Heft 900, Mai 2024

Islam und Antisemitismus

von Manfred Sing

Warum sind in der islamischen Welt antisemitische Denkmuster bis hin zu offenem Judenhass derart weit verbreitet? In den öffentlichen Debatten der Gegenwart begegnen uns zwei sehr unterschiedliche Erklärungen dafür. Die eine behauptet, in den 1930er Jahren seien unter dem Einfluss Amin al-Husseinis, des Muftis von Jerusalem, Nazi-Propaganda und die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder auf fatale Weise miteinander verschmolzen. Seitdem komme, laut Matthias Küntzel, auf tödliche Weise eine spezifische und historisch begründete islamische »Degradierung« von Juden zum Tragen. Die zweite Erklärung, vorgetragen etwa von Abdel-Hakim Ourghi, unterstellt eine tiefe Verwurzelung der Judenfeindschaft »im Islam« selbst. Der Antisemitismus sei bereits im Koran angelegt, reiche historisch also bis in das siebte Jahrhundert zurück.

Es gibt gute Gründe, beiden Erklärungen zu widersprechen. Hochproblematisch ist bereits die Umstandslosigkeit, mit der sie dem Palästinakonflikt bei der Ausbreitung des Antisemitismus unter Arabern oder Muslimen eine untergeordnete Rolle zuweisen. Historisch spricht dagegen schon die beispiellose Häufung antijüdischer Aktionen sowie antisemitischer Äußerungen nach 1945, die eindeutig als Reaktion auf die zionistischen Besiedlungspläne zu werten sind. Unmittelbar nach der Abstimmung über den UN-Teilungsplan im November 1947 kam es zu mehreren Pogromen, etwa im Jemen, wo Juden seit drei Jahrtausenden gelebt hatten und das Land nun binnen drei Jahren fast komplett verließen.

Ähnlich verlief der Exodus der größten jüdischen Gemeinschaft des arabischen Ostens. Im irakischen Königreich wurde im September 1948 der reichste jüdische, aber antizionistisch eingestellte Kaufmann Shafiq Ades ohne Vorlage von Beweisen als Kommunist und Verräter verurteilt und unter dem Jubel eines Mobs vor seinem Haus erhängt, da er angeblich Handel mit Israel betrieben habe. Im Monat darauf entließ die Regierung 1500 Juden aus dem Staatsdienst, in den Jahren 1950 und 1951 drängte sie monatlich Tausende zur Auswanderung, einerseits um den jungen Staat Israel vor logistische Probleme zu stellen und andererseits, um sich ihres Besitzes zu bemächtigen. Selbst noch die irakische Baath-Partei statuierte direkt nach ihrer Machtergreifung ein Exempel an angeblichen israelischen Spionen und ließ 1969 neun Juden, drei Muslime und zwei Christen öffentlich erhängen. Weitere Hinrichtungen folgten, so dass bis Anfang der siebziger Jahre auch fast alle noch verbliebenen Juden das Land verlassen hatten.

In all diesen Fällen war für die gewalttätige Eskalation nicht etwa der Islam oder der Islamismus, sondern nationalistischer Furor verantwortlich. Auch die größten jüdischen Gemeinschaften Nordafrikas emigrierten erst im Zuge der nationalen Unabhängigkeit Marokkos, Algeriens und Tunesiens ab Mitte der 1950er Jahre oder in den sechziger Jahren nach Frankreich oder Israel. Das hing auch damit zusammen, dass arabische Juden im Gegensatz zu Muslimen in französischen Kolonialgebieten voraussetzungslos Staatsbürger werden konnten. Im Zuge der Unabhängigkeitsprozesse wurden sie daher von arabischen Nationalisten beargwöhnt und der Kollaboration mit den Kolonialherren geziehen.

Mit der Niederlage arabischer Staaten im Sechstagekrieg 1967 übernahmen dann palästinensische Gruppen den bewaffneten Kampf gegen Israel und ließen befreiungsnationalistischen Ideen auch antisemitische Taten folgen, so etwa im Zuge der Geiselnahmen beim Olympia-Attentat 1972 in München, beim Ma’alot-Schulmassaker 1974 oder bei der Flugzeugentführung nach Entebbe 1976, bei der »jüdische« Passagiere dem Namen nach von nichtjüdischen getrennt wurden. Erst als die PLO nach zwei Jahrzehnten mehrheitlich zu Friedensverhandlungen umschwenkte, kamen die bis dato unpolitischen palästinensischen Muslimbrüder ins Spiel und gründeten 1988 die Hamas als Gruppierung, die die Ablehnung des Friedensprozesses in ein grünes Mäntelchen kleidete.

Die Islamisierung des Antisemitismus erfolgte bereits zuvor, insbesondere im Zuge der Islamischen Revolution in Iran (1978/79). Chomeini bezeichnete die USA und Israel als den »großen« und »kleinen Satan« und rief schon 1979 den al-Quds-Tag zur Befreiung Jerusalems aus. In diesem Kontext entstand nicht nur die Hisbollah im Libanon, auch Holocaust-Leugnung wurde geduldet, und Wettbewerbe zu Holocaust-Karikaturen (2006 und 2016) wurden als Ausdruck von Meinungsfreiheit gefeiert. Ein vergleichbares antisemitisches Ideengemisch findet sich auch bei neueren sunnitischen Dschihad-Gruppen wie etwa al-Qaida, die sich seit ihrer Kehrtwende gegen die USA in den 1990er Jahren in einem Kampf gegen eine »Allianz aus Kreuzfahrern und Zionisten« wähnt.

Muslimisch-jüdische Beziehungen

Die Tragik dieser Konfliktdynamik liegt darin, dass die zionistische Bewegung eine dauerhafte Antwort auf das Problem von Antisemitismus und Ausgrenzung in Europa suchte und so den Palästinakonflikt verursachte. In diesem realen Konflikt griffen wiederum viele arabische und muslimische Akteure auf genau dieselben irrealen antisemitischen Denkmuster zurück, auf die der Zionismus überhaupt erst als Reaktion entstanden war, wie etwa der Islamwissenschaftler Michael Kiefer herausgearbeitet hat. Der reale Konflikt um das Gebiet Palästina wurde dadurch entgrenzt und – in Gestalt der »jüdischen Lobby« – zu einer Allerklärung für die Malaise arabischer und islamischer Gesellschaften ausgeweitet. Und nicht zuletzt zog der Konflikt die arabischen Juden in Mitleidenschaft, die dem Zionismus als einer Bewegung europäischer Juden anfangs oftmals recht distanziert gegenüberstanden.

Denn über die Jahrhunderte gesehen gab es im Islam, im Gegensatz zum Christentum, keinen strukturellen Antijudaismus. Juden wurden nicht systematisch entrechtet, verfolgt, verbannt, verächtlich gemacht und getötet (was nicht heißt, dass es in Einzelfällen nicht auch zu Gewalttaten gekommen wäre). Juden waren bis ins 19. Jahrhundert mit muslimischen Untertanen zwar keineswegs gleichgestellt, galten aber bei Entrichtung einer Kopfsteuer grundsätzlich als Schutzbefohlene (dhimma). Im ersten islamischen Gemeinwesen in Medina wurden die Juden sogar als Teil der (islamischen) Gemeinschaft (umma) aufgefasst. Als die Araber 638 Jerusalem eroberten, wurde ihnen nach rund fünf Jahrhunderten Verbannung die Rückkehr erlaubt.

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