Heft 861, Februar 2021

Frankreich nach dem Tod von Samuel Paty

Interview mit Peter Schöttler von Andreas Häckermann

Interview mit Peter Schöttler

Der Mord an Samuel Paty und der Anschlag in Nizza haben die Gemüter in Frankreich in helle Aufregung versetzt. Das Diskussionsklima ist polemisch bis über die Schmerzgrenze hinaus, die Rhetorik häufig geradezu feindselig. Das dürfte indes nicht nur durch die schockierende Vorgehensweise der Täter zu erklären sein. Seit den Anschlägen vom Januar 2015 und November 2016 hat sich die seit dem Aufstieg des Rassemblement National (ehemals Front National) und der Regierung Sarkozy ohnehin starke Polarisierung der politischen Szenerie noch einmal zugespitzt – nicht zuletzt auch, Stichwort Gelbwesten, aufgrund der Sozialpolitik der Regierung Macron. Peter Schöttler, ehemaliger Directeur de Recherche am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, ist Experte für die Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert und seit Jahrzehnten mit den dortigen Entwicklungen bestens vertraut. Die derzeitige Zuspitzung hält er für eng verwoben mit Umständen, die weit über Auseinandersetzungen um den islamistischen Terrorismus hinausreichen.

ANDREAS HÄCKERMANN: Herr Schöttler, in kurzen Abständen trafen im Herbst 2020 erneut Nachrichten von Gewalttaten in Frankreich ein. Anders als früher gab es offenbar auch ein versuchtes »Vergeltungsattentat« eines Rechtsextremisten in Avignon. Beobachter befürchten, dass das Kalkül der Islamisten aufgehen und die Situation zunehmend eskalieren könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?

PETER SCHÖTTLER: Ehrlich gesagt: Ja. Aber es geht dabei nicht nur um das Kalkül der Islamisten – ich lasse diesen Kollektivbegriff mal stehen, obwohl man ihn analytisch differenzieren müsste –, sondern ebenso um das Kalkül der Regierung, die ja keineswegs neutral und passiv ist. Und vor allem geht es um das Kalkül der französischen Rechten und Rechtsradikalen. Denn Letztere schwärmen ja genauso wie die Islamisten von einem »Kampf der Kulturen«, den sie durch immer neue überraschende Aktionen vorantreiben wollen. Fanatisierte Moslems wünschen sich ebenso wie fanatisierte Nationalisten und Antieuropäer eine Verschärfung der innen- und außenpolitischen Spannungen. Beide Seiten sehnen sich nach Krieg und Bürgerkrieg, beide betrachten sowohl die Demokratie westlichen Typs als auch die EU als transnationales, multiethnisches und multireligiöses Projekt als ihre Feinde.

Das mag etwas paradox erscheinen, weil die Rechtsradikalen ja immer behaupten, gegen den Islam beziehungsweise seine Präsenz in Europa zu kämpfen – Sichtwort »Pegida«. Doch de facto verdanken die Rechten dem Islam und seinen am stärksten fanatisierten Anhängern einen Großteil ihrer Wähler. Überhaupt haben sie politisch und mentalitätsmäßig vieles gemeinsam: Denken Sie nur an die aggressiven Massenaufmärsche, an den Führerkult und an die Emotionalisierung von Symbolen (Bilder, Fahnen, Kleidung usw.). Auf beiden Seiten handelt es sich also um Phänomene, die man mit Eric Voegelin als »politische Religion« bezeichnen könnte.

Damit sprechen Sie einen Begriff an, der ja auch in der Nationalismus-Forschung viel diskutiert worden ist. Moderate bis linke kritische Stimmen werden in Frankreich derzeit von allen Seiten gedrängt, sich zu den Werten der Republik zu bekennen. Die Stimmung wirkt erneut aggressiv.

In der Tat ist die Debatte jetzt besonders aufgeheizt, weil diese schrecklichen Morde leider nicht ganz überraschend kamen und weil das Verhalten sowohl der französischen Regierung als auch der Medien nicht wenig zur weiteren Aufheizung beiträgt.

Wie meinen Sie das?

Von Deutschland aus betrachtet wird der krisenhafte Kontext der jüngsten Ereignisse oft übersehen. Allenfalls erinnert man sich, dass es in Frankreich schon häufiger terroristische Angriffe gab. Und dann fällt sofort das Stichwort »Banlieues«. Dabei kam der Mörder von Nizza direkt aus Nordafrika, und auch der Mörder von Samuel Paty war aus einer tschetschenischen Flüchtlingsfamilie – also kein »Franzose mit Migrationshintergrund«.

Nein, die Situation ist so aufgeheizt, ja vergiftet, weil diese Morde in einer tief gespaltenen Gesellschaft stattfinden, die sich seit mehreren Jahren im polizeilichen Ausnahmezustand befindet. Und das ist keineswegs eine Metapher. Sehr viele Franzosen sind wütend, sind erregt, haben lautstarke Forderungen. Aber nicht etwa im Sinne von »Rache«, Frankreich ist eben nicht »Sizilien«. Pogrome gegen Migranten oder bestimmte Wohnviertel sind bis heute undenkbar. Auch wenn es manchmal, wie jetzt in Avignon, zu rechtsradikalen Anschlägen kommt oder zu aggressiven rechtsradikalen Aufmärschen wie in Nizza.

Im Übrigen hängt die Aufheizung und Verfahrenheit der Situation, zumindest aus meiner Sicht, mit strukturellen Problemen zusammen, die sich nur schwer und nicht kurzfristig lösen lassen. Man muss in Deutschland immer daran erinnern, dass Frankreich keine parlamentarische Demokratie im strengen Sinn ist. Die Fünfte Republik ist eine Präsidialdemokratie, der Präsident besitzt eine ungeheure Macht. Das bikamerale Parlament wird nicht, wie in Deutschland, nach Verhältniswahlrecht gewählt und hat eine schwache, im Grunde nur legitimierende Funktion. Zudem werden die Abgeordneten kurz nach der Präsidentenwahl gewählt, so dass die Mehrheit in der Regel die »Wahlkampfpopularität« des vorher gewählten Präsidenten widerspiegelt, noch bevor er die Bevölkerung mit seiner realen Politik konfrontiert hat. Und eine mid-term-Wahl wie in den Vereinigten Staaten, in der sich Kritik artikulieren könnte, gibt es nicht. Insofern ist es auch hochsymbolisch, dass der französische Präsident tatsächlich nie im Abgeordnetenhaus oder im Senat erscheint. Er muss sich also nie den Fragen der Volksvertreter stellen.

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