Heft 904, September 2024

Ich ist (k)eine Andere

von Daniela Dröscher
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»Hat Ihr Schreiben etwas Therapeutisches?« Es erstaunt nicht, dass ich diese Frage häufiger höre. Schließlich ist mein Roman Lügen über meine Mutter ein autofiktionaler Text, der nah am eigenen Leben entlang erzählt, und dieses Leben bleibt vom Schreiben nicht unberührt.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Genre »life writing« publizieren – dazu gehören die Autofiktion, die Autosoziobiografie, das Memoir, der persönliche Essay –, werden häufig mit der Frage nach den autokathartischen Effekten ihres Schreibens konfrontiert. Ich selbst antworte meist frei heraus: Natürlich ist meine Arbeit »therapeutisch«. Der Topos vom Schreiben als »Medizin« lässt sich bis zu Platon zurückverfolgen. Bei ihm ist die Schrift ein pharmakon, was sowohl Heil- als auch Giftmittel bedeutet (sie bewahrt Erinnerungen, befördert aber auch das Vergessen).

Ich schreibe Autofiktion, um Dinge, die mir widerfahren sind, besser zu verstehen. Wenn ich etwas bereits vorab verstanden hätte, bräuchte ich nicht zu schreiben. Indem ich mich und mein Leben zum Gegenstand der Analyse mache, überschreite ich eine wirkmächtige historische Grenze. Immer wieder unterschätze ich, gegen wie viele gesellschaftliche Verbotsschilder ich als Frau dabei noch immer anschreibe.

In meinem Fall war dieses Verbot äußerst konkret. Mein Vater wollte nicht, dass ich Schriftstellerin werde. Früh fürchtete er, dass ich eines Tages über unsere Familie schreiben könnte. Fast zwei Jahrzehnte lang habe ich um den Kern meines Erzählens gewissermaßen herumgeschrieben. Ich habe Fiktion um Fiktion erfunden, Kostüm um Kostüm.

Ich-Sagen

Lügen über meine Mutter ist mein erster Roman, der in der ersten Person erzählt. Mir scheint, dass sich ein Großteil der Skepsis gegenüber der Autofiktion an dem Wort »ich« entzündet. Interessant ist, dass das Erzählen in der ersten Person wahlweise entweder als zu klein und zu privat oder als zu anmaßend empfunden wird.

Für mich liegt die Magie des autofiktionalen Ich in seiner Intimität. Seiner Direktheit. Wer in »Ich«-Form schreibt, exponiert und zeigt sich in seiner subjektiven Sicht auf sich und die Welt: So und so und nicht anders empfinde ich. So und so und nicht anders erkläre ich mir diese oder jene Zusammenhänge.

Als Leserin wiederum höre ich einer Stimme, die »ich« sagt, ganz anders zu. Für die Dauer der Lektüre bin ich bereit, mich einer anderen Stimme und ihrer Blickführung anzuvertrauen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob ich die Stimme des Textes mit der der Autorin gleichsetze. Wer auf diese Weise »ich« sagt, öffnet – schreibend – einen intimen Raum und beschenkt Leserinnen und Leser mit seinem unverwechselbaren Blick auf die Welt. Mich persönlich interessiert beim Lesen nicht so sehr, was genau ein autofiktionales Ich wirklich erlebt hat. Viel faszinierender finde ich die besondere Energie, die es freisetzt. Den Sog, den es entfaltet. Das Ich des Texts trifft im Lesen auf ein anderes Ich. Es entsteht ein Spiegelkabinett aus Identifikation und Differenz.

Traditionslinien

Mein autofiktionales Ich hat ein gewichtiges Vorbild. Bevor ich anfing zu schreiben, schrieb ich eine Dissertation über die Schriftstellerin Yōko Tawada, deren Texte häufig in Ich-Perspektive verfasst sind. Ihr personal essay war das Medium meines Transits. Ausgerechnet die persönlichste, direkteste und damit ungeschützteste Art zu erzählen verlieh mir Sicherheit. Sie verankerte und situierte mich.

