Flecken im Innern ohne Staub und Schlaf
Clarice Lispectors posthumanistische Märchen von Johanna NuberClarice Lispectors posthumanistische Märchen
Es ist eine recht einfache Geschichte, die der Umschlag von Clarice Lispectors Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau erzählt. Der zwanghafte Verweis auf die Weiblichkeit der Autorin gehört dazu: eine schreibende Frau Mitte des vergangenen Jahrhunderts, berüchtigt für ihre Schönheit und Brillanz, eine Ikone der écriture féminine. Da darf das Attribut »geheimnisvoll« nicht fehlen, offenbar liegt weibliches Schreiben auch im Oktober 2019 noch immer ganz nah an den Instinkten und möglichst weit entfernt von Logik und Rationalität. Den Höhepunkt der paratextuellen Rahmenerzählung um den ersten Band von Lispectors gesammelten Erzählungen bildet jedoch das Urteil ausgerechnet Karl Lagerfelds, dem der nicht völlig unangebrachte, aber hoffnungslos abgegriffene Vergleich mit Virginia Woolf in den Mund gelegt wird. Ob Lagerfeld seine dreihunderttausend Bücher nun wirklich gelesen hat oder nicht – der Verdacht liegt nahe: Die Worte eines Modedesigners als kaufanregende Eloge einzusetzen, das passiert auf dem Niveau gefeierter Jahrhundertliteratur nur einer Autorin.
Benjamin Moser, Herausgeber des erzählerischen Gesamtwerks auf Englisch und Brasilianisch, ist wohl derjenige, der am aktivsten gegen eine »single story about Clarice« oder gar das Vergessen der Autorin arbeitet, die in diesem Jahr ihren hundertsten oder, ginge es nach ihr selbst, ihren fünfundneunzigsten Geburtstag gefeiert hätte. Moser besucht in seiner Biografie Why This World Clarice Lispectors reale und imaginäre Orte, skizziert Beziehungskonstellationen zur Familie, zu literarischen und intellektuellen Zirkeln, zu Brasilien, zu ihr selbst – kurz, ihren Platz in der Welt, von dem aus ihre spektakulären literarischen Weltentwürfe geboren wurden.
Er reist zurück in die Ukraine, wo Clarice mit dem Namen Chaya als drittes Kind jüdischer Eltern auf der Flucht vor Pogromen die Dunkelheit der Welt erblickte, und spürt Verbindungen zwischen ihrem Schreiben, jüdischem Mystizismus und spinozistischer Philosophie nach. Während weite Teile der brasilianischen Literaturkritik Lispectors eigentümlichen Umgang mit der portugiesischen Sprache im Rückgriff auf Exilgeschichte und »eigentliche Herkunft« erklären, verstand sie sich selbst fraglos als brasilianische Schriftstellerin, und begriff Rio de Janeiro, auch in ihren frühen nomadischen Lebensjahren an der Seite des Diplomaten-Ehemannes, immer als ihr Zuhause. Und schließlich ergründet der Biograf, wodurch das notorische Oszillieren der Autorin zwischen radikaler Bescheidenheit und extremer Ambition in Hinblick auf das, was sie nüchtern »bloß Literatur« nennt, angestoßen wird.
Mosers Biografie verschleiert zu keinem Zeitpunkt seine nicht ganz objektive Faszination und Liebe für Werk und Person. Sie versammelt die Klischees – die hermetische Sphinx mit der mystischen Aura, die glamouröse Schönheit, die launische Depressive –, trennt sie fein säuberlich voneinander, verwirft und widerlegt die meisten und setzt die verbleibenden zu einer neuen Clarice-Collage zusammen. Dessen ungeachtet lebt der Mythos vom »literarischen Hexenwerk« weiter, und daran sind Mosers Biografie und Artikel, bei all ihrer Feinsinnigkeit, nicht ganz unschuldig. Er selbst führt im Vorwort zur brasilianischen Ausgabe der Erzählungen auf, dass die meisten großen männlichen Schriftsteller ungefragt mit ihren unsterblichen Werken in Verbindung gebracht werden. João Guimarães Rosa zum Beispiel verkörpere immer zuallererst die Grande Sertão anstatt schlicht einen schreibenden Mann. Denkt man jedoch an Clarice Lispector, so Mosers fragwürdiger Schluss, denkt man trotz ihrer literarischen Genialität immer zuerst an Clarice Lispector, die Frau.
Was war zuerst da: Henne oder Ei? Clarice, die Frau und Ikone der Weiblichkeit und des weiblichen Schreibens, oder ihr Werk, etwa die berühmte Passion nach G. H., Auslöser aller Kafka-Vergleiche, oder ihr meisterhafter, letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Kurzroman Der große Augenblick? Was war zuerst da: die identifikatorische Rezeption, die die Texte auf eine »unbestimmte sentimentale Anwandlung« einer weiblichen Stimme reduziert, oder die intellektuelle, essentialisierende second-wave-feministische Rezeption durch Autorinnen wie Hélène Cixous oder Adriana Cavarero?
Henne und Ei sind zwei der am häufigsten wiederkehrenden Elemente in Lispectors fiktionalem Kosmos. Schon in ihrem Debütroman Nahe dem wilden Herzen (1943), später in ihrem philosophisch raunenden poetischen Manifest Agua Viva (1973), bis hin zu ihren Erzählungen und journalistischen crônicas, die formal und stilistisch oftmals kaum voneinander zu unterscheiden sind, legen Lispectors Hühner und Eier die Frage nach Ursprung und Folge bedenkenlos hinter sich ab. Mit etwas zwischen »Apathie und Schreckhaftigkeit« wird das Wesen lebendiger Materie in spinozistischer Weise als allumfassend und unendlich registriert: »›Usw. usw. usw.‹ gackerte die Henne den ganzen Tag.« Davon zeugt insbesondere die Erzählung O ovo e a galinha (Die Henne und das Ei), die in antinarrativem Dada in jedem neuen Satz ein neues Paradox eröffnet – die einzige Erzählung, die der Autorin selbst, wie sie im einzigen je gegebenen Fernsehinterview nüchtern behauptet, für immer unverständlich geblieben ist. Schon im Text aber wird die Erzählerstimme des Rätsels der Existenz, der schreibenden Existenz, gewahr, wenn sie begreift, »dass ich nur ein Mittel bin und kein Zweck«, dem die Lebensrätsel statt Hindernissen eine »schelmische Freiheit« eröffnen.