Investigative Ästhetik
Ermittlungen gegen die dunkle Epistemologie des Post-Truth-Zeitalters von Simon RothöhlerErmittlungen gegen die dunkle Epistemologie des Post-Truth-Zeitalters
Es scheint ein wenig aus der Mode gekommen, Problemkomplexe der Gegenwart mit ästhetischen Konzepten zu adressieren. Schon gar nicht in Erwartung einer besonderen begrifflichen Ressource für etwaige Problemlösungshorizonte. Selbst feuilletonistische Deutungen einschlägiger Topoi der vergangenen Jahre – wie Klimakrise, gesellschaftliche Desintegration, Verschwörungsdenken, Fake News etc. – kamen weitgehend ohne ästhetische Register oder Bezugnahmen aus. Zumindest das war mal anders, denkt man beispielsweise an gar nicht so lange zurückliegende zeitgeistdiagnostische Dauerwarndurchsagen, die »Ästhetisierung« unter anderem für subjektgefährdenden medialen Overload, die generelle Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher Kommunikation und Selbstaufklärung oder gar für mehr oder weniger kompletten »Wirklichkeitsverlust« verantwortlich machen wollten. Plakative Indienstnahmen dieser Spielart wird wohl kaum jemand ernstlich vermissen. Man kann sich aber durchaus fragen, inwiefern deren Verschwinden nicht doch auf eine generelle Relevanzkrise ästhetischer Denkfiguren hindeutet.
Die Ästhetik – als Begriffs- und Theorieangebot – hat sich, so könnte man diese auffällige Erschöpfung auch zusammenfassen, weitgehend in den Kunstbetrieb zurückgezogen. Nach Jahrzehnten der Überbeanspruchung ist sie nun relegiert – wie immer man das nennen möchte: Retreat, safe space, Heimspiel, Rekonvaleszenz. Dort kann sich ästhetische Semantik erholen und wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren: kunstkritische Diskursroutinen mit Sprachspielmaterial versorgen, mit regenerierten Distinktionsdynamiken künstlerische Objekte, Praktiken, Werkzusammenhänge beschreiben und theoretisieren, den Laden (also oftmals: den Markt) am Laufen halten. Ästhetik wird natürlich weiter gebraucht, um mehr oder weniger institutionell gerahmte Gegenstände und Ereignisse aus Traditionsfeldern wie Literatur, Bildende Kunst, Musik oder Theater zu versprachlichen und wie auch immer gearteten Analysen zuzuführen. Aber sonst?
Grundsätzlich ließe sich dieser Befund auch anders herleiten und behaupten, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Rückzug handelt, auch kein Bedeutungs- oder Reichweitenverlust eines vormals privilegierten Vokabulars vorliegt, sondern dass wir es lediglich mit einem Effekt von dessen Allgegenwart zu tun haben. Aus dieser Perspektive hat sich Ästhetik einfach nur zu Tode gesiegt. Kann passieren, zumal diskursiv. Insbesondere in Konsumgesellschaften, in denen rund um die Uhr attraktive Produkte aufgetischt und beworben werden müssen. Man solle sich deshalb keine Sorgen machen (wenn man sich welche machte), einfach jargonkompatibel von »Postästhetik« sprechen und fürs Erste über die relative Unbeobachtbarkeit ubiquitärer Phänomene nachdenken. Wir hätten es also – auf der Phänomenseite wie in diskursiver Hinsicht – eher mit einer vollumfänglichen Veralltäglichung des Ästhetischen zu tun.
Mit Blick auf eine Vielzahl lebensweltlicher Vollzüge mag das vielleicht sogar intuitiv einleuchten. Jedenfalls gehen ästhetische Investments über das klassische konsumästhetische Produktdesign und anhängige werbeästhetische Adressierungen längst weit hinaus. So ist, wo digitale Interfaces Endnutzerinnen involvieren, praktisch jedes Kommunikat, jede Transaktion irgendwie ästhetisch gestaltet, behandelt, beeinflusst. Die Nutzungsangebote des Digitalen erscheinen gerade auf der Ebene alltäglichen Interagierens und Navigierens stets medienästhetisch kalkuliert. Immer mehr Handlungen sind – als soziotechnisch verfasste – immer kleinteiliger ästhetisch vermittelt. Das unterschätzen Theorien, die sich ausschließlich auf die prinzipielle Unanschaulichkeit von Datafizierung und Metrifizierung kaprizieren. Aber wie dem auch sei: Haben wir nicht ohnehin andere Sorgen als Ästhetik?
Allerdings, aber dennoch ist die ideengeschichtlich hergeleitete Mobilisierung ästhetischer Begriffe und Denkfiguren möglicherweise weiterhin produktiv, analytisch und interventionistisch, lautet die Antwort von Matthew Fuller und Eyal Weizman in Investigative Aesthetics. Einerseits reflektiert das vergangenen Herbst erschienene Buch die weithin gewürdigte investigativ-aktivistische Praxis der künstlerischen Forschungsagentur Forensic Architecture, die Eyal Weizman, der am Londoner Goldsmith College auf einer Professur für Spatial and Visual Cultures lehrt, 2010 mitbegründet hat. Personell divers zusammengesetzt aus einer langen Liste von Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Architekten, Künstlerinnen, Informatikern, Software-Designerinnen, Anwälten zielen die »gegenforensischen« Investigationen der vielfach ausgezeichneten und in jeder Hinsicht exzellent vernetzten Artistic-Research-Gruppe in erster Linie auf zivilgesellschaftlich motivierte Ermittlungen zu kriminellen Handlungen vorwiegend staatlicher oder staatsnaher Akteure.