Das essayistische Ich hat mich erst zum dramatischen, dann zum autobiografischen und schließlich zum autofiktionalen Ich geführt. Dazwischen liegen drei Bücher, in denen ich mir zum größten Teil verbot, »ich« zu sagen. Viele Jahre noch versuchte ich, mich an literarische Formen anzupassen, von denen ich glaubte, dass nur sie als »echte« oder »legitime« Literatur galten. Der multiperspektivische Roman. Die gut gebaute Novelle.

Im Nachhinein erstaunt mich das nicht. Kritik und Forschung haben das Schreiben entlang am eigenen Leben lange Zeit systematisch als »unliterarisch« abgewertet – zumindest dann, wenn es sich um Bücher von Frauen handelte. So war mir lange Zeit nicht klar, dass die Texte, die ich schrieb, in einer feministischen Tradition standen.

Aufgewertet wurde vor allem die Autofiktion aus männlicher Feder. Karl Ove Knausgård etwa, der ungefiltert und minutiös seine Ehe und Trennung protokollierte, wurde von der Kritik als Genie gefeiert. Die Autorin Rachel Cusk wurde für ein nicht unähnliches Verfahren von der schottischen Presse als egomanische Verräterin geächtet.

Heute wird das Etikett »midcult« vor allem gegen queerfeministische und postmigrantische Stimmen der Autofiktion ins Feld geführt: Demnach handelt es sich dabei um ein an bestimmten Communitys oder Diskursen orientiertes Schreiben, das Authentizität zu Markte trägt und Leser aus der eigenen Bubble zur unkritischen (Über)Identifikation verleitet.

»Life writing« ist aber keine Mode. Man kann die Anfänge auf die confession poets der 1950er Jahre datieren, mit Anne Sexton und Sylvia Plath – oder aber deutlich früher beginnen lassen, mit Sei Shōnagons Kopfkissenbuch einer Hofdame (einem Klassiker der japanischen Literatur, der um 1100 herum entstand) oder auch mit Charlotte Perkins Gilmans Kurzgeschichte Die gelbe Tapete aus dem 19. Jahrhundert und sie fortführen mit Françoise Sagans Roman Bonjour Tristesse. Gemeinsam ist all diesen Texten, dass sie ihre Ich-Erzählerinnen in dezidiert weiblichen Erfahrungswelten situieren.

Wer spricht?

Natürlich steht bei einem autofiktionalen Ich die Identität des Autors oder der Autorin anders im Vordergrund als bei einem auktorial erzählten Text. Jedes »life writing« beruht auf einer Verabredung, dem »autobiografischen Pakt«, wie Philippe Lejeune es nannte, also der Einladung, Autorin und Ich-Erzählerin temporär in eins zu setzen.

Doch auch das Ich der Autofiktion ist eine Kunstfigur. Es ist geformt, ein Ergebnis von Entscheidungen. Ich exponiere mich, bin aber zugleich geschützt durch das Kleid der Fiktion. Das Ich dient als »gläsernes Versteck«, so hat Anne Weber es einmal genannt.

Die einen brauchen dieses Versteck mehr als andere. Ein Autor-Ich ist keine frei gewählte Inszenierung, sondern immer auch ein Ergebnis von Zuschreibungen. Es gibt Identitäten, die unentwegt als »anders« markiert werden und sich schlichtweg nicht hinter dem Bonmot verstecken können, das eigene Ich sei stets eine Andere – ein unergründliches, nicht restlos zu entschlüsselndes Enigma, das gleichsam über den gesellschaftlichen Verhältnissen schwebt.

