Heft 855, August 2020

Exkursion ins Hinterland

von Kris Decker

Das Material mancher Wissenschaften der Gegenwart ist so gewöhnlich, dass man es kaum für erwähnenswert hält. Weder ist es stofflich frappant, noch sind seine Verwendungsweisen besonders vielfältig. Es zieht eher eine lokale als eine Globalgeschichte hinter sich her, ist nur für wenige Fachgebiete von Bedeutung, liegt zumeist herum, ohne gebraucht zu werden. Vielleicht ist es auch längst ausrangiert worden und führt eine vergessene Existenz in den Schubladen irgendwelcher Büros oder in den Kellern irgendwelcher Institute. Häufig handelt es sich um Material aus Papier, mit Buchstaben drauf. Bekommt man es zu Gesicht, ist ihm aufgrund seines Allerweltscharakters nicht anzusehen, dass es einst zum Gegenstand epistemischer Leidenschaften wurde.

Zum Beispiel die Aktenordner, Format A3, im Regal eines Forschers, der Hitzeextreme, Dürren, Kälteeinbrüche und Hochwasserereignisse studiert, wie sie sich in Mitteleuropa im Lauf der Jahrhunderte zugetragen haben. In den Ordnern finden sich etliche Abschriften aus Ernteregistern, Stadtchroniken, Klosterdiarien und anderen Schriftquellen, zusammengetragen aus Bibliotheken und Archiven, die der Forscher auf der Suche nach klimahistorischen Anhaltspunkten durchforstet hat. Sein Metier, die Historische Klimatologie, ist mittlerweile digital geworden und hat die Aktenordner in eine computerbasierte Infrastruktur verschoben.

Aufbewahrt wird ein Teil des Papiermaterials dennoch, steht griffbereit, um als Schatz aus analoger Zeit der gelegentlichen Besucherin vorgeführt zu werden. Der Baumringforscherin etwa, die erst noch überzeugt werden muss, dass aus Schriftquellen robuste Erkenntnisse zum Temperaturverlauf während der letzten circa 1200 Jahre entstehen können. Oder dem Wissenschaftsbeobachter, der sich für das klimatologische Alltagsgeschäft, für die Denkweisen und das Handwerk der Forscher an ihren Schreibtischen interessiert und der als Kuriosum am Institut umherirrt.

Was mich umtreibt, seitdem ich der Arbeit von Klimatologen aus der Nähe begegne: Wie lässt sich über die Klimaforschung nachdenken, ohne sie sofort als Faktenmaschine zu verstehen, die Antworten produziert auf Fragen von planetarischer Bedeutung? Ohne sie in den Parolen der Klimastreiks untergehen zu lassen? Was trägt sich jenseits der klimapolitischen Kampfzonen zu, im wissenschaftlichen Hinterland, wo andere Dinge von Belang sind als in den aktivistischen, journalistischen, parlamentarischen Zentren der Klimadebatte?

Beim Kartieren des Hinterlands stoße ich zunächst auf zerklüftetes Terrain. Diverse Klimatologenkulturen haben sich dort angesiedelt und sind – inmitten ihrer Techniker und Hilfskräfte – mit der Hebung, dem Transport, der Aufbewahrung und Auswertung ihrer Forschungsmaterialien beschäftigt. Eisbohrkerne, Baumringe, Algen, Korallen, Seesedimente, Stalagmiten und eben Archivmaterial bilden die Grundlage für Erkenntnisse zum wilden Schwanken des Klimas über Zeiträume, die von Jahrzehnten zu Jahrhunderttausenden reichen. Weit hinter den Beginn der Industrialisierung, bei der die aus der Zeitung bekannten Kurven von CO2 und Temperatur ansetzen.

Angesichts der interglazialen Zyklen, die Eiskernforscher in ihrem Material zu erkennen versuchen, erscheint ein auf Archivmaterial beruhender Abriss über das sogenannte Spörer-Minimum, das sich in den 1430er Jahren durch außergewöhnlich tiefe Temperaturen und einen Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Produktion in Europa auszeichnete, als klimahistorischer Wimpernschlag.1

Auch sonst passen Schriftquellen nicht recht in die Reihe klimawissenschaftlicher Materialien, die aus den Tiefen der Wälder, der Böden, des Eises, der Gewässer und der Tropfsteinhöhlen befördert werden. Schweres Gerät brauchen Schriftgutforscher keines, um sich den Wetterdiarien mittelalterlicher Mönche widmen zu können. Dafür ein umso feineres, historisch geschultes Interpretationsinstrumentarium. Dass sie zur Materialbeschaffung nicht in die Wildnis aufbrechen, sondern auch im Stadtarchiv ums Eck fündig werden, macht die Schriftgutforscher auf klimatologischem Gebiet zu Ausnahmeerscheinungen.

Während Archivmaterial für Historikerinnen (und Geisteswissenschaftler ganz allgemein) nichts Besonderes ist, vielleicht für Schulterzucken sorgt, wird dieses Material in einem naturwissenschaftlich geprägten Milieu mal mit Erstaunen und mal mit Bestürzung begrüßt: von Menschen gemacht; kulturelle Überlieferung; ominös. Der Klimaforscher mit den Aktenordnern berichtet von seiner Erfahrung, »dass die harten Naturwissenschaftler das nicht nur kritisch sehen, sie missachten das. Sie sagen, das kann nicht stimmen, das kann nicht sein. Das ist subjektiv. Interpretation von Text. Das ist etwas subjektiv Geschriebenes, das kann nie objektive Qualität erreichen. Das war und ist der Reflex.«

Dem stehe der Status der Materialien aus der Wildnis gegenüber: »Sie können mit naturwissenschaftlichen Verfahren erschlossen werden, dadurch wirken sie für einen weiten Kreis der Community als authentischer. Eiskerne zum Beispiel. Da ist eine Mordstechnik dahinter, da sind Spektrometer, da sind Densitometer bei den Dendrodaten. Da wird etwas gemessen […] Die Wertigkeit, die Validität der Daten ist an sich schon in einer anderen Skale«, erzählt der Klimaforscher, der ebenso in der Physischen Geographie zuhause ist, während eines unserer Gespräche. Seit seinen Arbeiten zur Klimarekonstruktion für Mainfranken, Bauland und Odenwald seit 1500 ist er den Aufzeichnungen von Stadtschreibern, Buchhaltern, Weinbauern und Mönchen treu geblieben, Schriftstück um Schriftstück, Datensatz um Datensatz.2 Wie viel Chuzpe es dafür bedurfte?

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