Ende des Wachstums: Degrowth
von Geoff MannEs ist schwer, sich vorzustellen, wie man über moderne Volkswirtschaften sprechen sollte, ohne zugleich über Wachstum zu sprechen: über Rentabilität, unternehmerische Risikobereitschaft und den profitgetriebenen Zyklus von Expansion und Akkumulation. Wirtschaftliches Wachstum wird als natürlicher, automatisch ablaufender Prozess verstanden. Bleibt das Wachstum aus, gilt das als Beweis dafür, dass wir den dafür verantwortlichen Automatismen irgendwie im Weg gestanden haben müssen. Wirtschaftspolitik wird deshalb gern als eine Angelegenheit dargestellt, bei der es darum geht, das Wachstum hemmende »Fesseln« zu lockern, als wäre die Wirtschaft eine Wohlstand schaffende Bestie, immer bereit, loszulegen, wenn wir sie nur lassen.
Angesichts all dessen mag überraschen, dass die Analyse des Wirtschaftswachstums in dem Sinn, wie wir den Begriff heute verwenden, relativ jungen Datums ist. Zwar fehlt es nicht an Stimmen, die in Adam Smith den ersten Theoretiker des Wirtschaftswachstums sehen (auch wenn das Wort bei ihm nicht vorkommt), aber noch 1946 konnte Evsey Domar, einer der Begründer der modernen Wachstumstheorie, konstatieren, dass es sich bei »Wachstumsrate« um »einen Begriff« handele, »der in der Wirtschaftstheorie bislang wenig gebraucht worden ist«. Das sollte sich schnell ändern, schließlich hatten Ökonomen und Politiker mit dem Erbe der Großen Depression zu kämpfen, mit der Angst vor einer Nachkriegsstagnation und mit den geopolitischen Folgen der Entkolonialisierung und des Kalten Kriegs. Die Herausforderungen von Wachstum und Industrialisierung – die Hindernisse, die ihnen im Weg standen, aber auch die Umwälzungen und Ungleichheiten, die sie oft mit sich brachten – waren nicht nur eine Frage von Investition, Technologie und Produktivität. Es ging auch, mit den Worten Simon Kuznets’, um »die Zukunftsaussichten der unterentwickelten Länder im Gravitationsfeld der freien Welt«.
Walt Rostow, der neben Kuznets zu den einflussreichsten frühen Denkern auf diesem Gebiet gehörte, verstand Wachstum als Grundlage der Nachkriegsweltordnung. Sein 1960 veröffentlichtes Buch Stages of Economic Growth trug den wenig subtilen Untertitel A Non-Communist Manifesto. Gemäß dem, was heute als Rostow’sche Stadientheorie bezeichnet wird, stellte Wachstum nicht nur die Lösung für die innere Instabilität der fortgeschrittenen Industrieländer und das Heilmittel für die Rückständigkeit der »traditionellen« (nichtindustriellen) Gesellschaften dar; es galt zugleich als Antidot gegen den Sozialismus.
Es bedurfte keiner Revolution: Die nicht komplett liberalisierten Märkte des Nachkriegskapitalismus würden schließlich auf friedliche Weise die Früchte der Modernisierung liefern – eine gewaltfreie, sich selbst verstärkende Alternative zu Enteignung und Kollektivierung. Unklar blieb jedoch, wie die traditionellen Gesellschaften den Verwerfungen begegnen würden, die mit der Integration in die Weltwirtschaft unvermeidlich einhergingen. »Wie«, fragte Rostow, »sollte die traditionelle Gesellschaft auf das Eindringen einer fortschrittlicheren Macht reagieren: mit Zusammenhalt, Schnelligkeit und Tatkraft, wie die Japaner; indem sie aus Kraftlosigkeit eine Tugend macht, wie die unterdrückten Iren des 18. Jahrhunderts; durch langsames und widerwilliges Verändern der traditionellen Gesellschaft, wie die Chinesen?«
Kuznets vermutete, dass ein marktgesteuertes Wirtschaftswachstum in traditionellen Gesellschaften die Ungleichheit zunächst verschlimmern, auf lange Sicht jedoch verringern würde. (Eine Hypothese, die später, trotz seines Eingeständnisses, dass es sich um eine »95-prozentige Spekulation« handelte, in der mittlerweile berüchtigten »Kuznets-Kurve« zu einer Wahrheit nobilitiert wurde.) Wie könnte der Westen den Rest der Welt während dieser anfänglichen Erschütterungen in Schach halten? Wie könnte das Vorgehen gestaltet werden, damit »der fatal einfache Behelf eines autoritären Regimes vermieden wird, das die Bevölkerung im Kampf um wirtschaftlichen Erfolg als Kanonenfutter benutzen würde«? »Wohin führt uns die Logik des Zinseszinses?«, fragte bei einem anderen Anlass Rostow. »Führt er uns zum Kommunismus; oder in die wohlhabenden Vorstädte?« Sind wir auf dem Weg »ins Verderben; zum Mond; oder sonst wo hin?« Die Aufgabe war, die traditionellen Gesellschaften so umzugestalten, dass sie »in den Genuss der Segnungen und Möglichkeiten kommen können, die der Vormarsch von Zinseszinsen eröffnet«.