Zwei Spielarten

Ich selbst unterscheide zwei Arten von Autofiktion. Die eine nutzt fiktive Elemente für ein Vexierspiel, dem es darum geht, den autobiografischen Pakt vorsätzlich zu irritieren. Das Ich dieser Variante verweigert das Begehren nach Authentizität. Seine Freiheit besteht darin, nicht identifiziert, nicht festgelegt werden zu können. Die Verwirrung hinsichtlich der Frage »Wer spricht?« ist geradezu Programm – wenn auch kein Selbstzweck. Eher protestiert sie – wie im Falle Yōko Tawadas – gegen die »Funktion Autor«, wie Michel Foucault die leichtfertige Ineinssetzung von Autor und Erzähler einmal nannte.

Die zweite Spielart versteht Fiktion als Vehikel für die Suche nach der persönlichen Wahrheit. Der Vektor dieses Schreibens ist eben kein Verwirrspiel, sondern die Selbstaufklärung. Wer so schreibt, »hat« oftmals dem eigenen Empfinden nach gar keine Stimme, und empfindet es keineswegs als selbstverständlich, einfach »ich« zu sagen. Man könnte auch sagen: Die eine Spielart versucht, das Ich weiter zu dekonstruieren, die andere strebt danach, es zu (re)konstruieren.

Ich selbst gehöre eher dem zweiten Typus an. Der Gedanke, dass im Schreiben ein authentisches Ich abgebildet werden könnte, ist mir dennoch suspekt. Wohl aber glaube ich, dass ich mir in einem autofiktionalen Text aufrichtigere Fragen stellen kann als in einer anderen Gattung. Gerade weil ich mir, schreibend, unter der Hand fremd werde. Weil ich Distanz zu mir gewinne. Durch dieses Fragen entsteht ein anderes Ich. Auch dieses neue Ich ist eine Kunstfigur – natürlich ist es das. Ein autofiktionales Ich reflektiert sich selbst zumeist metapoetisch als diejenige Instanz, die formt, auswählt, arrangiert. Auch wenn es die Hoheit über die eigene Geschichte reklamiert, ist es dem Selbstverständnis nach machtkritisch – und weiß um seine eigene Macht und Verantwortung.

Ethos der Autofiktion

Sehr häufig markiert diese Art von Autofiktion die eigene Perspektive bewusst als unzuverlässig. Die Authentizität dieses Ich liegt in seinem Bewusstsein für die Partikularität. (Ich mag die Formel, wonach die Autobiografie es einem ermöglicht, unter dem Deckmantel der Wahrheit schamlos Lügen zu verbreiten, man in der Autofiktion hingegen durch das Versteck der Fiktion ungehemmt seine persönliche Wahrheit erzählen kann …)

So sehr ich auch versuche, Dinge für mich zu ordnen, zu verstehen, schreibe ich dennoch in dem Bewusstsein, dass diese meine Wahrheit eine vorläufige ist und sich immer erst durch die unterschiedlichen Lektüren der Leserinnen und Leser vollendet.

Mein Ethos gründet darin, dass ich sehr sorgsam überlege, wie ich etwas erzähle. Mit welchen literarischen Mitteln. Ich hafte für diese Entscheidungen mit Haut und Haar. So werde ich zu einer Autorin im strengen Sinne des Wortes auctor, was bedeutet, »die eigene Rede zu verantworten«.

Und damit schließt sich der Kreis zum Ich. Ich sage »ich«, weil ich so am glaubhaftesten zu erzählen vermag. Ich empfinde mein autofiktionales Ich nicht als Einschränkung, sondern eher als produktive ästhetische Begrenzung. Als Medium der sozialen Transgression.

Trauern

In vielerlei Hinsicht verstößt mein autofiktionales Schreiben gegen sämtliche Gebote meiner kleinbürgerlichen Herkunftswelt. Was für ein Übertritt, denke ich bisweilen noch immer. Auf so intime Weise von mir und meinem Leben zu berichten. Was für ein zutiefst verbotenes Unterfangen. Auch deshalb fühlt sich mein hart erkämpftes autofiktionales »Ich« mitunter noch immer seltsam illegitim an.

