Heft 899, April 2024

»Erbärmliche Selbstentblößung« als Mittel politischer Literatur

Über Form, Ethos und Potentiale von Autofiktion von Paul Brodowsky

Über Form, Ethos und Potentiale von Autofiktion

Menschen, die Selfies von sich im Krankenhaus auf Instagram veröffentlichen. Menschen, die Bilder ihres Essens, ihrer Urlaubsaufenthalte, ihrer Katzen und Wüstenspringmäuse, von Kunstausstellungen und Theaterbesuchen in sozialen Medien veröffentlichen, Bilder ihrer Kinder beim Spielen, Bilder der Beerdigung ihrer Kinder, Bilder vom positiven Corona-Test und Bilder vom positiven Schwangerschaftstest, Bilder von Bäuchen, Bilder von betrunkenen, glücklichen Menschen auf einem Dancefloor, Bilder der Bücher, die Menschen lesen, Bilder von Bäumen vor ihrem Fenster, Bilder der Krähen, die sie auf dem Fensterbrett besuchen kommen, Bilder ihrer Milch, des Wassers, in dem sie schwimmen, der leeren Himmel, unter denen sie stehen. Das alles erleben wir täglich, das alles posten wir täglich.

In seiner Besprechung der englischen Übersetzung von Karl Ove Knausgårds drittem Band der Min kamp-Hexalogie in der London Review beschreibt Ben Lerner Knausgårds Projekt als den Versuch, die Form des Romans durch die Anhäufung einer schieren Masse von (vorgeblich) erinnerten Details zu sprengen, eine Poetik des »each cornflake, each snowflake« aufzuspannen, die formal kunstlos und sprachlich eher stumpf daherkommt, zugleich aber einen ungeheuren Sog, oder, wie er schreibt, eine Sucht zum Weiterlesen erzeugt. »I need the next volume like crack«, wird etwa Zadie Smith zitiert. Das ist ein Indiz für einen Text, der weniger durch seine klar benennbaren literarischen Qualitäten überzeugt als durch eine schwer dingfest zu machende Freude an der schieren Menge von immer neuer, an Reality-TV erinnernder »abject self-exposure« (in etwa: »erbärmlicher Selbstentblößung«), von der wir den Blick nicht abwenden können. Er fasst zusammen: »Reading it can feel like consuming vast quantities of essentially undifferentiated material: all crack is the same, you just want more and more of it.«

Mit Rückgriff auf Baudelaire beschreibt Lerner, selbst Autor mehrerer autofiktionaler Romane, den kindlichen Wahrnehmungsmodus, alles mit staunenden Augen zu betrachten, und die Fähigkeit von Künstlerinnen und Künstlern, sich diesen begeisterten Wahrnehmungsmodus zu bewahren, den wir bei Erwachsenen oft mit Rausch assoziieren: »Das Kind sieht alles als Neuigkeit« und weiter: »das Kind ist immer ›berauscht‹«, so Baudelaire, und das Genie »ist nur das willentlich wiedergefundene Kind, die Kindheit, versehen nun, um sich auszudrücken, mit […] analytischem Geist, der ihm erlaubt, die Menge des unwillkürlich angehäuften Materials zu ordnen. Dieser tiefen und freudigen Neugier muss man das starre und tierhaft ekstatische Auge der Kinder angesichts des Neuen zuschreiben, welches dieses auch sei, Gesicht oder Landschaft, Licht, Vergoldung, Farben, schillernde Stoffe.« Bilder von unscharfen Bierflaschen am Rand einer Mole, Bilder von Gesichtern in Nahaufnahme, Bilder von Plastiktüten im Wind, Bilder von vollgetaggten Klokabinenwänden, Bilder von Schnee.

