Große Mehrheit, was nun?
Nach der Wahl in Großbritannien von James ButlerKeir Starmer ist jetzt das zentrale Faktum der britischen Politik. Es ist ihm gelungen, eine außergewöhnliche Mehrheit zu erreichen. Seine Vorlieben und Commitments werden das Land formen. Eine Welle des Ekels über den Konservatismus hat ihn an die Regierung gebracht. Die Sehnsucht nach einem Wechsel hat sich sozialdemokratisch gekleidet, aber der Ekel richtet sich gegen das ganze System: Die gesunkene Wahlbeteiligung und der Erfolg der unabhängigen Pro-Gaza-Kandidaten, der Grünen und von Nigel Farages Reform-Partei lassen eine weit stürmischere erste Amtszeit erwarten, als man noch vor nicht allzu langer Zeit vermutet hätte.
Es wäre ohnehin lächerlich, wollte Starmer zum Antritt einfach strahlenden Optimismus verbreiten. Wenn das ein Neubeginn ist, dann ein sehr ungewisser. Starmer hat immer wieder auf seine einfache Herkunft und seine Jedermann-Eigenschaften hingewiesen, er ist aber auch jemand, der Festlegungen ausweicht und seine Ansichten wechselt. Sein Wahlmanifest hat »Wechsel« versprochen, aber wirklich festgelegt hat er sich in nur wenigen Punkten.
Anders als Tony Blair erbt Starmer ein kaputtes und dysfunktionales Land. Wo Blair auf einem Boom surfen und von einer friktionslosen, im Zeichen der Ökonomie vereinten Welt träumen konnte, steckt Starmers Großbritannien in einer Dauerkrise fest, ist ökonomisch halbtot und von einem tiefen – wenngleich gut begründeten – Zynismus erfasst, was die Politiker und die Fähigkeit des Staats zur Verbesserung des Lebens der Menschen betrifft.
In der Wahlnacht fand die so lange aufgeschobene Schadenfreude endlich ihr Ziel: die Vernichtung von Liz Truss, die Auslöschung von Rees-Mogg, das Aus des ehemaligen Innenministers Grant Shapps. Aber für wirkliche Freude waren zu viele der Verantwortlichen für das kaputte Britannien schon nicht mehr dabei. Der Sieg von Labour schien schon so lange unvermeidlich, dass man die Plötzlichkeit und den Umfang des Wandels leicht unterschätzt – und auch den Impuls der Ermutigung, der für Labour davon ausgehen sollte. Boris Johnson hatte die Wahl 2019 mit einer Mehrheit von 80 Sitzen und 44 Prozent der Wählerstimmen gewonnen. Fünf Jahre später hat Starmers Labour 412 Sitze – eine Mehrheit von 175 –, während den Tories gerade 121 geblieben sind.
Und doch ist es ein liebloser Erdrutsch und ein seltsames Resultat. Das Mehrheitswahlrecht verzerrt das Ergebnis enorm: Labour hat mit 34 Prozent der Wählerstimmen – also dem Niveau des späten, angeschlagenen Blair – 65 Prozent der Sitze erreicht. Die Schottische Nationalpartei ist vernichtend geschlagen. Jeremy Corbyn, der als Unabhängiger antreten musste, wurde, angesichts der Parteischikanen zu Recht, wiedergewählt, ein Anker für die steuerlose Linke. Sozialkonservative Unabhängige, die für Gaza eintraten, haben Labour sichere Sitze entrissen. Die Grünen haben mit ihren vier Sitzen von der Enttäuschung auf der Linken profitiert. Millionen haben für eine Partei voller rassistischer Kandidaten gestimmt und Reform UK in einer ganzen Reihe von Pro-Brexit-Labour-Wahlkreisen zum zweiten Platz verholfen. Das Wahlsystem gibt ihnen nicht viele Sitze, aber umso mehr Platz für ihre Ressentiments. Und doch: Labour hat gewonnen. Die Herrschaft der Tories ist vorüber.
Der Wahlkampf war einfältig. Keine Partei erwähnte die 20 Milliarden Pfund Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen, die im aktuellen Haushalt stehen. Vor allem hat man fröhlich vor sich hin behauptet: Labour will die Sozialhilfe sanieren, die Wirtschaft wiederbeleben, alle Streiks beenden, die Krankenkasse sanieren, die Wohnungskrise mildern und die zusammenbrechenden öffentlichen Dienstleistungen retten. Und das alles durch bloße Willenskraft, magisches Wirtschaftswachstum oder die mysteriöse Kraft des Wandels. Aber ganz bestimmt nicht, indem man Geld ausgibt. Eine Atmosphäre des Irrealen hat sich verbreitet, große Teile der Presse haben brav mitgemacht. Sämtliche im Raum stehenden Elefanten hat man beschwiegen, was blieb, waren reihenweise Geschichten über Schmutz und Geiz der Tories, belanglose Ausrutscher und lustloser Boulevard. Die Aufmerksamkeit schwand. Höchstens konnte, wer sich zum Wahllokal quälte, die gewiss kontrafaktische Hoffnung hegen, dass Labour nur so getan hatte, als begriffen sie das Ausmaß der Probleme nicht – um dann mit einem geheimgehaltenen Lösungsplan loszulegen.
Für Rishi Sunak ging es nach seiner regengetränkten Verkündung des Wahldatums nur weiter bergab, bis ihm zuletzt nichts mehr blieb, als die Wählerschaft anzubetteln, Labour nicht zu einer »Supermajority« zu verhelfen. Die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler und ein Viertel derjenigen, die 2019 noch die Konservativen gewählt hatten, waren der Meinung, die Partei verdiente es, jeden einzelnen ihrer Sitze zu verlieren. Einer gewaltigen Mehrheit zum Trotz, und also allen Möglichkeiten, das Land instandzusetzen, haben die Tories in ihrer letzten Amtsperiode ein Versagen an das andere gereiht. Jede Regung des Mitleids legt sich gleich wieder, denkt man an die Verschwendung und die sinnlose Brutalität von Sunaks Ruanda-Plan. Seine Demütigung ist verdient.
Starmer hatte Glück mit seinen Feinden. Bei der Verbannung der Labour-Linken konnte er sich auf deren absehbaren Untergang im Strudel gegenseitiger Vorwürfe nach der Katastrophe von 2019 verlassen; so hatte er ungewöhnlich freie Hand, die Partei nach seinem Geschmack umzugestalten. Er hat, oft zum Verdruss von Aktivisten vor Ort, seine Verbündeten in wichtigen Wahlkreisen platziert, um zukünftige Rebellionen zu unterbinden. Die Tory-Premiers haben ihm ein Geschenk nach dem anderen präsentiert: Johnson mit seinem Hang zu Vetternwirtschaft und anderen Skandalen; Liz Truss mit ihrem Kamikaze-Libertarianismus; Sunak mit seinem Reichtum und seiner Persönlichkeit als Silicon-Valley-Chiffre. Alles nur verschiedene Modi eklatanten Fehlregierens. Starmers Erfolg schien seit Monaten gewiss, seine Beliebtheitswerte sind aber nie über lauwarm gestiegen; nicht sehr wahrscheinlich, dass sich das im Amt ändern wird. Bei dieser Wahl hat es gereicht, »der andere« zu sein.
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