Heft 860, Januar 2021

Erdrückende Tradition?

Musik in der Gegenwart von Christian Grüny

Musik in der Gegenwart

Vor einiger Zeit las ich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über die Akustik von Konzertsälen, an dessen Inhalt ich mich nur noch vage erinnere. Sicherlich wurden die einschlägigen Beispiele besprochen und einander gegenübergestellt, und vermutlich war das Ergebnis, dass es die eine gute Akustik und den perfekten Konzertsaal nicht gibt – man kennt das. Woran ich mich aber sehr gut erinnere, ist, dass ich mich bei der Lektüre plötzlich fragte, warum mich das eigentlich interessieren sollte. Nun interessiert es mich ja tatsächlich, als Konzertbesucher, als Philosoph, der sich mit Musik beschäftigt, als Geisteswissenschaftler, der irgendwie alles Kulturelle interessant findet. Trete ich aber kurz einen Schritt zurück und frage mich, womit sich diese Diskussion eigentlich beschäftigt, beginnt sie mir doch etwas dubios zu erscheinen. Der größte Teil der Musik wird heute natürlich nicht in Konzerthäusern gespielt, sondern in Clubs, im Einzelhandel und über Milliarden von Kopfhörern, und Konzertsäle sind bis heute eine recht elitäre Angelegenheit, auch wenn viele Akteure sich seit langem bemühen, daran etwas zu ändern. Von diesem Gedanken ist man sehr schnell bei der grundsätzlichen Frage, ob es einen mit öffentlichen Geldern geförderten klassischen Musikbetrieb in der gegenwärtigen Form geben sollte, der doch nur von vergleichsweise wenigen wahrgenommen wird – auch das kennt man.

Nun begibt man sich auf schwieriges Terrain, wenn man so argumentiert, denn es ist klar, dass ein sehr großer Teil von dem, was wir als Hochkultur zu bezeichnen gewöhnt sind, und auch eine Menge an lokaler Kultur und Soziokultur ohne staatliche Unterstützung nicht existieren könnten. Die Corona-Pandemie hat diese Situation zwar deutlich verschärft, aber nicht geschaffen. Was mir damals sauer aufgestoßen ist, war ja auch nicht die Subventionierung als solche, sondern eine Fachdiskussion, in der die akustischen Eigenschaften von Gebäuden weniger dazu dienten, deren Kosten zu rechtfertigen, als diese Frage schlicht verschwinden zu lassen. Aber auch für sich genommen hat diese Diskussion eigentümliche Züge, erinnert sie doch an das leicht fetischistische Verhältnis, das manche Hi-Fi-Liebhaber zu den Klangqualitäten ihrer Verstärker und Boxen haben – mit dem Unterschied, dass diese in kulturell marginalen Fachjournalen ausgetragen wird, während jene in den Feuilletons der großen Zeitungen stattfindet.

Wir bewegen uns hier offenbar ganz auf der einen Seite des great musical divide zwischen E und U. Das Thema wird fast ausschließlich in der klassisch-romantischen Musik diskutiert, die den Konzertbetrieb, in jedem Fall die Orchestermusik, vollständig dominiert. Alte und Neue Musik stehen weit weniger im Fokus. Natürlich ist auch im Fall der klassischen Musik die Akustik von Aufführungsstätten nicht das alles dominierende Thema. Dennoch erscheint es mir bezeichnend, wie viel Aufmerksamkeit ihm gewidmet wird. Was sagt uns das über die kulturelle Lage der Musik?

Klassische Musik, E-Musik, Kunstmusik

Die Musik, über die wir hier sprechen, wird für gewöhnlich als »klassische« bezeichnet; heute weniger geläufig ist der Begriff der E-Musik, während der der (europäischen) Kunstmusik im Alltagsdiskurs wenig verwendet wird. Aufschlussreich sind sie alle drei: Der erste nimmt den Namen einer Epoche als Bezeichnung für eine ganze Kunstgattung, was auf der einen Seite wie eine etwas dilettantische Verallgemeinerung von außen wirkt, auf der anderen aber recht genau benennt, was im Zentrum dieser ganzen Tradition steht (kurz gesagt: Beethoven); der zweite gründet sich auf eine überhebliche, aus heutiger Perspektive antiquiert und auch defensiv wirkende Abgrenzung der eigenen Ernsthaftigkeit von der bloßen Unterhaltung der anderen; der dritte benennt am neutralsten das kulturelle Feld, in dem diese Musik situiert ist. Weil die letzten beiden Begriffe die Neue Musik mit umfassen, werde ich im Folgenden weiter von der klassischen Musik sprechen.

