Heft 855, August 2020

Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind

von Roland Reichenbach

Homeschooling ist eine tolle Sache, zumindest, wenn man Alexander oder Wilhelm von Humboldt heißt, im Schloss Tegel wohnt und von Hofmeistern wie Joachim Heinrich Campe oder Gottlob Johann Christian Knuth unterrichtet und betreut wird. Die idyllische Isolation hilft dem Geist, sich mannigfaltig und zugleich proportionierlich zu entfalten. Auch wer keine einzige Stunde lang die offizielle Schulbank gedrückt hat, kann nach langjähriger Bildungsquarantäne zu einem der wichtigsten Schul- und Bildungsreformer der deutschen Geschichte werden. Und was wäre ohne Homeschooling aus Friedrich Hölderlin oder G. W. F. Hegel geworden? Der Hausunterricht war für manche idealistischen Geister die einzige halbwegs attraktive Möglichkeit, um der akademischen Erwerbslosigkeit zu entkommen. Eine Stellung als Hofmeister bedeutete nebst Verdienst auch Kost und Logis sowie mehr oder weniger kultivierte Konversation und die Zufuhr von sogenanntem Vitamin B. Ohne Hausunterricht hätte sich Friedrich Hölderlin nicht in Susette Gontard verliebt, und ohne diese unglückliche Liebschaft wäre Hyperion wohl nie geschrieben worden. Und wenn, so wäre der Roman ohne »reale« Diotima im Hintergrund höchstwahrscheinlich eine fade Lektüre geworden. Homeschooling dient dem Hauslehrer und seiner Leidenschaft als Inspirationsquelle. Hegel war drei Jahre lang in Tschugg am Bielersee als Hauslehrer bei einer Berner Patrizierfamilie namens Steiger angestellt. Die spärliche Unterrichtung der beiden Kinder ließ ihm genügend Zeit für tiefschürfende Betrachtungen, wie auch etwa für eine Wanderung in den Alpen.1 Dort vermochten die prächtigen Viertausender die Hegel’sche Vernunft nicht im Geringsten zu beeindrucken, so sehr war Letztere schon über sich selbst hinausgewachsen. Möglicherweise wäre der Philosoph ohne Tschugger Homeschooling nicht so schnell zu dieser erhebenden Selbsterkenntnis gekommen.

Mit der allgemeinen Schulpflicht kam es im 20. Jahrhundert aber zu einem gesetzlichen Verbot des erquicklichen Hausunterrichts. Allerdings kennen heute nur wenige europäische Staaten die Schulpflicht, wie sie in Deutschland gilt, sondern postulieren eine Unterrichtspflicht oder auch Bildungspflicht, die nicht mit einer Schulbesuchsverpflichtung einhergeht. Was jeweils als »Bildungspflicht«, »Bildungsfreiheit«, »Lernpflicht«, »Unterrichtspflicht«, »Unterrichtsfreiheit«, »Schulpflicht« oder »Schulzwang« rechtlich festgelegt und vor allem faktisch praktiziert wird, ist sehr divers, pädagogisch und politisch mitunter umstritten. Seit 1993 ist Homeschooling in sämtlichen US-Bundesstaaten erlaubt und vergleichsweise weit verbreitet. Dank der Entwicklung der digitalen Medien erfreut es sich eines zunehmenden gesellschaftlichen Zuspruchs, womit zugleich ein lukrativer Markt von Kursangeboten, Materialien und »Komplettpaketen« expandiert.2 Die didaktische und methodische Gestaltung des Hausunterrichts kann ganz traditionelle, hochstrukturierte Formen annehmen, aber auch dem sogenannten unschooling gleichkommen, bei dem das spontane Interesse des Kindes darüber bestimmt, ob überhaupt und wie ein Thema oder Lerninhalt »behandelt« wird. Der noble pädagogische Geist hält ja an der offenbar natürlichen intrinsischen Motivation des Kindes und den wundersamen Kräften der kindlichen Selbstregulation fest und stand institutionalisiertem Unterricht und dem Schulzwang schon immer skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Bildung als Staatsaufgabe

An der Thematik des Heimunterrichts manifestiert sich die alte Kontroverse um die Frage, inwiefern Bildung als Staatsaufgabe zu verstehen sei. Die Rolle des Staates wird in der deutschen Aufklärung beziehungsweise der klassisch-idealistischen Epoche besonders von Humboldt und Hegel sehr unterschiedlich beurteilt (der Erstgenannte profitierte ja auch vom Hausunterricht, der Zweitgenannte musste ihn hingegen notgedrungen selber durchführen). Die Positionen sind als Folge der unterschiedlichen Akzentuierungen des jeweiligen Bildungsverständnisses zu betrachten. In den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen wendet sich Wilhelm von Humboldt gegen eine umfassende Staatsmacht. Seine Kritik ist nicht antiplatonisch motiviert, sondern gegen den »Policey- und Wohlfahrtsstaat« im »aufgeklärten Absolutismus« Preußens gerichtet. Humboldt argumentiert für einen liberalen Rechtsstaat, dessen primäre Aufgabe in der Garantie der individuellen Freiheitsrechte liege und der sich nicht in die »Bildung des Menschen« einzumischen habe. Staatliche Eingriffe in das Erziehungs- und Unterrichtswesen seien nur im Notfall legitim.

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