Imagination und Klimawandel
von Philipp Auchter»Wer begreift und nicht handelt, hat nicht begriffen.« Der zum Kampfspruch erhobene Satz des verschollenen Umweltaktivisten Bruno Manser bringt ein rätselhaftes Phänomen unserer Gegenwart zur Sprache: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind deutlich. Sie belegen, dass im Kampf gegen den Klimawandel sofortige drastische Maßnahmen notwendig sind, um eine globale Katastrophe abzuwenden. Wir wissen auch, was getan werden könnte. Dennoch sind entsprechende Maßnahmen in der internationalen Politik bisher weitgehend ausgeblieben – und das seit Jahrzehnten. Viele haben begriffen, aber kaum jemand handelt.
Die Einsicht in die mangelnde Verantwortlichkeit der Menschen legt eine Revision dessen nahe, worauf sich demokratische Institutionen grundlegend berufen: die Aufklärung als Fundament des politischen Prozesses. Bruno Mansers paradoxer Satz zweifelt gerade an diesem Nexus von Erkenntnis und Handlungsfähigkeit. Er appelliert an das kulturell verwurzelte Bild des Menschen als vernunftbegabtes, von Erkenntnissen geleitetes Wesen. Doch etwas an dieser vernünftigen Erkenntnis scheint nicht zu funktionieren.
Weshalb handeln wir nicht? Statt von einer erneuten Kritik an Vernunft und Aufklärung ist im gegenwärtigen Diskurs zum Klimawandel vermehrt von einem Versagen der menschlichen Vorstellungskraft zu lesen. So diagnostiziert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh in The Great Derangement »ein tiefgreifendes Versagen von Imagination und Kultur im Herzen der Klimakrise«. Und auch für den amerikanischen Journalisten David Wallace-Wells liegt es an der Vorstellungskraft: »Während der letzten Jahrzehnte ist unsere Kultur mit Zombie-Filmen und Mad Max-Dystopien in die Apokalypse abgedriftet, vielleicht das kollektive Ergebnis einer verdrängten Klima-Angst, doch wenn es darum geht, die realen Gefahren der Erderwärmung zu vergegenwärtigen, so leiden wir an einem unfassbaren Versagen unserer Vorstellungskraft.«
Indem die kulturelle Imagination in Fiktionen überbordet, versagt sie offenbar vor der Realität. Diese Realität macht es uns schwierig genug: Wer sie angemessen begreifen will, sieht sich mit einem Paradigmenwechsel konfrontiert, der in akademischen Kreisen rund um den Begriff des Anthropozäns diskutiert wird. Es ist dies der Versuch, eine neue Epoche zu denken, in der sich die Geschichte der Menschheit in die Tiefenzeiten unseres Planeten einschreibt: Jahrmillionen zurückliegende Ereignisse von Massensterben tauchen unversehens in unserer Gegenwart auf, und der Traum von der Beherrschbarkeit der Natur erweist sich als jene Hybris, als die sie in mythischer Vorzeit einmal galt. Auf diese Realität angemessen zu reagieren, zwingt uns zu einer radikalen Revision unseres kulturellen Selbstverständnisses.
Wäre dies die Arbeit, die es angesichts des Klimawandels von Seiten der Künste und Geisteswissenschaften zu leisten gilt? Könnte tatsächlich die Schwäche unseres Vorstellungsvermögens schuld sein an unserer bisherigen Unfähigkeit zu handeln? Und falls ja, wie könnten wir dieses verändern? Wie ließe sich diese Imagination zuspitzen, um mit ihr gegen die realen Gefahren des Klimawandels ins Feld zu ziehen?
David Wallace-Wells unterscheidet zwei Arten von Imagination: auf der einen Seite die deplatziert hysterischen »Mad Max-Dystopien«, auf der anderen jene Vorstellungen, die für eine politische Reorientierung dienlich wären. Es geht hier also auch um eine Kritik dessen, was die erzählenden Medien in unserer Kultur bisher geleistet haben. Insoweit die Literatur und der Film den Klimawandel in den letzten Dekaden nicht geradewegs ignoriert haben, so der Vorwurf, sind sie in Dystopien abgedriftet, in zwecklose Doomsday-Szenarien – als das Resultat einer »verdrängten Klima-Angst«.
