Erziehung in der Demokratie
von Arnd-Michael NohlDemokratische Staaten sind in vieler Hinsicht auf entgegenkommende Handlungsbereitschaften seitens der Bevölkerung angewiesen, ohne diese vollständig per Gesetz erzwingen zu können. In der Bundesrepublik wird dies nicht nur in der Corona-Pandemie deutlich. Auch dort, wo es um die Herstellung eines breiten Konsensus in zentralen politischen Entscheidungen oder, noch fundamentaler, um Identifikation mit der Demokratie geht, vertraut man weder nur auf (gesetzlichen) Zwang noch ausschließlich auf die freie Meinungsbildung. Vielmehr kommt es hier zur nachhaltigen, sanktionsbewehrten Orientierungszumutung, gerade auch für Erwachsene, und damit zur »Massenerziehung« durch politische Akteure.
Dass Erwachsenen in einer Demokratie Orientierungen zugemutet werden, kann überraschen. Schließlich gehen wir üblicherweise davon aus, dass zwar Kinder und Jugendliche zu erziehen seien, Erwachsene als mündige Menschen sich hingegen selbst bilden, das heißt ihre eigenen Orientierungen finden. Während politische Bildung auf dem Angebot unterschiedlicher Haltungen zu einem politischen Thema basiert und auf diese Weise die selbständige Orientierungsfindung der Bürger fördert, mutet Erziehung bestimmte Orientierungen zu. Es geht hier um eine Zumutung, weil die so Erzogenen, erstens, von alleine nicht darauf gekommen wären, sich diese Handlungsweisen zur Gewohnheit zu machen, und weil diese Handlungsweisen, zweitens, bisweilen dem Wünschen und Wollen der Menschen entgegenstehen, drittens aber auch im Sinne des Zusprechens von Mut, denn die Erziehenden trauen den zu Erziehenden zu, sich die gewünschten Orientierungen anzueignen.
Auch wenn die politischen Akteure selbst dies nicht als Erwachsenenerziehung verstehen mögen, lassen sich drei Formen von meist massenmedial lancierten Orientierungszumutungen identifizieren: die politische Erziehung, die Demokratieerziehung und die – nicht nur in der Corona-Pandemie genutzte – Gemeinwohlerziehung.
Kehrtwenden von Parteien und politische Erziehung
Seit der Wiedervereinigung Deutschlands haben mehrere Parteien Kehrtwenden in Fragen vollzogen, die für ihre Identität, vor allem aber für ihre Mitglieder und Anhängerschaft von großer Bedeutung waren: Bündnis 90 /Die Grünen haben sich von einer pazifistischen zu einer Partei gewandelt, die Bundeswehr-Kampfeinsätze im Ausland befürwortet und verantwortet; die PDS und später Die Linke haben ihren Frieden mit der repräsentativen Demokratie und zum Teil auch mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht; die SPD hat mit der »Agenda 2010« wohlfahrtsstaatliche Leistungen massiv zurückgeschraubt. Im Zuge dieser Kehrtwenden haben die jeweiligen Parteiführungen vehement versucht, ihre Parteimitglieder auf die neuen politischen Standpunkte – und die ihnen unterliegenden Orientierungen – einzuschwören. Besonders evident wird dies am Beispiel der Asylwende der CDU, für die Angela Merkel nicht nur deren Mitgliedern, sondern allen asylskeptischen Bürgern die Orientierung zumutete, Flüchtlinge in Deutschland willkommen zu heißen.
Schon am 31. August 2015 hatte die Bundeskanzlerin in der Bundespressekonferenz formuliert, was später zum übergreifenden Motto ihrer Erziehungskampagne wurde: »Wir schaffen das.« Damit signalisierte sie nicht nur all jenen, die skeptisch auf die steigenden Flüchtlingszahlen blickten, dass sie keineswegs an eine Abschottung Deutschlands dachte, sondern sprach der gesamten Bevölkerung zugleich Mut und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu.
Mit der Öffnung der Grenzen in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 nahm die Orientierungszumutung dann klare Konturen an: Nachdem die CDU jahrzehntelang am »Asylkompromiss« von 1993 orientiert gewesen war, der faktisch darauf hinauslief, nahezu niemanden als asylberechtigt anzusehen, forderte Merkel ihre Anhängerschaft nicht nur auf, die aus Syrien geflohenen Menschen ins Land zu lassen, sondern sie auch willkommen zu heißen. Parteiinterne Kritiker, die sich der zugemuteten Orientierung entgegenstemmten, brachte sie auf dem CDU-Parteitag desselben Jahres zum Schweigen; es gelang ihr sogar mittels kleiner Kompromisse, Widersacher einzubinden und zu »Ko-Erziehenden« zu machen. Zum Beispiel begann Paul Ziemiak, dessen Junge Union sich zunächst gegen Merkels Politik der offenen Tür gestemmt hatte, bald seinerseits die widerspenstigen Mitglieder zu überzeugen.
Eine Gelegenheit, auch über die CDU hinaus die Bevölkerung dazu zu bewegen, Flüchtlinge willkommen zu heißen, erhielt die Bundeskanzlerin in Anne Wills Sonntagsabend-Talkshow. Die Journalistin schlüpfte in die Rolle des skeptischen, die Orientierungszumutung aber nicht rundheraus ablehnenden Publikums. Als sie darauf hinwies, dass die Aufnahme der Flüchtlinge »ungeordnet« sei, gab sie Merkel auf diese Weise die Gelegenheit, nicht nur zu betonen, dass diese »nicht so gut geordnet« sei, »wie wir es wollen«, sondern auch die einzelnen Maßnahmen aufzuzählen, die die Regierung zur Verbesserung der Lage plane.
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