Die Wenigsten machen sich einen Begriff davon, wie viel Mut gesammelt werden musste, um auf diese Weise »ich« sagen zu können. Wie viel Zeit hat man damit vergeudet, eine ganz Andere sein zu wollen? Alles, nur nicht man selbst? Wie viel Versäumnis liegt in all dem?

Sehr häufig speist sich der Erzählkern der Autofiktion aus einer Verletzung. Guadalupe Nettel etwa eröffnet El cuerpo en que nací (2011) mit dem weißen Fleck, der sich von Geburt an über ihre Iris zieht. Lidia Yuknavitchs The Chronology of Water (2011) umkreist den Verlust eines totgeborenen Kindes und den Missbrauch als Jugendliche. Edouard Levés Suicide (2007) trägt den Freitod im Titel, den der Autor wenige Wochen nach Abgabe des Manuskripts in die Tat umsetzte.

So viel Tod, so viel Unrecht. »Traumaplot« sagen die einen, progressive Emanzipation die anderen. Vielleicht kann man Letzteres nur nachempfinden, wenn man selbst um sein Ich hat kämpfen müssen. Vielleicht muss man sich aber auch nur daran erinnern, dass die Literatur allein schon durch ihr Medium mit dem Tod zu tun hat.

Bei Derrida findet sich der schöne Gedanke, dass die Schrift von Grund auf »testamentarisch« sei. Ihr Feld ist die Erinnerung. Das Wieder-Holen von Vergangenheit. Und ja, womöglich ist meine Obsession mit der Ich-Perspektive eine fortwährende Wieder-Aneignung einer ursprünglich verlorenen Stimme.

Nutzen

Ich stehe bisweilen noch immer ungläubig vor der Tatsache, dass aus mir eine Schriftstellerin geworden ist. Kunst galt in meiner Familie als »brotlose«, als »nutzlose« Kunst. Noch immer schreibe ich gegen den anerzogenen Habitus an, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Dieses Gebot ist Teil meiner erlernten sozialen Grammatik, in der sich die Ebenen class und gender bisweilen nahezu ununterscheidbar überlagern.

Allmählich aber entferne ich mich von verinnerlichten Erwartungen. Es gelingt mir mehr und mehr, den »großen narrativen Anderen«, wie Roland Barthes es einmal nannte, in den Hintergrund zu verweisen. Meine Texte müssen sich vor niemandem legitimieren und niemandem »nützen«. So fremd mir das Prinzip des L’art pour l’art ist – der »Luxusgeschmack« der oberen Klasse, wie Bourdieu ihn nennt –, so sehr wehre ich mich gegen die Funktionalisierung von Kunst im Namen des Diskurses, auf Kosten der ästhetischen Überschüsse.

Ich ist viele Andere

»Life writing« bringt Stimmen hervor, die zuvor keine Schrift hatten. Mit einem Mal werden Ungerechtigkeiten auf ästhetische Weise nachvollziehbar. Sie werden lauter, entschiedener, sie bekommen Gesichter. Ein Gewicht. Mit einem autofiktionalen Ich lässt sich eine Schnur direkt von Herz zu Herz spannen. Jemand, der »ich« sagt, erlaubt mir, die Welt »durch seine Augen zu sehen« und ihm dadurch ganz nahe zu kommen. Ich verbinde mich im Lesen mit Erfahrungswelten, die von meiner eigenen ganz verschieden sind. Der Kern der Autofiktion ist in dieser Hinsicht eben gerade nicht das identifikatorische Lesen, sondern die Berührung mit Alterität.

Die Autofiktion verändert den literarischen Diskurs, gerade weil sie nicht im Diskursiven aufgeht, sondern eine ästhetische Erfahrung evoziert. Sie lässt den Diskurs – wie es seinem Wortsinn gebührt – hin- und herlaufen.

