwämmen und Algen bevölkertes und in seiner Dauer alle übrigen Epochen weit überragendes Erdzeitalter.

Vermessen und Abschreiten der Zeithorizonte

Ungeachtet der Frage, ob sich ihre geologische Vorhersage einlöst oder nicht, kultiviert die Erforschung des Anthropozän die Erkenntnis, dass wir »Effekte produzieren, deren Dauer die Lebensspanne, einschließlich der kollektiven oder mitunter gar der Menschheit selbst, weit übersteigt«. Längst hat diese Erkenntnis zu einer öffentlichen Debatte geführt. Ihren Gegenstand bildet die Forderung, aus den durch Jahresbilanzen, Haushaltsplänen und Wahlperioden vorgegebenen Zeithorizonten herauszutreten; künftige Entscheidungen sollen sich stattdessen an größeren Zeitskalen ausrichten, die zu verinnerlichen das Vorstellungsvermögen allerdings vor erhebliche Herausforderungen stellt.

Zu deren Bewältigung rückt eine wachsende Zahl von Sachbüchern und Initiativen die tiefe Vergangenheit des Planeten in das Bewusstsein oder sensibilisiert für die Eigenzeiten geologischer Prozesse. Ihnen gemeinsam sind Verfahren, die einerseits die kurze Dauer menschlicher Existenz auf dem Planeten, andererseits die Tiefe ihrer Einwirkung auf diesen vor Augen führen. Sie treten in Gestalt rhetorischer Vergleiche und bildhafter Darstellungen auf, deren Effekte zumeist auf Skalierung beruhen. Die Zeit des modernen Menschen gerinnt in ihnen zu einem Wimpernschlag oder der letzten Zeile eines tausendseitigen Buches.

Neben diese Vermittlungsversuche treten literarische und künstlerische Ansätze, die nicht zuletzt beabsichtigen, Affekte hervorzurufen. Weit außerhalb historischer Horizonte liegende Verhältnisse in der Gegenwart aufleben zu lassen, ihre Erhabenheit und verborgene Poesie freizulegen, so lautet ihr Auftrag. Doch dieser ist nur schwer zu erfüllen. Zunächst setzt nämlich die Einfühlung in einen Zustand der Geschichte die räumliche Orientierung in derselben vorübergehend außer Kraft. Man könnte sogar behaupten, dass wir gerade im Moment der Vergegenwärtigung ein räumliches Regime überwinden, wie es für die Gesamtheit der Veranschaulichung vergangener und künftiger Zeit formgebend ist.

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