Wallace-Wells’ Diagnose schließt an eine gängige Kritik der Dystopie an: Statt produktiver Lösungsansätze imaginiere die Dystopie nichts weiter als nihilistische Alternativlosigkeit. In Zeiten des globalen Kapitalismus fasst sie die Ausweglosigkeit der Katastrophe in ein ästhetisch überwältigendes Abenteuer, das letztlich bloß neue Normalitäten nach der Katastrophe, aber nicht die »antiklimaktische Temporalität des Klimawandels« zu erzählen vermag. Die Zombie-Fantasien und irrwitzigen Überlebenskämpfe in einer postapokalyptischen globalen Wüste sind eskapistische Schauergeschichten; eine lustvolle Übertreibung, doch letztlich eine Verdrängung und Verfehlung der gegenwärtigen Probleme.
Auf den Nihilismus wird noch zurückzukommen sein. Was Wallace-Wells dagegen zu propagieren scheint, ist die dichotomische Unterteilung der Imagination in einen brauchbaren und einen unbrauchbaren Teil. Indem er die Dystopie kategorisch von der Realität absondert, baut er zugleich das Bild einer korrekten, sinnvollen Imagination auf, die uns präventiv auf die Zukunft vorbereitet. Nicht die ästhetische Erziehung des Menschen, wie sie Schiller einst forderte, wird hier in Anschlag gebracht, sondern eine moralische Indienstnahme der imaginären Kräfte, um den kulturellen Sprung ins Anthropozän zu bewältigen. Diese moralische Umerziehung hätten die Künste und nicht zuletzt die Geisteswissenschaften heute angeblich zu leisten, wenn sie im Wettbewerb um knapper werdende Ressourcen nicht abgeschafft werden wollen.
Vorstellungsschwäche
In seinem vielbeachteten Artikel versucht Wallace-Wells, unserer Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen. Er stellt hierfür den Klimawandel als einen Prozess vor, an dessen Ende die Erde eine unbewohnbare Hölle geworden ist. In einer umfassenden Recherche hat er dafür wissenschaftliche Forschungen und Klimaprognosen zusammengetragen, die aufzeigen, wie sich das Erdklima bis zum Ende dieses Jahrhunderts verändern dürfte, falls aggressive Maßnahmen in den nächsten Jahren ausbleiben.
Doch Kenntnis der Fakten genügt nicht: »Egal wie gut informiert Sie sind, Sie sind bestimmt nicht alarmiert genug.« The Uninhabitable Earth ist mit einem breiten Apparat von Belegen ausgestattet und bemüht, seine Voraussagen zur Klimakatastrophe wissenschaftlich abzusichern. Doch im Gegensatz zu den Berichten der Wissenschaftler, die in ihrer vorsichtigen, kooperativen Ausdrucksweise den Ernst der Lage zwar umfassend benennen, aber nicht imstande sind, ihre Leserschaft aufzurütteln, legt es Wallace-Wells genau darauf an. Er will alarmieren, und er zieht dafür auch jene Szenarien in Betracht, die jenseits der Medianwerte liegen. Die pragmatische Haltung der Politik, die so tut, als wären Prognosen davor sicher, ihre mittleren Szenarien zu übertreffen, beruht seiner Ansicht nach auf einer gefährlichen Selbsttäuschung.
Denn die Erderwärmung birgt verschiedene, ungenügend abzuschätzende Eskalationspotentiale: Mit dem Auftauen des arktischen Permafrosts dürften riesige Mengen an Methan in die Atmosphäre entweichen. Mit dem Abschmelzen der Eisflächen wird in Zukunft weniger Sonnenlicht ins All zurückgespiegelt und mehr Wärme von Wasser und Land absorbiert. Hinzu kommt die steigende Wahrscheinlichkeit von Waldbränden, die weiteres CO2 freisetzen werden. Das sind die Rückkopplungseffekte. Mit ihnen steigt die Gefahr, dass die Erderwärmung außer Kontrolle gerät. Und vor diesem Hintergrund beginnt Wallace-Wells nun, Kapitel für Kapitel die tödlichen Vorstellungsreservoire einer außer Kontrolle geratenen Erderwärmung zu öffnen.