 

»Hat Ihr Schreiben etwas Therapeutisches?« Es erstaunt nicht, dass ich diese Frage häufiger höre. Schließlich ist mein Roman Lügen über meine Mutter ein autofiktionaler Text, der nah am eigenen Leben entlang erzählt, und dieses Leben bleibt vom Schreiben nicht unberührt.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Genre »life writing« publizieren – dazu gehören die Autofiktion, die Autosoziobiografie, das Memoir, der persönliche Essay –, werden häufig mit der Frage nach den autokathartischen Effekten ihres Schreibens konfrontiert. Ich selbst antworte meist frei heraus: Natürlich ist meine Arbeit »therapeutisch«. Der Topos vom Schreiben als »Medizin« lässt sich bis zu Platon zurückverfolgen. Bei ihm ist die Schrift ein pharmakon, was sowohl Heil- als auch Giftmittel bedeutet (sie bewahrt Erinnerungen, befördert aber auch das Vergessen).

Ich schreibe Autofiktion, um Dinge, die mir widerfahren sind, besser zu verstehen. Wenn ich etwas bereits vorab verstanden hätte, bräuchte ich nicht zu schreiben. Indem ich mich und mein Leben zum Gegenstand der Analyse mache, überschreite ich eine wirkmächtige historische Grenze. Immer wieder unterschätze ich, gegen wie viele gesellschaftliche Verbotsschilder ich als Frau dabei noch immer anschreibe.

In meinem Fall war dieses Verbot äußerst konkret. Mein Vater wollte nicht, dass ich Schriftstellerin werde. Früh fürchtete er, dass ich eines Tages über unsere Familie schreiben könnte. Fast zwei Jahrzehnte lang habe ich um den Kern meines Erzählens gewissermaßen herumgeschrieben. Ich habe Fiktion um Fiktion erfunden, Kostüm um Kostüm.

Ich-Sagen

Lügen über meine Mutter ist mein erster Roman, der in der ersten Person erzählt. Mir scheint, dass sich ein Großteil der Skepsis gegenüber der Autofiktion an dem Wort »ich« entzündet. Interessant ist, dass das Erzählen in der ersten Person wahlweise entweder als zu klein und zu privat oder als zu anmaßend empfunden wird.

Für mich liegt die Magie des autofiktionalen Ich in seiner Intimität. Seiner Direktheit. Wer in »Ich«-Form schreibt, exponiert und zeigt sich in seiner subjektiven Sicht auf sich und die Welt: So und so und nicht anders empfinde ich. So und so und nicht anders erkläre ich mir diese oder jene Zusammenhänge.

Als Leserin wiederum höre ich einer Stimme, die »ich« sagt, ganz anders zu. Für die Dauer der Lektüre bin ich bereit, mich einer anderen Stimme und ihrer Blickführung anzuvertrauen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob ich die Stimme des Textes mit der der Autorin gleichsetze. Wer auf diese Weise »ich« sagt, öffnet – schreibend – einen intimen Raum und beschenkt Leserinnen und Leser mit seinem unverwechselbaren Blick auf die Welt. Mich persönlich interessiert beim Lesen nicht so sehr, was genau ein autofiktionales Ich wirklich erlebt hat. Viel faszinierender finde ich die besondere Energie, die es freisetzt. Den Sog, den es entfaltet. Das Ich des Texts trifft im Lesen auf ein anderes Ich. Es entsteht ein Spiegelkabinett aus Identifikation und Differenz.

Traditionslinien

Mein autofiktionales Ich hat ein gewichtiges Vorbild. Bevor ich anfing zu schreiben, schrieb ich eine Dissertation über die Schriftstellerin Yōko Tawada, deren Texte häufig in Ich-Perspektive verfasst sind. Ihr personal essay war das Medium meines Transits. Ausgerechnet die persönlichste, direkteste und damit ungeschützteste Art zu erzählen verlieh mir Sicherheit. Sie verankerte und situierte mich.

