Eine Idee mit Biss
von J. Arvid ÅgrenIm Spätsommer 1976 unterhielten sich zwei Kollegen bei der Oxford University Press, Michael Rodgers und Richard Charkin, über ein Buch zur Evolution, das kurz vor der Veröffentlichung stand. Es war die erste Monografie eines jungen Zoologie-Dozenten an der dortigen Universität und sollte mit einer Startauflage von 5000 Exemplaren erscheinen. Im Verlauf der Diskussion gestand Charkin, dass er zweifelte, ob mehr als 2000 davon verkauft würden. Daraufhin schlug Rodgers, der Lektor, der das Manuskript eingeworben hatte, eine Wette vor: Er würde Charkin für je 1000 Exemplare, die es unter der Auflage von 5000 bliebe, ein Pfund zahlen, und Charkin sollte Rodgers ein Bier für je 1000 Exemplare ausgeben, die sie über 5000 hinaus ginge. Bis heute ist das Buch einer der erfolgreichsten Titel von OUP und hat sich mehr als eine Million Mal in vier Auflagen und Dutzenden von Sprachen verkauft. Das Buch, um das es sich handelt, war Das egoistische Gen von Richard Dawkins, und Charkin »hält die Zahlung der Wettschulden im Interesse der Gesundheit und des Wohlergehens [von Rodgers] zurück«.
In den Jahrzehnten seit dieser Wette hat Das egoistische Gen in der Evolutionsbiologie eine einzigartige, so einflussreiche wie kontroverse Rolle gespielt. Im Mittelpunkt der Meinungsverschiedenheiten stand der in dem Buch vertretene Ansatz, der als Analyse der Evolution aus dem Blickwinkel des Gens oder der »Genperspektive« bekannt wurde. Für ihre Befürworter stellt diese Perspektive eine unübertroffene Einführung in die Logik der natürlichen Selektion dar. Für ihre Kritiker sind »egoistische Gene« eine überholte Metapher, die ein allzu vereinfachtes Bild der Evolution zeichnet, ohne neuere empirische Erkenntnisse zu erfassen. Für mich ist das Konzept eines der leistungsstärksten Denkwerkzeuge der Biologie. Wie bei allen Werkzeugen muss man allerdings verstehen, wofür es geschaffen wurde, um es optimal nutzen zu können.
Als Charles Darwin 1859 seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion vorstellte, hatte er eine Theorie über individuelle Organismen im Blick. Nach Darwins Auffassung unterscheiden sich Individuen in Hinsicht darauf, wie lange sie leben und wie erfolgreich sie bei der Partnerwahl sind. Sind die Eigenschaften, die diese Stärken positiv beeinflussen, erblich, prägen sie sich im Lauf der Zeit immer stärker aus. Die von Dawkins diskutierte Analyse aus dem Blickwinkel des Gens führt zu einem Perspektivwechsel, der zunächst minimal erscheinen mag, aber durchaus radikale Implikationen hat.
Die Idee entwickelte sich aus den Grundsätzen der Populationsgenetik der 1920er und 1930er Jahre. Hier gingen Wissenschaftler davon aus, dass sich die selektive Logik der Evolution mathematisch erfassen ließ. Man müsse dafür lediglich herausfinden, wie sich die Häufigkeit bestimmter genetischer Varianten, der sogenannten Allele, innerhalb einer Art über einen längeren Zeitraum verändert. Populationsgenetik war ein integraler Bestandteil der modernen Synthese der Evolution. Sie verband Darwins Idee eines graduellen evolutionären Wandels mit einer funktionierenden Theorie der Vererbung, die auf Gregor Mendels Entdeckung basierte, wonach Gene als diskrete Einheiten weitergegeben werden.
Der Ansatz der Genperspektive ging noch einen Schritt weiter. Dawkins argumentierte, dass es für Biologen immer vorteilhafter ist, wenn sie Evolution und natürliche Selektion in Bezug auf Gene statt in Bezug auf Organismen analysieren. Der Grund dafür ist, dass Organismen aus evolutionärer Perspektive zu flüchtige Erscheinungen sind, als dass sie als zentrales Element evolutionärer Erklärungen dienen könnten. Auf einer evolutionären Zeitskala sind sie nicht viel mehr als eine punktuelle Kombination von Genen und Umwelt – in dieser Generation da, doch schon in der nächsten wieder verschwunden. Im Gegensatz dazu geben Gene ihre Struktur vollständig von einer Generation zur nächsten weiter, ohne Rücksicht auf Mutationen und Rekombinationen. Daher besitzen nur sie die erforderliche evolutionäre Langlebigkeit. Eigenschaften, die man sehen kann, so lautet das Argument, wie etwa das besondere Fell eines Polarbären oder die Blüte einer Orchidee (der so genannte Phänotyp), dienen nicht dem Organismus, sondern den Genen. Deshalb sind letztendlich die Gene, und nicht die einzelnen Organismen, die Nutznießer der natürlichen Selektion.
Dieser Ansatz wurde auch als Theorie des egoistischen Gens bezeichnet, da die natürliche Selektion dabei als Kampf zwischen Genen verstanden wird, der sich in der Regel durch die Art und Weise auszeichnet, wie sie die Eignung des Organismus, in dem sie vorkommen, für die Weitergabe an die nächste Generation beeinflussen. Anlässlich einer Tischrede bei einem Tagungsdinner fasste Dawkins das Schlüsselargument einmal in Form eines Limericks zusammen:
Ein wanderndes egoistisches Gen
Sprach: Ich hab’ Körper ohne Ende gesehn.
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