Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind
von Roland ReichenbachHomeschooling ist eine tolle Sache, zumindest, wenn man Alexander oder Wilhelm von Humboldt heißt, im Schloss Tegel wohnt und von Hofmeistern wie Joachim Heinrich Campe oder Gottlob Johann Christian Knuth unterrichtet und betreut wird. Die idyllische Isolation hilft dem Geist, sich mannigfaltig und zugleich proportionierlich zu entfalten. Auch wer keine einzige Stunde lang die offizielle Schulbank gedrückt hat, kann nach langjähriger Bildungsquarantäne zu einem der wichtigsten Schul- und Bildungsreformer der deutschen Geschichte werden. Und was wäre ohne Homeschooling aus Friedrich Hölderlin oder G. W. F. Hegel geworden? Der Hausunterricht war für manche idealistischen Geister die einzige halbwegs attraktive Möglichkeit, um der akademischen Erwerbslosigkeit zu entkommen. Eine Stellung als Hofmeister bedeutete nebst Verdienst auch Kost und Logis sowie mehr oder weniger kultivierte Konversation und die Zufuhr von sogenanntem Vitamin B. Ohne Hausunterricht hätte sich Friedrich Hölderlin nicht in Susette Gontard verliebt, und ohne diese unglückliche Liebschaft wäre Hyperion wohl nie geschrieben worden. Und wenn, so wäre der Roman ohne »reale« Diotima im Hintergrund höchstwahrscheinlich eine fade Lektüre geworden. Homeschooling dient dem Hauslehrer und seiner Leidenschaft als Inspirationsquelle. Hegel war drei Jahre lang in Tschugg am Bielersee als Hauslehrer bei einer Berner Patrizierfamilie namens Steiger angestellt. Die spärliche Unterrichtung der beiden Kinder ließ ihm genügend Zeit für tiefschürfende Betrachtungen, wie auch etwa für eine Wanderung in den Alpen.1 Dort vermochten die prächtigen Viertausender die Hegel’sche Vernunft nicht im Geringsten zu beeindrucken, so sehr war Letztere schon über sich selbst hinausgewachsen. Möglicherweise wäre der Philosoph ohne Tschugger Homeschooling nicht so schnell zu dieser erhebenden Selbsterkenntnis gekommen.
Mit der allgemeinen Schulpflicht kam es im 20. Jahrhundert aber zu einem gesetzlichen Verbot des erquicklichen Hausunterrichts. Allerdings kennen heute nur wenige europäische Staaten die Schulpflicht, wie sie in Deutschland gilt, sondern postulieren eine Unterrichtspflicht oder auch Bildungspflicht, die nicht mit einer Schulbesuchsverpflichtung einhergeht. Was jeweils als »Bildungspflicht«, »Bildungsfreiheit«, »Lernpflicht«, »Unterrichtspflicht«, »Unterrichtsfreiheit«, »Schulpflicht« oder »Schulzwang« rechtlich festgelegt und vor allem faktisch praktiziert wird, ist sehr divers, pädagogisch und politisch mitunter umstritten. Seit 1993 ist Homeschooling in sämtlichen US-Bundesstaaten erlaubt und vergleichsweise weit verbreitet. Dank der Entwicklung der digitalen Medien erfreut es sich eines zunehmenden gesellschaftlichen Zuspruchs, womit zugleich ein lukrativer Markt von Kursangeboten, Materialien und »Komplettpaketen« expandiert.2 Die didaktische und methodische Gestaltung des Hausunterrichts kann ganz traditionelle, hochstrukturierte Formen annehmen, aber auch dem sogenannten unschooling gleichkommen, bei dem das spontane Interesse des Kindes darüber bestimmt, ob überhaupt und wie ein Thema oder Lerninhalt »behandelt« wird. Der noble pädagogische Geist hält ja an der offenbar natürlichen intrinsischen Motivation des Kindes und den wundersamen Kräften der kindlichen Selbstregulation fest und stand institutionalisiertem Unterricht und dem Schulzwang schon immer skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Bildung als Staatsaufgabe
An der Thematik des Heimunterrichts manifestiert sich die alte Kontroverse um die Frage, inwiefern Bildung als Staatsaufgabe zu verstehen sei. Die Rolle des Staates wird in der deutschen Aufklärung beziehungsweise der klassisch-idealistischen Epoche besonders von Humboldt und Hegel sehr unterschiedlich beurteilt (der Erstgenannte profitierte ja auch vom Hausunterricht, der Zweitgenannte musste ihn hingegen notgedrungen selber durchführen). Die Positionen sind als Folge der unterschiedlichen Akzentuierungen des jeweiligen Bildungsverständnisses zu betrachten. In den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen wendet sich Wilhelm von Humboldt gegen eine umfassende Staatsmacht. Seine Kritik ist nicht antiplatonisch motiviert, sondern gegen den »Policey- und Wohlfahrtsstaat« im »aufgeklärten Absolutismus« Preußens gerichtet. Humboldt argumentiert für einen liberalen Rechtsstaat, dessen primäre Aufgabe in der Garantie der individuellen Freiheitsrechte liege und der sich nicht in die »Bildung des Menschen« einzumischen habe. Staatliche Eingriffe in das Erziehungs- und Unterrichtswesen seien nur im Notfall legitim.