Das essayistische Ich hat mich erst zum dramatischen, dann zum autobiografischen und schließlich zum autofiktionalen Ich geführt. Dazwischen liegen drei Bücher, in denen ich mir zum größten Teil verbot, »ich« zu sagen. Viele Jahre noch versuchte ich, mich an literarische Formen anzupassen, von denen ich glaubte, dass nur sie als »echte« oder »legitime« Literatur galten. Der multiperspektivische Roman. Die gut gebaute Novelle.

Im Nachhinein erstaunt mich das nicht. Kritik und Forschung haben das Schreiben entlang am eigenen Leben lange Zeit systematisch als »unliterarisch« abgewertet – zumindest dann, wenn es sich um Bücher von Frauen handelte. So war mir lange Zeit nicht klar, dass die Texte, die ich schrieb, in einer feministischen Tradition standen.

Aufgewertet wurde vor allem die Autofiktion aus männlicher Feder. Karl Ove Knausgård etwa, der ungefiltert und minutiös seine Ehe und Trennung protokollierte, wurde von der Kritik als Genie gefeiert. Die Autorin Rachel Cusk wurde für ein nicht unähnliches Verfahren von der schottischen Presse als egomanische Verräterin geächtet.

Heute wird das Etikett »midcult« vor allem gegen queerfeministische und postmigrantische Stimmen der Autofiktion ins Feld geführt: Demnach handelt es sich dabei um ein an bestimmten Communitys oder Diskursen orientiertes Schreiben, das Authentizität zu Markte trägt und Leser aus der eigenen Bubble zur unkritischen (Über)Identifikation verleitet.

»Life writing« ist aber keine Mode. Man kann die Anfänge auf die confession poets der 1950er Jahre datieren, mit Anne Sexton und Sylvia Plath – oder aber deutlich früher beginnen lassen, mit Sei Shōnagons Kopfkissenbuch einer Hofdame (einem Klassiker der japanischen Literatur, der um 1100 herum entstand) oder auch mit Charlotte Perkins Gilmans Kurzgeschichte Die gelbe Tapete aus dem 19. Jahrhundert und sie fortführen mit Françoise Sagans Roman Bonjour Tristesse. Gemeinsam ist all diesen Texten, dass sie ihre Ich-Erzählerinnen in dezidiert weiblichen Erfahrungswelten situieren.

Wer spricht?

Natürlich steht bei einem autofiktionalen Ich die Identität des Autors oder der Autorin anders im Vordergrund als bei einem auktorial erzählten Text. Jedes »life writing« beruht auf einer Verabredung, dem »autobiografischen Pakt«, wie Philippe Lejeune es nannte, also der Einladung, Autorin und Ich-Erzählerin temporär in eins zu setzen.

Doch auch das Ich der Autofiktion ist eine Kunstfigur. Es ist geformt, ein Ergebnis von Entscheidungen. Ich exponiere mich, bin aber zugleich geschützt durch das Kleid der Fiktion. Das Ich dient als »gläsernes Versteck«, so hat Anne Weber es einmal genannt.

Die einen brauchen dieses Versteck mehr als andere. Ein Autor-Ich ist keine frei gewählte Inszenierung, sondern immer auch ein Ergebnis von Zuschreibungen. Es gibt Identitäten, die unentwegt als »anders« markiert werden und sich schlichtweg nicht hinter dem Bonmot verstecken können, das eigene Ich sei stets eine Andere – ein unergründliches, nicht restlos zu entschlüsselndes Enigma, das gleichsam über den gesellschaftlichen Verhältnissen schwebt.

