Heft 865, Juni 2021

Gab es ihn doch, den deutschen Sonderweg?

Anmerkungen zu einer Kontroverse von Heinrich August Winkler

Anmerkungen zu einer Kontroverse

Totgesagte leben länger, so heißt es. Offenbar gilt das auch für die Denkfigur eines »deutschen Sonderwegs« in die Moderne. Endlich, so jubelten schon vor gut vier Jahrzehnten konservative Publizisten, sei die Legende vom Sonderweg der Deutschen, ihrer notorischen Abweichung vom angeblich normalen Entwicklungspfad der westlichen, zumal der angelsächsischen Völker hin zu Freiheit und Demokratie der Garaus gemacht worden, und zwar ausgerechnet durch zwei junge, eindeutig linke englische Historiker, nämlich David Blackbourn und Geoff Eley in ihrem 1980 erschienenen Buch Mythen deutscher Geschichtsschreibung.1 Sie hätten, so formulierte es Eberhard Straub in der Frankfurter Allgemeinen vom 27. Januar 1981, die Deutschen von ihren »eingebildeten Leiden« befreit.

Seit 1980 hört und liest man die Behauptung von der Widerlegung der »Sonderwegsthese« immer wieder, und das keineswegs nur von konservativen Debattenteilnehmern. Blackbourn und Eley hätten die »Sonderwegsthese auf das Abstellgleis historiografischer Thesen befördert«, schrieb unlängst der in Cambridge forschende deutsche Historiker Oliver Haardt in der Süddeutschen Zeitung. Die These vom deutschen Sonderweg gelte mittlerweile als weithin unhaltbar.2

Das wissenschaftliche Fundament der Intervention von Haardt ist sein 2020 erschienenes Buch Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Anders als es der Untertitel nahelegt, ist das voluminöse, aus einer von Christopher Clark betreuten Dissertation hervorgegangene Werk nicht etwa eine Gesamtgeschichte des Kaiserreichs, sondern eine Verfassungsgeschichte der Jahre 1867 bis 1918 im weiteren, den stillen Verfassungswandel und die Verfassungswirklichkeit einbeziehenden Sinn. Dem Anspruch einer Neuinterpretation wird Haardt am stärksten in den Abschnitten gerecht, in denen er vom Bedeutungsverlust des föderativen Verfassungsorgans, des Bundesrates, handelt. Ansonsten überwiegt das, was aus den zum Teil ausgiebig zitierten, zum Teil nicht zur Kenntnis genommenen Schriften anderer Autoren hinlänglich bekannt ist.

Die These von einem deutschen Sonderweg weist Haardt unter Berufung auf Blackbourn und Eley entschieden zurück. Was er ihr entgegensetzt, ist aber nichts anderes als die These von einem föderalistischen deutschen Sonderweg contre la lettre. Es war demnach die »mission impossible«, das Unvermögen, die konstitutionelle Monarchie in Form des Bundesstaates von 1871 evolutionär weiterzuentwickeln, was Deutschland substantiell von anderen Verfassungsstaaten, auch von anderen Bundesstaaten wie den USA und der Schweiz, unterschied und die weitere deutsche Geschichte belastete, ja in Gestalt einer verbreiteten Antipathie gegen den Föderalismus wesentlich zum Scheitern der Weimarer Republik und zum Erfolg der Nationalsozialisten beitrug. Von grundsätzlichen deutschen Vorbehalten gegenüber der westlichen Demokratie ist bei Haardt hingegen keine Rede.

Eine andere, inzwischen vielbeachtete Stimme im Chor der Kritiker der Sonderwegsthese ist die der Historikerin Hedwig Richter, Professorin an der Universität der Bundeswehr in München. 2017 legte sie ihr drei Jahre später mit dem Anna Krüger Preis für gute und verständliche Wissenschaftssprache ausgezeichnetes Buch Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert vor. Anders als Haardt schöpft sie in breitem Umfang aus archivalischen Quellen, und zwar aus deutschen wie aus amerikanischen. Die Einzelbefunde zu beiden Ländern sind meist überaus sprechend, das Ergebnis aber nicht überraschend: Im Zuge der Erweiterung des Wahlrechts gab es zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten zahlreiche Parallelen. Eine Bilanz der dabei aufgetretenen Missstände fällt zu Lasten der USA aus: Wahlfälschungen, Korruption, Gewalt, Alkohol und Rassismus spielten im Mutterland der modernen Demokratie eine größere Rolle als im Königreich Preußen. Von den Vorkämpfern des »progressive movement« um 1900 heißt es sogar: »Man kann fast sagen, die Reformer bemühten sich um preußische Verhältnisse in den USA«.

Die Sonderwegsthese scheint damit ad absurdum geführt. Das deutsche Bürgertum war laut Richter auch im europäischen Vergleich »nicht besonders rückständig und adelshörig, die deutsche Gesellschaft nicht besonders militarisiert, die deutschen Liberalen erwiesen sich nicht als singuläre Verräter an der fortschrittlichen Sache, der Kulturpessimismus war nicht tiefer verwurzelt als in anderen Ländern«. Leider spielen europäische Länder bei Richter nur eine geringe Rolle. Dabei wäre ein Vergleich zwischen Preußen und England angesichts vieler struktureller Gemeinsamkeiten sehr viel erhellender gewesen als der zwischen Pommern und South Carolina, Berlin und New York, den regionalen Schwerpunkten der Arbeit. Angesichts der fundamental verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die von Richter zwar nicht ignoriert, aber doch weithin vernachlässigt werden, sind die Folgerungen, die sie aus ihrer Untersuchung von Wahlpraktiken zieht, im Großen und Ganzen vorgezeichnet. Die Reduzierung von westlicher Demokratie auf Massenmobilisierung und allgemeine Wahlen erweist sich als petitio principii.

Zum vermeintlich entscheidenden Schlag gegen die Sonderwegsthese holt Hedwig Richter aber erst in ihrem neuen, im Herbst 2020 vorgelegten, in einigen Medien hochgelobten, in anderen scharf kritisierten Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre aus.3 Die Botschaft klingt tröstlich: Schon seit dem 18. Jahrhundert haben sich die Deutschen auf die Demokratie hin entwickelt; sie bedurften dazu keiner Beihilfe westlicher Nationen; sie waren diesen vielmehr in vielen Bereichen wie dem Wahlrecht oft weit voraus; was man den Deutschen an Obrigkeitshörigkeit, Militarismus und Antisemitismus vorhalten kann, das gab es weiter westwärts genauso. Das von Bismarck vor einhundertfünfzig Jahren gegründete deutsche Kaiserreich erscheint aus dieser Sicht als ein ganz überwiegend fortschrittliches Kapitel der neueren deutschen Geschichte. Die späte Parlamentarisierung im Oktober 1918 wird denn auch von Richter als Werk der »progressiven Kräfte«, obenan der Sozialdemokraten, dargestellt. Kein Wort von der ausschlaggebenden Rolle der Obersten Heeresleitung um Ludendorff und Hindenburg, die damit die Verantwortung für die Niederlage den friedensbereiten Mehrheitsparteien des Reichstags zuschieben wollte.

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