Identität und Universalismus
Ein Beitrag zu einer Theorie politischer Bündnisse von Marina Martinez MateoEin Beitrag zu einer Theorie politischer Bündnisse
Glaubt man den Feuilletons sowie zahlreichen populär- oder semipopulärwissenschaftlichen Büchern der letzten Jahre, dann stellt die sogenannte Identitätspolitik eine der größten Bedrohungen unserer Zeit dar. Bedrohlich scheint die Annahme zu sein, dass die gesellschaftliche Position, die wir entlang von Identitätskategorien einnehmen (wie etwa race und gender), unsere Sicht auf die Welt und auch die moralischen und politischen Ansprüche bestimmt, die an uns gestellt werden dürfen und die wir wiederum zu formulieren berechtigt sind. Das gesellschaftliche Ganze zerfalle so in eine Vielzahl unvermittelbarer Identitäten oder gar in den bloßen und scheinbar direkt am Körper ablesbaren Gegensatz von »unterdrückend« und »unterdrückt«. Wie etwa die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch mit dem programmatischen Titel Links ist nicht woke (2023) schreibt, habe dies zum Verlust grundlegender linker, emanzipatorischer Selbstverständnisse geführt, darunter der Glaube an eine von lokalen Traditionen und Kulturen unabhängig zu bewahrende Menschenwürde oder an die Möglichkeit eines universellen Fortschritts, wie er sich im Begriff »progressiv«, den sie synonym mit »links« verwendet, ausdrückt. Was bliebe sei ein bloßes – wie sie es nennt – »Stammesdenken« (tribalism), das dazu führe, dass sich eine Gruppe gegen die andere verschanze, und das nicht zu unterscheiden sei von rechten identitären Annahmen von der Überlegenheit der eigenen Gruppe.
In diesen Äußerungen Neimans zeigt sich ein relativ uninformiertes oder intentional verfälschtes, jedenfalls aber ein erstaunlich denkfaules Bild sogenannter Identitätspolitik, das wenig mit den Anliegen und historischen Hintergründen zu tun hat, die in der Regel unter diesem Label versammelt werden. Doch die enorme gesellschaftliche Tragweite solcher und ähnlicher Einschätzungen macht es meines Erachtens notwendig, sie dennoch ernst zu nehmen. Den Vorwurf des »Stammesdenkens« einer näheren Betrachtung zu unterziehen scheint mir auch deshalb relevant, weil die solidarische Zusammenarbeit zwischen verschiedenen diskriminierungs- und herrschaftskritischen Ansätzen heute in der Tat (um es einmal wohlwollend auszudrücken) nicht immer ganz reibungslos zu gelingen scheint – wie sich etwa am verhärteten Verhältnis (insbesondere, aber sicher nicht nur, im deutschen Kontext) zwischen Rassismuskritik und Antisemitismuskritik zeigt. Wie wäre also mit Blick auf eine solche Problemlage dem Vorwurf des »Stammesdenkens« zu begegnen? Inwiefern macht sie es in der Tat notwendig, über eine Politik der Identität hinauszugehen, um eine offene Politik der Bündnisse zu ermöglichen? Und was genau würde dies bedeuten?
Das Problem einer Politik der Identität
Wenngleich mit stärkerem Fokus auf Fragen der Repräsentation und Fürsprache hat die feministische Philosophin Linda Martín Alcoff in ihrem klassisch gewordenen Essay The Problem of Speaking for Others (1991) das »Problem« formuliert, das hier den Ausgangspunkt bildet – ein Problem, das sich dann auftut, wenn »Identität« zu einer politischen Figur gemacht wird.
Auf der einen Seite betont sie die ausschließende Dimension einer unhinterfragten Universalität. Normativ allgemeine Begriffe wie »Freiheit« oder »Fortschritt« seien nur durch eine Abstraktion von spezifischen (partikularen) Perspektiven und Erfahrungen zu haben. Dabei ist diese Abstraktion allerdings nicht voraussetzungslos, sondern geschieht in einem sozialen und historischen Kontext, sie wird von bestimmten Erfahrungen ausgehend vorgenommen. Die Gefahr ist nun, dass diese Erfahrungen in der Formulierung solcher Begriffe einfach verdeckt und in deren scheinbare Allgemeinheit hinein verabsolutiert werden. Andere (marginalisierte) Erfahrungen könnten durch diese Begriffe insofern nicht adressiert werden, so dass die Marginalisierung in ihnen perpetuiert wird.
In diesem Sinn haben etwa feministische Philosophinnen und Philosophen im Kontext der »Care-Ethik« betont, dass Erfahrungen in Fürsorgebeziehungen nicht den Begriffen einer Kantischen Moralität entsprechen, die vom Anspruch der Universalisierbarkeit ausgeht; und in vergleichbarer Weise ist im Rahmen postkolonialer Theorie der aufklärerische Begriff des Fortschritts dahingehend kritisiert worden, dass er verschiedene lokale Traditionen und historische Prozesse dem europäischen Maßstab unterordne. So also der Kern der identitätspolitischen Intervention: Insbesondere diejenigen, die von einer marginalisierten Position aus sprechen, werden im politischen Diskurs nur vorkommen, wenn sie von ihren konkreten Erfahrungen statt von Allgemeinbegriffen ausgehen.
Die andere Seite des Problems ist aber, dass dieses Anliegen in eine Sackgasse führen kann. Denn ohne irgendeine Form von Verallgemeinerung lässt sich von einer ausgeschlossenen Erfahrung, von der aus sich eine solche Kritik der Verallgemeinerung formulieren ließe, gar nicht erst sprechen. Schließlich werden hier ja nicht irgendwelche Erfahrungen ins Zentrum gestellt, sondern solche, die ich etwa als Frau oder als migrantische Person zu machen beanspruche, das heißt Erfahrungen, die nicht nur zufällig mir persönlich zukommen, sondern zum Beispiel etwas über die Lage von Frauen im Patriarchat aussagen. Diese Annahme ist allerdings nicht voraussetzungslos: Sie setzt erstens voraus, dass meine biografischen Erfahrungen sich tatsächlich im Sinne dieser Kategorien verallgemeinern lassen (dass sie also irgendetwas mit der Existenz eines Patriarchats zu tun haben), und sie setzt zweitens voraus, dass ich mich der Identitätskategorie »Frau« oder »migrantische Person« zuordnen, diese allgemeine Kategorie zum Verständnis meiner Subjektivität also affirmieren kann.
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