Zwei Spielarten

Ich selbst unterscheide zwei Arten von Autofiktion. Die eine nutzt fiktive Elemente für ein Vexierspiel, dem es darum geht, den autobiografischen Pakt vorsätzlich zu irritieren. Das Ich dieser Variante verweigert das Begehren nach Authentizität. Seine Freiheit besteht darin, nicht identifiziert, nicht festgelegt werden zu können. Die Verwirrung hinsichtlich der Frage »Wer spricht?« ist geradezu Programm – wenn auch kein Selbstzweck. Eher protestiert sie – wie im Falle Yōko Tawadas – gegen die »Funktion Autor«, wie Michel Foucault die leichtfertige Ineinssetzung von Autor und Erzähler einmal nannte.

Die zweite Spielart versteht Fiktion als Vehikel für die Suche nach der persönlichen Wahrheit. Der Vektor dieses Schreibens ist eben kein Verwirrspiel, sondern die Selbstaufklärung. Wer so schreibt, »hat« oftmals dem eigenen Empfinden nach gar keine Stimme, und empfindet es keineswegs als selbstverständlich, einfach »ich« zu sagen. Man könnte auch sagen: Die eine Spielart versucht, das Ich weiter zu dekonstruieren, die andere strebt danach, es zu (re)konstruieren.

Ich selbst gehöre eher dem zweiten Typus an. Der Gedanke, dass im Schreiben ein authentisches Ich abgebildet werden könnte, ist mir dennoch suspekt. Wohl aber glaube ich, dass ich mir in einem autofiktionalen Text aufrichtigere Fragen stellen kann als in einer anderen Gattung. Gerade weil ich mir, schreibend, unter der Hand fremd werde. Weil ich Distanz zu mir gewinne. Durch dieses Fragen entsteht ein anderes Ich. Auch dieses neue Ich ist eine Kunstfigur – natürlich ist es das. Ein autofiktionales Ich reflektiert sich selbst zumeist metapoetisch als diejenige Instanz, die formt, auswählt, arrangiert. Auch wenn es die Hoheit über die eigene Geschichte reklamiert, ist es dem Selbstverständnis nach machtkritisch – und weiß um seine eigene Macht und Verantwortung.

Ethos der Autofiktion

Sehr häufig markiert diese Art von Autofiktion die eigene Perspektive bewusst als unzuverlässig. Die Authentizität dieses Ich liegt in seinem Bewusstsein für die Partikularität. (Ich mag die Formel, wonach die Autobiografie es einem ermöglicht, unter dem Deckmantel der Wahrheit schamlos Lügen zu verbreiten, man in der Autofiktion hingegen durch das Versteck der Fiktion ungehemmt seine persönliche Wahrheit erzählen kann …)

So sehr ich auch versuche, Dinge für mich zu ordnen, zu verstehen, schreibe ich dennoch in dem Bewusstsein, dass diese meine Wahrheit eine vorläufige ist und sich immer erst durch die unterschiedlichen Lektüren der Leserinnen und Leser vollendet.

Mein Ethos gründet darin, dass ich sehr sorgsam überlege, wie ich etwas erzähle. Mit welchen literarischen Mitteln. Ich hafte für diese Entscheidungen mit Haut und Haar. So werde ich zu einer Autorin im strengen Sinne des Wortes auctor, was bedeutet, »die eigene Rede zu verantworten«.

Und damit schließt sich der Kreis zum Ich. Ich sage »ich«, weil ich so am glaubhaftesten zu erzählen vermag. Ich empfinde mein autofiktionales Ich nicht als Einschränkung, sondern eher als produktive ästhetische Begrenzung. Als Medium der sozialen Transgression.

Trauern

In vielerlei Hinsicht verstößt mein autofiktionales Schreiben gegen sämtliche Gebote meiner kleinbürgerlichen Herkunftswelt. Was für ein Übertritt, denke ich bisweilen noch immer. Auf so intime Weise von mir und meinem Leben zu berichten. Was für ein zutiefst verbotenes Unterfangen. Auch deshalb fühlt sich mein hart erkämpftes autofiktionales »Ich« mitunter noch immer seltsam illegitim an.