Zentrales Ordnungsprinzip der knausgårdschen Hexalogie ist die radikal durchgehaltene Linearität seines Erzählens, abgesehen von wenigen Zeitsprüngen (und teils Hunderte Seiten langen Einschüben, die in sich jedoch wieder dem strengen Und-dann-und-dann-Kontinuum folgen). Das macht sein Erzählen in Min kamp ausgesprochen leicht zu erfassen. Laut Lerner bringt Knausgård Form und Ordnung vor allem dadurch in sein Material, dass er das Ende seines Projekts über sechs Bände und Tausende Seiten hinweg immer weiter verschiebt. Von dem Ende her erfahre, so die schon in Band zwei angeteaserte Erwartung, das gesamte Projekt seine Gültigkeit, weil schlicht und einfach alles gesagt sei. Das Ich ist am Ende dieses Schreibprojekts umfassend und bis in den letzten Winkel kolonisiert, so sehr, dass dem Autor dann nur noch übrig bleibt zu verkünden, dass er nie wieder ein Buch schreiben werde. »Ich bin so glücklich, dass ich kein Autor mehr bin.« Diese Aussage hat den real-existierenden Karl Ove Knausgård jenseits der autofiktiven Selbstkonstruktion aber keinesfalls vom Weiterschreiben abgehalten – seit dem sechsten Band der Hexalogie sind neun weitere Bücher von ihm erschienen.

Hinzu kommt meiner Erfahrung nach noch etwas anderes, eine Produktivkraft, die mit dem Prozess des autobiografischen Schreibens eng zusammenhängt: die Fetischisierung des erinnerten Details. Knausgård beendet Band vier seines Romanprojekts (in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Leben) mit der Beschreibung seines ersten Orgasmus als Teenager, einer Erlösung von aufgestauten sexuellen Energien. Band drei (Spielen) wiederum endet mit einem für diesen Autor seltenen poetologischen Moment: »Niemals hätte ich geglaubt, dass mir jedes einzelne Detail der Landschaft und jeder einzelne Mensch, der in ihr wohnte, für alle Zeit präzise und genau im Gedächtnis bleiben würde, mit einer Art absolutem Gehör der Erinnerungen.« Diese Parallelsetzung von sexueller Erweckung und selbstüberhöhender, detailversessener Erinnerungskompetenz an zwei exponierten Stellen des Romanwerks scheint mir bezeichnend. Darin wird eine fragwürdige Verknüpfung von männlich konnotiertem Genius und Gedächtnisleistung, nominaler Faktizität und Beschreibungsvermögen aufgerufen (vergleiche dazu etwa auch Peter Handkes berühmten Vorwurf der »Beschreibungsimpotenz« an seine Kollegen bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton 1966).

Die Vorstellung von dicken Büchern und mehrbändigen Romanen verbindet man vornehmlich mit männlichen Autoren, von Proust über Thomas Mann und Robert Musil bis zu David Foster Wallace oder Rainald Goetz’ Textzyklen. Oder eben Karl Ove Knausgård. Auch hier wieder: the need to tell it all, »each cornflake, each snowflake«, selbstberauschtes Sich-Verbreiten, Raumnahme, textuelles Manspreading. Das Gegenmodell bilden die konzisen Bücher von Tomas Espedal oder Eduard Louis. Louis verweist für seine konzentrierte Schreibweise immer wieder auf Annie Ernaux, die knappe, hochverdichtete Bücher verfasst und dabei das Ich fast oder auch ganz verschwinden lässt zugunsten einer Poetik der Auto-Soziobiografie. Ernaux’ Werk ist dabei durchsetzt von kleinen, beinahe privaten Partikeln, erinnerten Details, die teils eine soziologische Formation aufscheinen lassen, teils der Eigenlogik von privaten Gedächtnismomenten folgen und dem Text Anschaulichkeit und Haptik verleihen, zugleich das in den Texten Beschriebene als konkrete Welterfahrung beglaubigen. Damit erfindet sie ein neues Genre, öffnet den Text gleichermaßen der (quasiwissenschaftlichen) Objektivierbarkeit und der Genauigkeit der intimen Beobachtung. Sie schützt sich und andere durch diese Verfremdung und ist zugleich an den entscheidenden Punkten radikal offen (etwa wenn sie von erlittener sexualisierter Gewalt und ihren Folgen erzählt). Zugleich sind ihre Texte stets verdichtet, im Gegensatz etwa zu Knausgård wohlüberlegt abgehangen und messerscharf, so etwa in Die Jahre: »die Mumien in zerlumpter Spitze, die in der Kapuzinergruft in Palermo an den Wänden hingen«; »der Fremde im Bahnhof Termini in Rom, der die Sichtblende seines Erste-Klasse-Abteils ein Stück heruntergezogen hatte, sodass er nur von der Hüfte abwärts sichtbar war und sein Geschlechtsteil rieb« und: »Alle Bilder werden verschwinden.«

