Exkursion ins Hinterland
von Kris DeckerDas Material mancher Wissenschaften der Gegenwart ist so gewöhnlich, dass man es kaum für erwähnenswert hält. Weder ist es stofflich frappant, noch sind seine Verwendungsweisen besonders vielfältig. Es zieht eher eine lokale als eine Globalgeschichte hinter sich her, ist nur für wenige Fachgebiete von Bedeutung, liegt zumeist herum, ohne gebraucht zu werden. Vielleicht ist es auch längst ausrangiert worden und führt eine vergessene Existenz in den Schubladen irgendwelcher Büros oder in den Kellern irgendwelcher Institute. Häufig handelt es sich um Material aus Papier, mit Buchstaben drauf. Bekommt man es zu Gesicht, ist ihm aufgrund seines Allerweltscharakters nicht anzusehen, dass es einst zum Gegenstand epistemischer Leidenschaften wurde.
Zum Beispiel die Aktenordner, Format A3, im Regal eines Forschers, der Hitzeextreme, Dürren, Kälteeinbrüche und Hochwasserereignisse studiert, wie sie sich in Mitteleuropa im Lauf der Jahrhunderte zugetragen haben. In den Ordnern finden sich etliche Abschriften aus Ernteregistern, Stadtchroniken, Klosterdiarien und anderen Schriftquellen, zusammengetragen aus Bibliotheken und Archiven, die der Forscher auf der Suche nach klimahistorischen Anhaltspunkten durchforstet hat. Sein Metier, die Historische Klimatologie, ist mittlerweile digital geworden und hat die Aktenordner in eine computerbasierte Infrastruktur verschoben.
Aufbewahrt wird ein Teil des Papiermaterials dennoch, steht griffbereit, um als Schatz aus analoger Zeit der gelegentlichen Besucherin vorgeführt zu werden. Der Baumringforscherin etwa, die erst noch überzeugt werden muss, dass aus Schriftquellen robuste Erkenntnisse zum Temperaturverlauf während der letzten circa 1200 Jahre entstehen können. Oder dem Wissenschaftsbeobachter, der sich für das klimatologische Alltagsgeschäft, für die Denkweisen und das Handwerk der Forscher an ihren Schreibtischen interessiert und der als Kuriosum am Institut umherirrt.
Was mich umtreibt, seitdem ich der Arbeit von Klimatologen aus der Nähe begegne: Wie lässt sich über die Klimaforschung nachdenken, ohne sie sofort als Faktenmaschine zu verstehen, die Antworten produziert auf Fragen von planetarischer Bedeutung? Ohne sie in den Parolen der Klimastreiks untergehen zu lassen? Was trägt sich jenseits der klimapolitischen Kampfzonen zu, im wissenschaftlichen Hinterland, wo andere Dinge von Belang sind als in den aktivistischen, journalistischen, parlamentarischen Zentren der Klimadebatte?