Heft 904, September 2024

Ich ist (k)eine Andere

von Daniela Dröscher

»Hat Ihr Schreiben etwas Therapeutisches?« Es erstaunt nicht, dass ich diese Frage häufiger höre. Schließlich ist mein Roman Lügen über meine Mutter ein autofiktionaler Text, der nah am eigenen Leben entlang erzählt, und dieses Leben bleibt vom Schreiben nicht unberührt.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Genre »life writing« publizieren – dazu gehören die Autofiktion, die Autosoziobiografie, das Memoir, der persönliche Essay –, werden häufig mit der Frage nach den autokathartischen Effekten ihres Schreibens konfrontiert. Ich selbst antworte meist frei heraus: Natürlich ist meine Arbeit »therapeutisch«. Der Topos vom Schreiben als »Medizin« lässt sich bis zu Platon zurückverfolgen. Bei ihm ist die Schrift ein pharmakon, was sowohl Heil- als auch Giftmittel bedeutet (sie bewahrt Erinnerungen, befördert aber auch das Vergessen).

Ich schreibe Autofiktion, um Dinge, die mir widerfahren sind, besser zu verstehen. Wenn ich etwas bereits vorab verstanden hätte, bräuchte ich nicht zu schreiben. Indem ich mich und mein Leben zum Gegenstand der Analyse mache, überschreite ich eine wirkmächtige historische Grenze. Immer wieder unterschätze ich, gegen wie viele gesellschaftliche Verbotsschilder ich als Frau dabei noch immer anschreibe.

In meinem Fall war dieses Verbot äußerst konkret. Mein Vater wollte nicht, dass ich Schriftstellerin werde. Früh fürchtete er, dass ich eines Tages über unsere Familie schreiben könnte. Fast zwei Jahrzehnte lang habe ich um den Kern meines Erzählens gewissermaßen herumgeschrieben. Ich habe Fiktion um Fiktion erfunden, Kostüm um Kostüm.

Ich-Sagen

Lügen über meine Mutter ist mein erster Roman, der in der ersten Person erzählt. Mir scheint, dass sich ein Großteil der Skepsis gegenüber der Autofiktion an dem Wort »ich« entzündet. Interessant ist, dass das Erzählen in der ersten Person wahlweise entweder als zu klein und zu privat oder als zu anmaßend empfunden wird.

Für mich liegt die Magie des autofiktionalen Ich in seiner Intimität. Seiner Direktheit. Wer in »Ich«-Form schreibt, exponiert und zeigt sich in seiner subjektiven Sicht auf sich und die Welt: So und so und nicht anders empfinde ich. So und so und nicht anders erkläre ich mir diese oder jene Zusammenhänge.

Als Leserin wiederum höre ich einer Stimme, die »ich« sagt, ganz anders zu. Für die Dauer der Lektüre bin ich bereit, mich einer anderen Stimme und ihrer Blickführung anzuvertrauen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob ich die Stimme des Textes mit der der Autorin gleichsetze. Wer auf diese Weise »ich« sagt, öffnet – schreibend – einen intimen Raum und beschenkt Leserinnen und Leser mit seinem unverwechselbaren Blick auf die Welt. Mich persönlich interessiert beim Lesen nicht so sehr, was genau ein autofiktionales Ich wirklich erlebt hat. Viel faszinierender finde ich die besondere Energie, die es freisetzt. Den Sog, den es entfaltet. Das Ich des Texts trifft im Lesen auf ein anderes Ich. Es entsteht ein Spiegelkabinett aus Identifikation und Differenz.

Traditionslinien

Mein autofiktionales Ich hat ein gewichtiges Vorbild. Bevor ich anfing zu schreiben, schrieb ich eine Dissertation über die Schriftstellerin Yōko Tawada, deren Texte häufig in Ich-Perspektive verfasst sind. Ihr personal essay war das Medium meines Transits. Ausgerechnet die persönlichste, direkteste und damit ungeschützteste Art zu erzählen verlieh mir Sicherheit. Sie verankerte und situierte mich.

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