Heft 850, März 2020

Elemente eines partizipativen Sozialismus für das 21. Jahrhundert

von Thomas Piketty

Die Elemente eines partizipativen Sozialismus, die ich im Folgenden vorstellen werde, gründen sich vor allem auf die Lehren, die wir in diesem Buch aus den historischen Entwicklungen und namentlich aus den erheblichen Veränderungen von Ungleichheitsregimen ziehen konnten, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten sind. Und diese Elemente sind bestimmt für besondere historische Gesellschaften, nämlich die des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Umsetzung mancher dieser Elemente erfordert einen relativ fortgeschrittenen Staats-, Verwaltungs- und Fiskalapparat. Sie sind daher fürs Erste eher auf hochentwickelte westliche und nichtwestliche Gesellschaften zugeschnitten. Dennoch sind sie in universalistischer Absicht konzipiert und können schrittweise auch in armen Ländern und Schwellenländern zur Anwendung kommen. Die Vorschläge gehören in die Tradition des demokratischen Sozialismus, zumal durch den Nachdruck, mit dem sie auf der Überwindung des Privateigentums und der Einbeziehung von Arbeitnehmern und ihren Vertretern in die Führung von Unternehmen beharren (die zum Beispiel in der deutschen und nordeuropäischen Sozialdemokratie eine zentrale Rolle gespielt hat). Ich ziehe es vor, von einem »partizipativen Sozialismus« zu sprechen, um das Ziel der Mitbestimmung und Teilhabe, aber auch der Dezentralisierung zu betonen, und um dieses Projekt deutlich von einem hyperzentralisierten Staatssozialismus zu unterscheiden, wie er im 20. Jahrhundert in den Ländern aus dem Dunstkreis des Sowjetkommunismus erprobt wurde (und wie es ihn im Staatssektor Chinas in weitem Umfang noch gibt). Eine wesentliche Rolle räumt die hier eröffnete Perspektive auch dem Bildungssystem, dem Thema des Eigentums auf Zeit und der progressiven Steuer ein, die im angelsächsischen Progressivismus eine große Rolle gespielt hat, ganz wie (allerdings fruchtlos) in den Debatten der Französischen Revolution.

In Anbetracht der weitgehend positiven Bilanz, die der demokratische Sozialismus und die Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert und namentlich in Westeuropa vorweisen können, scheint mir, dass es das Wort »Sozialismus« verdient hat, auch im 21. Jahrhundert noch gebraucht zu werden. Der hier zur Diskussion gestellte Vorschlag gehört in diese Traditionslinie, aber er versucht zugleich, über sie hinauszugehen und den eklatantesten sozialdemokratischen Defiziten der letzten Jahrzehnte entgegenzuwirken. Entscheidender als das Etikett, das man ihnen anheftet, ist aber der Gehalt der hier unterbreiteten Vorschläge. Ich kann es durchaus nachvollziehen, wenn manche Leser der Auffassung sein werden, das Wort »Sozialismus« sei durch die sowjetischen Erfahrungen (oder aber durch neuere Erfahrungen mit Regierungen, an denen nichts als der Name »sozialistisch« ist) irreparabel beschädigt und es gelte neue Begriffe zu prägen (auch wenn ich diese Schlussfolgerung nicht teile). Ich hoffe, das wird sie nicht davon abhalten, meinen Überlegungen zu folgen und die Vorschläge zu prüfen, die sich aus ihnen ergeben und tatsächlich auf ganz verschiedene Erfahrungen und Traditionslinien zurückgreifen.

(…)

Progressive Eigentumssteuer und Kapitalzirkulation

Die extreme Eigentumskonzentration, die in nahezu allen Gesellschaften (insbesondere den europäischen) bis ins beginnende 20. Jahrhundert dazu führte, dass gemeinhin 80 bis 90 Prozent der Vermögenswerte von den reichsten 10 Prozent (und bis zu 60 bis 70 Prozent vom reichsten 1 Prozent) gehalten wurden, hatte nicht den mindesten Gemeinnutzen. Der schlagendste Beweis dafür ist, dass der sehr starke Abbau von Ungleichheiten im Gefolge der Erschütterungen und des politisch-ideologischen Wandels von 1914 bis 1945 die Wirtschaftsentwicklung keineswegs gebremst hat. Die Eigentumskonzentration fiel nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich geringer aus als vor 1914; das oberste Dezil hielt nun etwa 50 bis 60 Prozent der Vermögenswerte, das oberste Perzentil 20 bis 30 Prozent. Das Wachstum aber beschleunigte sich. Was immer Eigentümer in der Belle Epoque (1880–1914) darüber gedacht haben mochten, die extreme Ungleichheit war nicht der Preis, den es für Prosperität und industrielle Entwicklung zu zahlen galt. Alles weist im Gegenteil darauf hin, dass die Ungleichheit zur Verschärfung sozialer und nationalistischer Spannungen beigetragen und zugleich jene Sozial- und Bildungsinvestitionen behindert hat, die dann für das ausgewogene Entwicklungsmodell der Nachkriegszeit sorgen sollten. Im Übrigen zeigt der starke Anstieg der Eigentumskonzentration, der seit den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten wie in Russland, Indien, China, aber in geringerem Ausmaß auch in Europa zu beobachten ist, dass die extreme Vermögenskonzentration aus allen erdenklichen Gründen wieder anziehen kann, etwa durch vorteilhafte Privatisierungen oder strukturell höhere Renditen für die größten Portfolios. All das ist kein der Mehrheit zugutekommender Wachstumsmotor, im Gegenteil.

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