Heft 886, März 2023

Ein Fach diskutiert über sich selbst

Der russische Krieg gegen die Ukraine und die Osteuropäische Geschichte in Deutschland von Andreas Hilger

Der russische Krieg gegen die Ukraine und die Osteuropäische Geschichte in Deutschland

Für viele in Deutschland kam der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unerwartet, auch für eine ganze Reihe derer, die sich wissenschaftlich mit Osteuropa beschäftigen. In einer frühen Stellungnahme warf Gerhard Simon, der Doyen der politikwissenschaftlichen Forschung – und Politikberatung – zu Osteuropa und insbesondere der Ukraine, der gesamten deutschen Osteuropaforschung vor, versagt zu haben: Sie habe es nach 1991 selbst in dreißig Jahren nicht geschafft, ihre einseitige Fokussierung auf Russland zu überwinden. Dabei habe sie das postkommunistische Russland »vollständig falsch eingeschätzt«. Mit dieser Fehlwahrnehmung habe sie sich zwar im Einklang mit dem Mainstream in Politik und öffentlicher Meinung befunden. Ihre eigentliche Aufgabe, so Simon, nämlich alternative Entwicklungsstränge zu bedenken und auf diese Weise auch als »intellektuelles Frühwarnsystem« zu dienen, habe sie indes eklatant verfehlt.1

Es sei dahingestellt, inwieweit Simon mit seiner Schelte die Geschichtswissenschaft einschließlich der Spezialdisziplin der Osteuropageschichte im Sinn hatte. Grundsätzlich muss sich die Historiografie nicht für mangelhafte politische Prognosefähigkeiten rechtfertigen – sie war im Vorfeld des Kriegs in Politik und Publizistik ohnehin nicht wirklich gefragt. Vor allem aber ignorieren pauschale Vorwürfe, wonach das Fach wesentliche Entwicklungen übersehen habe, die seit langem differenzierte Produktion der international vernetzten historischen Disziplinen.

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