Ein Blick auf die Webplattform von Forensic Architecture zeigt das eindrucksvolle Spektrum an Fallstudien: von systemisch-rassistischer Polizeibrutalität in den USA über Kriegsverbrechen im Nahen Osten, Afghanistan und Pakistan bis zu täglich stattfindenden Menschenrechtsverletzungen durch »pushbacks« an den Außengrenzen der Europäischen Union. Der zentrale Output der datenintensiven, auf Leaks, Open Source Intelligence (OSINT) und profunder digitaltechnischer Expertise basierenden Recherchen – darunter Kooperationen mit NGOs oder verwandten Initiativen wie Bellingcat – besteht in skrupulös dokumentierten Videos, die aus unterschiedlichsten Quellen zusammengetragene Evidenzen entfalten.
Der angewandte digitale Werkzeugkasten ist bemerkenswert avanciert: So kommen virtuelle 3D-Modellierungen und Photogrammetrie-Software genauso zum Einsatz wie auch KI-Techniken maschineller Bilddatenauswertung. Rund achtzig Projekte stehen bislang zu Buche, verteilt über den ganzen Globus: von Quiché (Guatemala), Saidnaya (Syrien), Karatschi (Pakistan) bis zu Ilowajsk (The Battle of Ilovaisk: Verifying Russian Military Presence in Eastern Ukraine), Chicago (The Killing of Harith Augustus), Kassel (The Murder of Halit Yozgat) und Hanau (Racist Terror Attack in Hanau: The Arena Bar).
Forensische Ästhetik und das Elend der Kritik
Die stets mitlaufende theoretische Reflexion der investigativen Praktiken als dezidiert ästhetische gehörte von Beginn an zum Selbstverständnis von Forensic Architecture. Und das nicht nur aufgrund einer unbestrittenen Nähe zu aktuellen Artistic-Research-Großtrends. So wird in dem immer noch sehr lesenswerten Essay Mengele’s Skull, den Weizman mit Thomas Keenan verfasst hat, ein aisthetischer Begriff der Forensik entwickelt, der von einer etymologischen Spur ausgeht: dem lateinischen forensis, »zum Forum gehörend«. Bezeichnet ist damit zunächst ganz unmittelbar der Marktplatz, der im antiken Rom eine öffentliche Bühne für Gerichtsverfahren, Urteilsverkündungen und auch Strafvollzüge war. Dort, auf dem Forum, wird juridische Wahrnehmbarkeit erzeugt, fallbezogene Sichtbarkeit verteilt, können zu Urteilen führende Fakten »gemacht« werden. In den Worten der Autoren klingt das so: »Aesthetics, as the judgments of the senses, is what rearranges the field of options and their perceived likelihood and cuts through probability’s economy of calculation […] Decision in law and in politics, if it is worthy of its name, cannot but be undertaken in excess of calculation; otherwise, judgment is simply a mechanical operation […] Decision relies on aesthetic operations – that is, on the way and order by which things and events appear to us.« Entscheidungsfindung und Urteilskraft sind demzufolge an Fragen der Wahrnehmbarkeit gebunden, die als solche unkalkulierbar sein soll. Die Ästhetik der Forensik bezeichnet in diesem Zusammenhang also zunächst die aisthetischen Modalitäten des Erscheinenlassens von Evidenzmaterialien, die auf dem Forum, dem »forensischen Schauplatz« (Cornelia Vismann), einen Unterschied machen können.
Dass es auf dem Forum um ästhetische Prozesse und Praktiken geht, ergibt sich so gesehen allein schon aus der Tatsache, dass die Ereignisse und Handlungen, die Gegenstand der Verhandlung werden, auf die sich Verfahren und Urteile beziehen, in der Vergangenheit liegen, aktuell nicht (mehr) unvermittelt wahrnehmbar, mithin historisch sind. Es handelt sich also zunächst um Wahrnehmungsvorgänge der Evokation und Vergegenwärtigung, Sichtbarmachung und Re-Präsentation. Dabei sind die ästhetischen Praktiken der Forensik zugleich epistemische – mit Blick auf die investigative Sichtung, Identifizierung, Auswahl, Zusammenstellung von Evidenzmaterial, das an Tatorten gesichert und in Laboren mitunter mikroskopisch untersucht wird, aber auch bezüglich der skizzierten forenöffentlichen Mobilisierung. Letzteres, die Herstellung von Foren für Evidenzen, ist aus dieser Perspektive also nicht nachrangig, sondern integral. Grundsätzlich bezieht sich der Begriff »Ästhetik« in diesem Kontext somit auf medienästhetische Prozesse, wie Weizman im manifestartigen Methodenbuch der Gruppe betont hat.
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