Heft 846, November 2019

»etwas vorlautes widriges«Das Judenbild der Brüder Grimm

von Gerhard Henschel

Heinz Rölleke, der hochverdiente Nestor der Märchenforschung, schrieb 2007 in einem Aufsatz, man sage den Brüdern Grimm »zuweilen unbesehen, einigermaßen töricht und ganz zu Unrecht« Antisemitismus nach.1 Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Rölleke selbst Wilhelm Grimms Wiesbadener Kurtagebuch von 1833 herausgegeben hat, in dem es heißt: »Ich bemerke nur daß die Juden immer mehr überhand nehmen, ganze Tische u. Plätze sind damit angefüllt, da sitzen sie mit der ihnen eigenen Unverschämtheit, fressen Eis u. legen es auf ihre dicken u. wulstigen Lippen, daß einem alle Lust nach Eis vergeht. Getaufte Juden sind auch zu sehen, aber erst in der 5ten oder 6ten Generation wird der Knoblauch zu Fleisch.«2Auch von Jacob Grimm sind Stellungnahmen überliefert, die im Widerspruch zu Röllekes Worten stehen. »Alle Judenwörter, wenn wir sie in unserm christlichen Sprachhaushalt brauchen wollen, klingen unedel und schmutzig; sie rühren aus dem gemeinen Umgang mit dem schachernden, wuchernden, trödelnden, fleischschächenden Volke her«, erklärte Jacob Grimm 1815 in einem Sendschreiben an Herrn Hofrath –r. in dem Periodikum Friedensblätter.

In der umfangreichen Forschungsliteratur über das Leben und die Werke der Brüder Grimm sucht man jedoch vergeblich nach einer Studie über ihr Judenbild. Möchte man sich darüber Aufschluss verschaffen, ist man hauptsächlich auf die Lektüre der edierten Briefe und anderer Selbstzeugnisse angewiesen. Ende 1809 schrieb Wilhelm Grimm an die Sopranistin Louise Reichardt über die Juden: »Diesem fatalen Volk kann man gar nicht ausweichen, und es will ordentlich für gleich geachtet sein, sie würden sich längst alle in Berlin haben taufen lassen, wenn sie nicht hofften, es solle in Zukunft wohlfeiler geschehn; wer dann ein braver Christ ist, muß ein Jude werden, um nicht unter sie zu gerathen.« In einer Fußnote seiner Brüder-Grimm-Biografie hat Steffen Martus 2009 festgestellt: »Bemerkungen wie diese fallen selten, aber über die Jahre hinweg doch immer wieder.«3 Näher ist er auf dieses Thema nicht eingegangen, obwohl es einer genauen Betrachtung wert gewesen wäre.

Am Anfang ihrer Laufbahn als Philologen standen die Brüder Grimm im frühen 19. Jahrhundert vor der Aufgabe, sich in der gelehrten Welt einen Namen zu machen, ein Netzwerk gleichgesinnter Korrespondenten aufzubauen und gegen Widersacher vorzugehen, bei denen es sich in einigen markanten Fällen um Juden handelte. Von der Auseinandersetzung mit ihnen wurde Wilhelm Grimm bis in den Schlaf verfolgt. Davon kündet ein Traum, den er am 18. Juni 1810 notierte: Er habe sich mit Jacob in einem Zimmer aufgehalten, und plötzlich sei ein reich gekleideter Jude hereingekommen. »Ich sagte, wir müßten den verfluchten Juden ärgern, und wir wüßten, daß er eine Sklavin hatte, die wollten wir ihm nehmen.« Sie hätten ihn dann zum Tanzen gezwungen, und er »konnte nichts dagegen tun und ärgerte sich schwer«.4

