Islam und Antisemitismus
von Manfred SingWarum sind in der islamischen Welt antisemitische Denkmuster bis hin zu offenem Judenhass derart weit verbreitet? In den öffentlichen Debatten der Gegenwart begegnen uns zwei sehr unterschiedliche Erklärungen dafür. Die eine behauptet, in den 1930er Jahren seien unter dem Einfluss Amin al-Husseinis, des Muftis von Jerusalem, Nazi-Propaganda und die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder auf fatale Weise miteinander verschmolzen. Seitdem komme, laut Matthias Küntzel,1 auf tödliche Weise eine spezifische und historisch begründete islamische »Degradierung« von Juden zum Tragen. Die zweite Erklärung, vorgetragen etwa von Abdel-Hakim Ourghi,2 unterstellt eine tiefe Verwurzelung der Judenfeindschaft »im Islam« selbst. Der Antisemitismus sei bereits im Koran angelegt, reiche historisch also bis in das siebte Jahrhundert zurück.
Es gibt gute Gründe, beiden Erklärungen zu widersprechen. Hochproblematisch ist bereits die Umstandslosigkeit, mit der sie dem Palästinakonflikt bei der Ausbreitung des Antisemitismus unter Arabern oder Muslimen eine untergeordnete Rolle zuweisen. Historisch spricht dagegen schon die beispiellose Häufung antijüdischer Aktionen sowie antisemitischer Äußerungen nach 1945, die eindeutig als Reaktion auf die zionistischen Besiedlungspläne zu werten sind. Unmittelbar nach der Abstimmung über den UN-Teilungsplan im November 1947 kam es zu mehreren Pogromen, etwa im Jemen, wo Juden seit drei Jahrtausenden gelebt hatten und das Land nun binnen drei Jahren fast komplett verließen.
Ähnlich verlief der Exodus der größten jüdischen Gemeinschaft des arabischen Ostens.3 Im irakischen Königreich wurde im September 1948 der reichste jüdische, aber antizionistisch eingestellte Kaufmann Shafiq Ades ohne Vorlage von Beweisen als Kommunist und Verräter verurteilt und unter dem Jubel eines Mobs vor seinem Haus erhängt, da er angeblich Handel mit Israel betrieben habe. Im Monat darauf entließ die Regierung 1500 Juden aus dem Staatsdienst, in den Jahren 1950 und 1951 drängte sie monatlich Tausende zur Auswanderung, einerseits um den jungen Staat Israel vor logistische Probleme zu stellen und andererseits, um sich ihres Besitzes zu bemächtigen. Selbst noch die irakische Baath-Partei statuierte direkt nach ihrer Machtergreifung ein Exempel an angeblichen israelischen Spionen und ließ 1969 neun Juden, drei Muslime und zwei Christen öffentlich erhängen. Weitere Hinrichtungen folgten, so dass bis Anfang der siebziger Jahre auch fast alle noch verbliebenen Juden das Land verlassen hatten.