Erinnerung im globalen Zeitalter
Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert von Sebastian ConradWarum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert
Geschichte lebt wieder in Deutschland, ist präsent im öffentlichen Raum wie lange nicht mehr. Konflikte und polemische Debatten überall: das Humboldt-Forum und koloniale Beutekunst; die Umbenennung der M-Straße; einhundertfünfzig Jahre Deutsches Kaiserreich; Achille Mbembe, Holocaust und Kolonialismus, die Deutschen mit »Nazihintergrund« und nicht zu vergessen die Machenschaften der Hohenzollern. So unterschiedlich die Debatten im Einzelnen sind, immer wird dabei die Deutung der NS-Zeit oder des Kolonialismus mitverhandelt; häufiger sogar beides. Kein Tag, an dem das Feuilleton nicht bebt, die Twitter-Sphäre ohnehin. Die Dinge, um die es geht, liegen alle lange zurück, sehr lange; manche waren beinahe vergessen. Jetzt sind die Diskussionen gleichwohl so heftig, als ginge es um alles. Warum regen sich gerade alle so auf?
In dem gegenwärtigen Kampf um die historische Deutungshoheit mangelt es nicht an Kommentaren, Einlassungen, Deutungen. Aber meist geht es dabei um normative Fragen: Soll koloniale Kunst zurückgegeben, Immanuel Kant aus den Lehrplänen verbannt, sollen Straßen umbenannt werden? Sollte die deutsche Gesellschaft auf der Einzigartigkeit des Holocaust bestehen, oder gibt es eine Verantwortung für die Opfer des Kolonialismus? Diese normativen Fragen – was sollen wir tun? – sind wichtig; sie werden die Feuilleton-Öffentlichkeit noch auf absehbare Zeit beschäftigen. Bislang wird jedoch viel zu wenig thematisiert, worin die Gründe für die aktuelle Aufmerksamkeitsexplosion bestehen. Warum jetzt? Was sagt es über die Gegenwart, wenn die Geschichte wieder zum Gegenstand einer erbitterten, häufig polemischen Auseinandersetzung wird?
Was wir im Kern beobachten, sind die Effekte der Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes: Das historische Narrativ der Nachkriegszeit (Erinnerung I) wird durch einen veränderten Erfahrungshaushalt in der globalisierten Gegenwart herausgefordert oder zumindest ergänzt (Erinnerung II). Die Erinnerungsdebatte ist dabei nur die Oberfläche, unter der grundlegende gesellschaftliche Veränderungen liegen, die keineswegs auf Deutschland beschränkt bleiben.
Erinnerung I – ein transnationales Produkt
Was heißt das? Lange Zeit hatte sich die (west)deutsche Gesellschaft in der Erinnerung I gut eingerichtet: Der Gründungskonsens der Bundesrepublik beruhte auf einer historischen Erzählung, die Deutschland auf dem Weg zu einer demokratischen, westlichen Gesellschaft sah. Seine Kernelemente: Distanz vom Nationalsozialismus, Demokratisierung, Absage an Krieg und Diktatur. Und im Zentrum: die kritische Aufarbeitung der deutschen Schuld, des Holocaust.
Im Rückblick sieht dieses Erinnerungsregime – gemeint ist: die hegemoniale Erinnerung im öffentlichen Raum – allerdings deutlich homogener aus, als es in Wirklichkeit war. Der Begriff »Erinnerung I« wird hier heuristisch gebraucht; er soll nicht davon ablenken, dass Erinnerungsdebatten höchst umkämpft waren. Politische Konflikte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit waren heftig, von den Diskussionen über die Wiedereingliederung belasteter und entnazifizierter Personen in den fünfziger Jahren bis zu der Kritik an der NS-»Vätergeneration« 1968. Der Höhepunkt dieser Erinnerungskriege war der Historikerstreit 1986, der noch einmal das konservative und linke Lager gegeneinander in Stellung brachte. Mindestens so wichtig wie diese ideologischen Gegensätze war aber eine andere Entwicklung: Erst in den achtziger Jahren fand die Erinnerung I im Holocaust ihr unangefochtenes Zentrum.1
Im Rückblick wird jedoch noch etwas ganz anderes deutlich: Die Erinnerung I war keineswegs nur ein deutsches Produkt. Das wird zu selten gesehen. Gewiss: Die Gesellschaft war stolz auf ihre »Vergangenheitsbewältigung«; der Begriff selbst wurde zum Exportschlager und zwang Übersetzer in anderen Sprachen zu gewagten Neologismen. Durchaus zu Recht: Die kritische Distanz vom Nationalsozialismus hat sich die deutsche Gesellschaft hart erarbeitet (wie viele Widerstände im Spiel waren, kann man am Beispiel von Fritz Bauer oder den Romanen von Ursula Krechel gut nachvollziehen). Aber die Rede vom kollektiven »Lerneffekt«, von der Emanzipation, von einer Gesellschaft, die sich Münchhausen gleich am eigenen Schopf aus dem braunen Sumpf zieht, wie etwa noch Daniel Goldhagen meinte, sie bleibt doch sehr einseitig.2 Mit etwas Abstand betrachtet ist klar, dass die deutsche »Vergangenheitsbewältigung« eng eingebunden war in transnationale Zusammenhänge – und nur in ihnen möglich.
Erinnerung ist ja nicht nur, nicht einmal in erster Linie, eine zeitliche Beziehung von der Gegenwart zur erinnerten Vergangenheit, auch wenn es häufig so aussieht; ihre Dynamik erklärt sich vor allem durch den Kontext in der Gegenwart, einen Kontext, der nationale Grenzen stets überschreitet. In der Bundesrepublik kamen viele solcher Faktoren zusammen und trugen zur Entstehung der Erinnerung I bei: die alliierte Besatzung, die Umerziehungsmaßnahmen, die Ansprüche der Jewish Claims Conference, bis hin zum Eichmann-Prozess in Jerusalem oder 1979 die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss. Eine ganz zentrale Rolle spielte dabei der allmähliche europäische Einigungsprozess: Die kritische – und das hieß hier: selbstkritische – Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust war die politische und kulturelle Voraussetzung für Deutschlands Wiedereingliederung, für seinen »Weg nach Westen«.3
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