Heft 875, April 2022

Filmkolumne

Mommy Media von Elena Meilicke

Mommy Media

Vor kurzem bin ich beim Anblick eines Säuglings in Tränen ausgebrochen. Ich war im Netz auf Fotos der neuseeländischen Ministerpräsidentin Jacinda Ardern gestoßen, die 2018 zu einer Rede vor der UN-Vollversammlung in New York ihre damals drei Monate alte Tochter mitgebracht hatte. Während Ardern ihren Job machte und ihre Rede hielt, saß ihr Partner auf dem Zuschauerrang und kümmerte sich um das Baby. Jacinda Ardern makes history titelte der Guardian, auch andere Zeitungen berichteten wohlwollend.1 Mir hingegen machten die Bilder von dem plumpen Säugling, der umgeben von Staatsvertretern (und Staatsvertreterinnen) bei der UN saß, schlagartig und schmerzlich klar, wie sehr der Ausschluss von kleinen Kindern und Müttern aus jenen Bereichen, in denen Wichtiges gedacht, gesprochen, verhandelt wird, für mich Normalität war. Ich hatte das Gebot internalisiert: Im öffentlichen Leben haben kleine Kinder nichts zu suchen und folglich auch jene nicht, die sich um sie kümmern. Diese Selbstverständlichkeit erschüttert zu sehen, brachte mich aus der Fassung, kurz blitzte die Möglichkeit einer anders organisierten Welt auf; und in meinen Tränen steckte die ganze Erschöpfung der letzten Jahre, als ich unter Aufbietung aller Kräfte versucht hatte, zwei Leben in einem zu führen – meinen Beruf zu verfolgen und obendrein, aber gefühlt fein säuberlich getrennt davon, ein Kind zu haben.

Von einer, die aus dieser Zerreißprobe krasse Konsequenzen zieht, erzählt der Spielfilm The Lost Daughter von Maggie Gyllenhaal, der nach einem kurzen Kinostart in den USA Ende Dezember 2021 auf Netflix veröffentlicht wurde. Gyllenhaals Regiedebüt (sie hat auch das Drehbuch geschrieben und dafür in Venedig einen Preis bekommen) ist die Verfilmung von Elena Ferrantes Roman La figlia oscura von 2006. Ferrante gilt als Autorin, in deren Werk Mütter und Töchter einen zentralen Platz einnehmen und die immer wieder idealisierte Klischees von Mutterschaft auseinandernimmt.2 Auch in The Lost Daughter geht es um eine Frau, die mit dem Mutter-Sein hadert und den ultimativ unmütterlichen Akt begeht: Sie verlässt ihre Kinder.

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