Heft 879, August 2022

Gefährtinnen

von Nicola Denis

Ein Foto mit der Aufschrift Rosenmontag 1971 zeigt zehn Personen um den runden Tisch und auf dem roten Sofa, die betont heiter oder aber mit authentischer Skepsis in die Kamera blicken und vermutlich soeben Hannes Zitronenkrem verspeist haben: die meisten mit einem kuriosen Kopfschmuck, mein Vater, einer von nur zwei Männern, sogar mit einer schwarzen Langhaarperücke. Ein, zwei Masken baumeln von einer Stehlampe, Hanne sitzt mit einer vorgebundenen Schürze, von der nicht auszumachen ist, ob sie Teil der Verkleidung ist, vorne links, die Tür zur Küche direkt im Rücken, die Hände tatenbereit auf die Knie gestützt. Vierzehn Jahre später ein weiteres Foto, Fastnachtsdienstag, das auf dem kleinen Balkon der Röckenwiesenstraße entstanden ist. Hanne, wieder mit einer Schürze oder vielmehr einem großen Geschirrtuch um die Taille, hat sich einen roten Schal um den Hals geschlungen und lacht unter einem verdächtig schimmernden Zylinder spitzbübisch in die Kamera. Eingehakt steht sie neben einer älteren Dame mit schwarzer Haube, die unter den verschränkten Händen dezent einen weiten gemusterten Rock zusammenhält, während auf der gestreiften Häkelstola silbern ein Exemplar der Ellwanger Kette blitzt. Die Fastnachtsbesucherin war eine Tante aus der Mutterfamilie, die ebenfalls in Stuttgart wohnte und offenbar, was mir erst dieses Foto verriet oder wieder in Erinnerung brachte, Kontakt zu ihren entfernten Verwandten in der Röckenwiesenstraße pflegte.

Tante Trudel wohnte in einem mir als Kind stattlich erscheinenden Haus am Killesberg, der mir mit seinem ulkigen Namen immer sympathisch war. Während der Ostertage fuhr ich regelmäßig mit meiner Mutter vom Hauptbahnhof aus mit dem Bus auf die nördliche Anhöhe, wo Tante Trudel uns zum Mittagessen mit Maultaschen bekochte, als bekennende Gehfaule eine generationenübergreifende Mittagsruhe verordnete und zum anschließenden Kaffee Stuttgarter Wibele und Zuckerhasen servierte. Allein die Maultaschen hätten gereicht, mich wunschlos glücklich zu machen, aber auch die trägen, grün gepolsterten Familienmöbel aus Ellwangen, die Malstifte, mit denen sie mich versorgte, schufen ein Gefühl von Behaglichkeit. Auch meine Mutter wirkte im Beisein ihrer Tante, deren gefürchtete Belehrsucht sich im Laufe der Jahre gelegt und vor den Großneffen und -nichten haltgemacht zu haben schien, weitgehend entspannt. In den Stuttgarter Zuckerhasen, die es zu meiner Zeit in Rot und Braun gab, noch nicht, wie inzwischen auch, in Grün, steckten Unmengen an Farbstoff, Rahm und natürlich Zucker. Die Ziehharmonika spielenden, Roller fahrenden oder Kiepen schulternden Hasen waren aus traditionellen, gusseisernen Formen geschlüpft, die zum Teil noch, wie die Tante, aus dem 19. Jahrhundert stammten. Im Mund zersplitterten und zergingen sie, die Karamellhasen ganz besonders, wie kleine Glückskugeln. Mit den Stuttgarter Wibele, winzig und trocken, gänzlich fettfrei, tat ich mich deutlich schwerer. Eine grüne Blechdose mit der Aufschrift »Echte Langenburger Wibele«, die es bis in die Celler Küchenschränke geschafft hatte, verwies unmissverständlich auf den namensgebenden Herrn Wibel im goldenen Scherenschnittprofil. Dennoch hatten die angeblich als Schuhsohlen oder Doppelpunkte gedachten Formen eine verdächtige Nähe zu hellhäutigen Brüsten, und der Weg schien nicht weit vom Wibele zum Weibchen.

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