Die Wenigsten machen sich einen Begriff davon, wie viel Mut gesammelt werden musste, um auf diese Weise »ich« sagen zu können. Wie viel Zeit hat man damit vergeudet, eine ganz Andere sein zu wollen? Alles, nur nicht man selbst? Wie viel Versäumnis liegt in all dem?

Sehr häufig speist sich der Erzählkern der Autofiktion aus einer Verletzung. Guadalupe Nettel etwa eröffnet El cuerpo en que nací (2011) mit dem weißen Fleck, der sich von Geburt an über ihre Iris zieht. Lidia Yuknavitchs The Chronology of Water (2011) umkreist den Verlust eines totgeborenen Kindes und den Missbrauch als Jugendliche. Edouard Levés Suicide (2007) trägt den Freitod im Titel, den der Autor wenige Wochen nach Abgabe des Manuskripts in die Tat umsetzte.

So viel Tod, so viel Unrecht. »Traumaplot« sagen die einen, progressive Emanzipation die anderen. Vielleicht kann man Letzteres nur nachempfinden, wenn man selbst um sein Ich hat kämpfen müssen. Vielleicht muss man sich aber auch nur daran erinnern, dass die Literatur allein schon durch ihr Medium mit dem Tod zu tun hat.

Bei Derrida findet sich der schöne Gedanke, dass die Schrift von Grund auf »testamentarisch« sei. Ihr Feld ist die Erinnerung. Das Wieder-Holen von Vergangenheit. Und ja, womöglich ist meine Obsession mit der Ich-Perspektive eine fortwährende Wieder-Aneignung einer ursprünglich verlorenen Stimme.

Nutzen

Ich stehe bisweilen noch immer ungläubig vor der Tatsache, dass aus mir eine Schriftstellerin geworden ist. Kunst galt in meiner Familie als »brotlose«, als »nutzlose« Kunst. Noch immer schreibe ich gegen den anerzogenen Habitus an, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Dieses Gebot ist Teil meiner erlernten sozialen Grammatik, in der sich die Ebenen class und gender bisweilen nahezu ununterscheidbar überlagern.

Allmählich aber entferne ich mich von verinnerlichten Erwartungen. Es gelingt mir mehr und mehr, den »großen narrativen Anderen«, wie Roland Barthes es einmal nannte, in den Hintergrund zu verweisen. Meine Texte müssen sich vor niemandem legitimieren und niemandem »nützen«. So fremd mir das Prinzip des L’art pour l’art ist – der »Luxusgeschmack« der oberen Klasse, wie Bourdieu ihn nennt –, so sehr wehre ich mich gegen die Funktionalisierung von Kunst im Namen des Diskurses, auf Kosten der ästhetischen Überschüsse.

Ich ist viele Andere

»Life writing« bringt Stimmen hervor, die zuvor keine Schrift hatten. Mit einem Mal werden Ungerechtigkeiten auf ästhetische Weise nachvollziehbar. Sie werden lauter, entschiedener, sie bekommen Gesichter. Ein Gewicht. Mit einem autofiktionalen Ich lässt sich eine Schnur direkt von Herz zu Herz spannen. Jemand, der »ich« sagt, erlaubt mir, die Welt »durch seine Augen zu sehen« und ihm dadurch ganz nahe zu kommen. Ich verbinde mich im Lesen mit Erfahrungswelten, die von meiner eigenen ganz verschieden sind. Der Kern der Autofiktion ist in dieser Hinsicht eben gerade nicht das identifikatorische Lesen, sondern die Berührung mit Alterität.

Die Autofiktion verändert den literarischen Diskurs, gerade weil sie nicht im Diskursiven aufgeht, sondern eine ästhetische Erfahrung evoziert. Sie lässt den Diskurs – wie es seinem Wortsinn gebührt – hin- und herlaufen.