In ihren Briefen holten die Brüder nicht zu langen Tiraden aus, aber sie flochten giftige Nebenbemerkungen über die Juden ein. An den Rechtshistoriker Paul Wigand schrieb Wilhelm Grimm im Mai 1811, dass er einmal täglich spazierengehe, »wo ich mich erstlich noch viel einsamer fühle als in der Stube, und wo ich zweitens immer viel Juden sehe, welches auch eine Arbeit ist«. Im September desselben Jahres teilte er Wigand mit, er habe ein »altes Huhn« gegessen, »das so zäh war und hartherzig wie ein alter geiziger Jude«. Jacob Grimm wiederum schrieb im Oktober 1814 aus Wien an Wilhelm, dass er bei Friedrich Schlegel »mehrerlei Leute« gesehen habe: »Einen Arzt Koreff (aus Breslau), der wie alle getaufte Juden etwas vorlautes widriges hat; den Dänen Graf Baudißin u.a. Schlegels Frau hat natürlich auch ihr jüdisches Gesicht noch.«5

Wie soll man es nennen, was aus diesen Sätzen spricht? Indignation, Reserve, Missgunst, Abscheu? Es blieb jedenfalls nicht bei privaten Unmutsbekundungen. Wie gering Jacob Grimm von den Juden dachte, geht aus einem Artikel hervor, in dem er am 27. Dezember 1814 im Rheinischen Merkur die Territorialverhandlungen des Wiener Kongresses kommentierte: »Was liegt Teutschland daran, daß Preußen eine Million Pohlen weniger hat, worunter ein Drittheil Judenseelen, ein Drittheil Franzosenseelen stecken.« Der schneidende Ton der Begriffe »Judenseelen« und »Franzosenseelen« ist heute noch spürbar.

Zwei Jahre später kolportierten die Brüder Grimm in ihren Deutschen Sagen treuherzig die Legende vom jüdischen Ritualmord an dem Christenkind Anderl von Rinn aus Tirol und beriefen sich dabei auf ein Werk des Jesuiten Jacob Schmidt. Der Umstand, dass sie »ausschließlich aus der ausführlichen Darstellung des Jesuiten zitieren und die vermeintlichen Fakten unkritisch übernehmen«, werfe »ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitsweise und die Mentalität der Brüder Grimm«, stellte der Literaturwissenschaftler Hans-Jörg Uther 1993 fest und verwies auch auf die offen zutage tretende Judenfeindschaft der nächsten Sage des Sammelwerks (Das von den Juden getödtete Mägdlein).6 Sie beginnt mit den Worten: »Im Jahr 1267 war zu Pforzheim eine alte Frau, die verkaufte den Juden aus Geiz ein unschuldiges, siebenjähriges Mädchen. Die Juden stopften ihm den Mund, daß es nicht schreien konnte, schnitten ihm die Adern auf, und umwanden es, um sein Blut aufzufangen, mit Tüchern. Das arme Kind starb bald unter der Marter und sie warfens in die Enz, eine Last von Steinen oben drauf.«

Es nimmt nach alledem nicht wunder, dass Jacob Grimm die Emanzipation der Juden als politischen Irrweg ansah. Mit Genugtuung sah er sich in Kassel Karl Borromäus Alexander Sessas judenfeindliche Theaterposse Unser Verkehr an und schrieb darüber im Januar 1817 an Paul Wigand: »Unser Verkehr wurde gegen die Juden, die es auf alle Weise zu hindern strebten, durchgesetzt und bei übervollem Hause gegeben. Die Juden stehen überhaupt, seitdem sie unklug auf völliger Gleichheit mit Christen bestanden haben, nun in ganz Deutschland weit schlechter als vor der französ. Periode.« Gegen die Gleichstellung der Juden stemmte sich auch der Jurist Friedrich Carl von Savigny, der ehemalige Lehrer der Brüder Grimm. Er wirkte 1816 an einem Gutachten mit, das der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt am Main die in französischer Zeit gewährten Bürgerrechte wieder absprach, und erhielt dafür im Juli 1817 ein briefliches Lob von Jacob Grimm: »Doch hat mir Ihr Gutachten gegen die frankfurter Juden große Freude gemacht, der Ausführung wegen und des wichtigen Erfolgs.«

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