Sich von unnötigen Details, von verkomplizierenden Schichten und Gleichzeitigkeiten zu lösen und für das potentielle Material eine Form zu finden, bildet meiner Erfahrung nach einen wichtigen Zwischenschritt, einen zentralen Kristallisationspunkt im Entstehen autofiktionaler Texte. Eine der Herausforderungen des Schreibens eines solchen Textes ist es, ein Kriterium dafür zu finden, was (und an welcher Stelle) in den Text gehört. Der dauernde Verità-Anspruch, der Wunsch, alles so aufzuschreiben, wie es war, bildet zugleich die Grundlage für den »autobiografischen Pakt« (Philippe Lejeune) des Textes. Also dafür, dass für Leserinnen und Leser spürbar wird, dass die im Text beschriebenen Momente sich für die schreibende Person im Kern so und nicht anders zugetragen haben.

Dem entgegen steht die Notwendigkeit zur Auswahl von Details. In einem aufschlussreichen Podcast-Gespräch zwischen den Autorinnen Judith Holofernes und Daniela Dröscher über ihre autofiktionalen Romane stellt Holofernes an einer Stelle fest: »dass man vielleicht auch Sachen weglassen muss, […] dass man irgendwann sagen muss: alles weglassen, alles weglassen, das Einzige, was übrig bleiben sollte, bin ich«. Anders gesagt: Engführung und Zuspitzung sind unabdingbar, machen den Text überhaupt erst lesbar, zugleich erlauben sie dem Leser das Symptomatisieren. Die beschriebenen Details werden auf ein Thema, auf einen Diskurs hin erfassbar. Analog dazu entsteht, so meine eigene Erfahrung, in intensiven Schreibphasen ein Tunnelgefühl, ein Hyperfokus, bei dem immer neues und immer mehr potentielles Material mit den zentralen Themen und Thesen des Textes verbunden scheint. Kleinste, alltägliche Momente verbinden sich aus dieser Perspektive plötzlich mit dem zentralen Anliegen des Textes. Bäume, Straßennamen, Radiomeldungen, Sprachregelungen, Alltagshandlungen – all das waren, passend zu dem Thema meines Buches, plötzlich Symptome für die Kontinuität des Faschismus in der BRD oder für transgenerationelle innerfamiliäre Prägungen, die daraus erwachsen. Dem Wunsch, alles in dem Text aufzunehmen, steht im Prozess dann weiterhin die Notwendigkeit gegenüber, den Text zu komponieren, ihn zu bauen, Plot-Linien herauszuarbeiten, wiederkehrende Figuren, Verstehensschneisen; und mit Schnitt- und Collagetechniken zu arbeiten, mit Kontrasten, durchlaufenden Fragestellungen, mit Mitteln des Suspense und Leitmotiven.

Bilder von Haut, Bilder von Beauty-Spots, Bilder von Zungen. Jedes Schreiben braucht intuitive Momente, ein Schreiben aus dem Körper, dem Bauch, der rohen Wahrnehmung, dem Gedächtnis, dem Begehren heraus. Daraus bildet sich eine eigene, erarbeitete Ich-Perspektive, eine Art Energiefluss. Hinzukommen müssen dann Momente des Wiederlesens, der Überlegung und Revision, Kill-your-darlings-Entscheidungen, Planen und Arrangieren. Ein Nachdenken über »physics of reading« (David Foster Wallace) kommt ins Spiel, also Momente, in denen imaginierte Lesende präsent sind, Intersubjektivität, Übersicht und Kontrolle. Bilder von Design-Objekten, Bilder von Architekturen, Bilder von Sandstrukturen, Bilder von Blattadern.

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