In den Jahren seit Kuznets und Rostow ist das Wirtschaftswachstum praktisch zum Hauptgegenstand der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft und -politik geworden, und die Steigerungsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu seinem Standardmaß. Das BIP stellt den monetären Wert des jährlichen Outputs eines Landes dar und wird in der Regel auf einer Pro-Kopf-Basis angegeben. Es wird allgemein angenommen, dass das Wachstum – und zwar das Gesamtwachstum – die Triebfeder des Wundergeschehens des modernen Kapitalismus ist, was dazu geführt hat, dass ein steigendes BIP zu einem politischen Ziel an sich geworden ist. Schon Rostow meinte, es gehe darum, das Wachstum dadurch zum »Normalzustand« der Wirtschaft zu machen, dass »der Zinseszins gewissermaßen in ihre Gewohnheiten und ihre institutionelle Struktur eingebaut wird«. In der globalen Wirtschaft von heute ist das Einkommens- oder Output-Wachstum auf jeder Ebene, vom Unternehmen bis zum souveränen Nationalstaat, ein entscheidender Faktor dafür, wie gut es gelingt, Investitionen anzuziehen oder Kredite auf den Finanzmärkten aufzunehmen. Das stellt dann wiederum einen entscheidenden Faktor für künftiges Wachstum dar, wodurch eine sich selbst aufschaukelnde Dynamik entsteht.
Obwohl die Wirtschaftspolitik sich also fast ausschließlich am BIP orientiert, steht diese Fixierung seit Jahrzehnten heftig in der Kritik, nicht zuletzt, weil das BIP als Messgröße für menschliches Wohlergehen ganz offensichtlich ungeeignet ist. Jede Leistung trägt zum BIP bei, egal, ob es sich um Bildung oder Gesundheitsfürsorge, Fracking-Gas oder Waffen handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob sich ein Anstieg des BIP auf zwei reiche Menschen oder auf eine Million armer Menschen verteilt: Wenn Sie von einem Bus angefahren werden und es Tausende kostet, Sie zu retten (oder dabei zu scheitern), haben sowohl Sie als auch der Busfahrer einen positiven Beitrag zum BIP geleistet.
Angriffe auf die Fetischisierung des Wachstums sowie auf die moralische Bankrotterklärung, auf die das Credo hinausläuft, »mehr« sei gleichbedeutend mit »besser«, haben eine noch längere Geschichte. John Stuart Mill war der Ansicht (und damit stand er keineswegs allein), dass den Menschen am besten mit einer Gesellschaft gedient sei, in der »niemand arm ist, niemand begehrt, reicher zu sein, und niemand Grund hat, zu befürchten, die Bemühungen anderer, sich nach vorne zu drängen, könnten dazu führen, dass er selbst schlechter gestellt wäre«. In jüngerer Zeit wurde der Vorwurf erhoben, die Wachstumsökonomie und die durch sie gestützte Politik verwechselten den quantitativen Prozess des Wachstums mit dem qualitativen Prozess der Entwicklung. Heute wissen wir, dass die Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-BIP oder dem schnellsten Wachstum nicht zwangsläufig zugleich friedlicher oder demokratischer sind; auch leben ihre Bürger nicht unbedingt gesünder, länger oder glücklicher. Trotz alledem ist das BIP nach wie vor das Standardmaß für die gesamtwirtschaftliche Aktivität eines Landes, sehr zum Leidwesen der Befürworter alternativer Bemessungsmodelle wie des Human Development Index oder des Genuine Progress Indicator, die zumindest versuchen, auch das menschliche Wohlergehen in die Gesamtrechnung miteinzubeziehen.
Der vor allem dem Klimawandel geschuldete rapide Niedergang der ökologischen Stabilität des Planeten hat der Kritik am Wachstum großen Auftrieb gegeben. Die Einsicht, dass das Verhältnis des modernen Kapitalismus zum Planeten ein zunehmend extraktives und destruktives ist, setzt sich immer stärker durch. Die verrückten Sektierer, die sich weigern, an den Klimawandel zu »glauben«, mögen vielleicht noch nicht vom Rand der Erde gefallen sein, aber die Fakten sind mittlerweile Teil des Mainstream-Bewusstseins. Selbst Institutionen wie der Internationale Währungsfonds, die Financial Times, die Europäische Zentralbank, die Deutsche Bank und das US-Militär räumen ein, dass das moderne Wirtschaftswachstum ökologisch zerstörerisch gewesen ist und als ein Haupttreiber der sich abzeichnenden Klimakatastrophe zu gelten hat.
Die entscheidende Frage ist, ob die Verkettung von Krisen, die wir gegenwärtig erleben, mit der Art und Weise zusammenhängt, wie das Wirtschaftswachstum gegenwärtig zustande kommt, oder ob das Wirtschaftswachstum per se dafür verantwortlich ist. Ist ein Wirtschaftswachstum möglich, das die Lage des Planeten und seiner Bewohner nicht verschlechtert? Können wir das Wachstum von den Treibhausgas-Emissionen, dem Schwund der Artenvielfalt und der Zerstörung von Lebensräumen »entkoppeln«, wie manche behaupten?
Die Propheten der Entkopplung gehören zu einer bunt zusammengewürfelten, aber immer größer werdenden Schar von green-growthers, zu denen Kapitalgeber wie Mark Carney zählen, der ehemalige Gouverneur der Bank of England, Ökonomen wie Per Espen Stoknes von der Norwegian Business School und Mariana Mazzucato vom University College London sowie Wirtschaftsgurus wie Paul Hawken (gemeinsam mit Hunter und Amory Lovins Autor von Natural Capitalism: Creating the Next Industrial Revolution, 1999).
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