Heft 860, Januar 2021

Imagination und Klimawandel

von Philipp Auchter

»Wer begreift und nicht handelt, hat nicht begriffen.«1 Der zum Kampfspruch erhobene Satz des verschollenen Umweltaktivisten Bruno Manser bringt ein rätselhaftes Phänomen unserer Gegenwart zur Sprache: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind deutlich. Sie belegen, dass im Kampf gegen den Klimawandel sofortige drastische Maßnahmen notwendig sind, um eine globale Katastrophe abzuwenden. Wir wissen auch, was getan werden könnte. Dennoch sind entsprechende Maßnahmen in der internationalen Politik bisher weitgehend ausgeblieben – und das seit Jahrzehnten. Viele haben begriffen, aber kaum jemand handelt.

Die Einsicht in die mangelnde Verantwortlichkeit der Menschen legt eine Revision dessen nahe, worauf sich demokratische Institutionen grundlegend berufen: die Aufklärung als Fundament des politischen Prozesses. Bruno Mansers paradoxer Satz zweifelt gerade an diesem Nexus von Erkenntnis und Handlungsfähigkeit. Er appelliert an das kulturell verwurzelte Bild des Menschen als vernunftbegabtes, von Erkenntnissen geleitetes Wesen. Doch etwas an dieser vernünftigen Erkenntnis scheint nicht zu funktionieren.

Weshalb handeln wir nicht? Statt von einer erneuten Kritik an Vernunft und Aufklärung ist im gegenwärtigen Diskurs zum Klimawandel vermehrt von einem Versagen der menschlichen Vorstellungskraft zu lesen.2 So diagnostiziert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh in The Great Derangement »ein tiefgreifendes Versagen von Imagination und Kultur im Herzen der Klimakrise«.3 Und auch für den amerikanischen Journalisten David Wallace-Wells liegt es an der Vorstellungskraft: »Während der letzten Jahrzehnte ist unsere Kultur mit Zombie-Filmen und Mad Max-Dystopien in die Apokalypse abgedriftet, vielleicht das kollektive Ergebnis einer verdrängten Klima-Angst, doch wenn es darum geht, die realen Gefahren der Erderwärmung zu vergegenwärtigen, so leiden wir an einem unfassbaren Versagen unserer Vorstellungskraft.«4

Indem die kulturelle Imagination in Fiktionen überbordet, versagt sie offenbar vor der Realität. Diese Realität macht es uns schwierig genug: Wer sie angemessen begreifen will, sieht sich mit einem Paradigmenwechsel konfrontiert, der in akademischen Kreisen rund um den Begriff des Anthropozäns diskutiert wird. Es ist dies der Versuch, eine neue Epoche zu denken, in der sich die Geschichte der Menschheit in die Tiefenzeiten unseres Planeten einschreibt: Jahrmillionen zurückliegende Ereignisse von Massensterben tauchen unversehens in unserer Gegenwart auf, und der Traum von der Beherrschbarkeit der Natur erweist sich als jene Hybris, als die sie in mythischer Vorzeit einmal galt. Auf diese Realität angemessen zu reagieren, zwingt uns zu einer radikalen Revision unseres kulturellen Selbstverständnisses.5

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