Diese klassische Musik ist aber, woran der dritte Begriff erinnert, Teil der europäischen Tradition autonomer Künste, also eines Felds, in dem sich die verschiedenen künstlerischen Disziplinen von der Indienstnahme durch Kirche und Herrschaft emanzipierten, eigene Institutionen ausbildeten, sich professionalisierten und eine Praxis etablierten, die sich vorrangig nach den Kriterien der inneren Entwicklung des jeweiligen Bereichs bestimmte. Auch wenn die Einflüsse von Gesellschaft, Markt und anderen Künsten nie aufhörten, reagiert Musik seitdem dem Anspruch nach vor allem auf Musik und verhält sich ständig zu ihrer Tradition. Spätestens seit Felix Mendelssohn-Bartholdys Aufführung von Bachs Matthäuspassion 1829, etwas mehr als hundert Jahre nach der Erstaufführung, ist diese Tradition auch in der Öffentlichkeit präsent. Sie wird nicht verworfen oder entsorgt, sondern bleibt als geehrte Referenz, von der man sich gleichwohl emanzipieren muss, für alle erkennbar im Raum. Selbst radikale Abgrenzungen im Namen des Neuen durchtrennen diese Verbindung nicht, sondern bestätigen sie letztlich.

Nun suggeriert diese Beschreibung eine kontinuierliche Tradition der Kunstmusik, die bis heute anhält; nachdem lineare Fortschrittserzählungen in den vergangenen Jahrzehnten an Plausibilität verloren haben, muss man mit einer Pluralität der Entwicklungen rechnen, aber eben doch mit Entwicklung. Ganz offensichtlich ist daran etwas problematisch, was uns zum Begriff der »klassischen« Musik zurückbringt. Wir sprechen hier von der Musik, die zwischen der Mitte des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist, mit einigen wenigen Stars aus früheren (Vivaldi, Bach, Händel) und späteren (Strauss, Strawinsky, Schostakowitsch) Zeiten. Ihre Dominanz kann man nicht mehr damit erklären, dass es um das Wachhalten der Tradition als Hintergrund der späteren und aktuellen Entwicklung geht, denn sie hat sich längst verselbständigt. Die klassische und die zeitgenössische Musik stellen in öffentlicher Wahrnehmung und gesellschaftlicher Realität nicht die Vergangenheit und Gegenwart einer Tradition dar, sondern zwei verschiedene Musikgattungen.

Die klassische Musik ist bei uns heute der Inbegriff des Hochkulturellen, mit allen Implikationen des Begriffs: Sie erfüllt repräsentative Aufgaben, wird staatlich gefördert, verkörpert kulturelles Kapital und wird aus all diesen Gründen als elitär geschmäht, als Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Interessanterweise enthält die Kategorie des Hochkulturellen, wie auch die des Ernsten, nichts von dem Anspruch auf reflexive Weiterentwicklung einer Tradition, die den Begriff der autonomen Kunst prägt, sondern gründet sich ausschließlich auf das Kriterium gesellschaftlicher Anerkennung. Solange sie sich klar von der Gegenkategorie der Populärkultur abgrenzt, könnte Hochkultur auch auf die weitgehende Stabilität traditioneller Formen setzen – und genau das tut die klassische Musik.

Nun ist die Musik in der besonderen Lage, dass die Präsenz der Tradition hier nicht einfach dadurch erreicht werden kann, dass man sie aus irgendwelchen Archiven oder Lagern holt und zur Rezeption freigibt. Um Vermeer, Rembrandt, Caspar David Friedrich, Cézanne und Klee präsent zu halten, braucht es Restauratorinnen und Kuratorinnen, für die Musik braucht es Menschen, die ihr überhaupt erst zur klingenden Existenz verhelfen, kurz: Musikerinnen. Diese Musikerinnen müssen ausgebildet werden, und sie werden es. Die Musikhochschulen sind, um es etwas drastisch zu sagen, im Wesentlichen Ausbildungsstätten für technisch perfekte Vermittler zur Bewahrung der Tradition, für Hochleistungssportler im Musendienst.