Diese Position ist der Idee des »wahren Zweks des Menschen« geschuldet, der in der »höchsten und proportionirlichsten« Bildung seiner »Kräfte zu einem Ganzen« bestehe.3 Die »Kräfte« des Ich sind spontan, der Mensch von Anfang an selbsttätig: Das Ich bemächtigt sich der Welt, um sich damit zu stärken und der Welt sein Gepräge aufzudrücken. In den Schulplänen für Königsberg und Litauen (1809/1810) formuliert Humboldt die beiden Hauptziele institutionalisierter Bildung: individuelle Kräfteübung und allgemeine Menschenbildung. Etwas paradox mutet dabei die Rolle des Staates an: Einerseits ist Bildung als der wahre Zweck des Menschen für die liberale Ordnung unabdingbar, andererseits soll es dem Staat aber versagt bleiben, »Bildung durch den Aufbau, die Regulierung und Finanzierung eines öffentlichen Schulsystems zu fördern«.4 Ohne staatliche Regulierung stellt sich die Frage, so Johannes Giesinger, ob nicht soziale Gruppen von Bildung ausgeschlossen würden, und darüber hinaus sei auch nicht sichergestellt, dass sich das Bildungsideal Humboldts so auch wirklich durchsetzen könne.
Hegels Auffassung der Rolle des Staates steht derjenigen Humboldts diametral gegenüber. Bildung wird in der Phänomenologie des Geistes als »Entfremdung«, »Entäußerung« und »Aufheben des natürlichen Selbst« verstanden. Sie ist das Bemühen, die ungeformte, »natürliche« Subjektivität zu überwinden. Damit sind Formen der Eitelkeit, der Willkür und der Begierde gemeint, die erst durch den (Bildungs)Prozess des »Hinaufhebens« in die Allgemeinheit des »objektiven Geistes« transzendiert werden. Man könnte zeitgenössischer formulieren: Bildung ist die (subjektive) Aneignung objektivierter Kultur, welche die Bereitschaft des Selbst einfordert, sich den symbolischen Ordnungen (der Sprache, Grammatik, Logik, des Fachwissens etc.) zu unterwerfen, und die ihm dadurch in der sittlichen Gemeinschaft als Person eine reflektierte Stellung ermöglicht.
Die Aufgabe der Schule besteht für Hegel darin, zwischen Familie und Gemeinwesen zu vermitteln. Der Unterricht ist am Sachwissen orientiert, welches das Kind aus seiner emotionalen und unmittelbaren Bindung an die Familie zu lösen hilft. Unterrichtspraktiken und Wissensaneignung, die von oben und außen verordnet sind, führen zu einer »bildenden Entfremdung«, doch mit der zunehmenden Aneignung der kulturellen Bestände kommt es schließlich zu einer Versöhnung zwischen Selbst und Gemeinwesen, zwischen subjektivem und objektivem Geist auf einem höheren Niveau.5 Der Staat hat diesen Prozess zu unterstützen, denn er verkörpert für Hegel das »an und für sich Vernünftige« ja gerade selber. Dies brachte Hegel die Kritik der Staatsverherrlichung und naiven Bejahung des Faktischen ein. Doch man kann es sich mit Hegel zu einfach machen: Erstens ist die Dialektik des Bildungsprozesses – Entfremdung und Versöhnung – heute zwar semantisch anders eingebettet, aber als bildungstheoretischer Topos zu betrachten. Zweitens sieht Hegel die Entwicklung und Stärkung ihres reflektierten Selbstbewusstseins als ein Recht aller Menschen an, das drittens deswegen durch den Staat gesichert werden soll, namentlich – und viertens – durch ein Curriculum, das sich an Kultur und Wissenschaft zu orientieren hat und nicht an partikulären Präferenzen irgendwelcher Gruppen oder Machthaber.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.