Heft 875, April 2022

Erziehung in der Demokratie

von Arnd-Michael Nohl

Demokratische Staaten sind in vieler Hinsicht auf entgegenkommende Handlungsbereitschaften seitens der Bevölkerung angewiesen, ohne diese vollständig per Gesetz erzwingen zu können. In der Bundesrepublik wird dies nicht nur in der Corona-Pandemie deutlich. Auch dort, wo es um die Herstellung eines breiten Konsensus in zentralen politischen Entscheidungen oder, noch fundamentaler, um Identifikation mit der Demokratie geht, vertraut man weder nur auf (gesetzlichen) Zwang noch ausschließlich auf die freie Meinungsbildung. Vielmehr kommt es hier zur nachhaltigen, sanktionsbewehrten Orientierungszumutung, gerade auch für Erwachsene, und damit zur »Massenerziehung« durch politische Akteure.1

Dass Erwachsenen in einer Demokratie Orientierungen zugemutet werden, kann überraschen. Schließlich gehen wir üblicherweise davon aus, dass zwar Kinder und Jugendliche zu erziehen seien, Erwachsene als mündige Menschen sich hingegen selbst bilden, das heißt ihre eigenen Orientierungen finden. Während politische Bildung auf dem Angebot unterschiedlicher Haltungen zu einem politischen Thema basiert und auf diese Weise die selbständige Orientierungsfindung der Bürger fördert, mutet Erziehung bestimmte Orientierungen zu. Es geht hier um eine Zumutung, weil die so Erzogenen, erstens, von alleine nicht darauf gekommen wären, sich diese Handlungsweisen zur Gewohnheit zu machen, und weil diese Handlungsweisen, zweitens, bisweilen dem Wünschen und Wollen der Menschen entgegenstehen, drittens aber auch im Sinne des Zusprechens von Mut, denn die Erziehenden trauen den zu Erziehenden zu, sich die gewünschten Orientierungen anzueignen.

Auch wenn die politischen Akteure selbst dies nicht als Erwachsenenerziehung verstehen mögen, lassen sich drei Formen von meist massenmedial lancierten Orientierungszumutungen identifizieren: die politische Erziehung, die Demokratieerziehung und die – nicht nur in der Corona-Pandemie genutzte – Gemeinwohlerziehung.2

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