Heft 907, Dezember 2024

Keine Zeit

Zum Verhältnis von politischen Entscheidungen und sozialem Wandel von Steffen Mau

Zum Verhältnis von politischen Entscheidungen und sozialem Wandel

Die Initiation, Organisation und Bewältigung beschleunigten sozialen Wandels setzen Gesellschaften unter Stress. Anders als in relativ statischen Gesellschaften mit eingeführten Routinen, etablierten Arrangements und weithin akzeptierten Befriedungsformeln brechen in Wandlungsgesellschaften viele Konflikte auf. Zugleich steht die Politik unter Zugzwang, muss schnell Entscheidungen treffen und Weichenstellungen vornehmen, will sie nicht vom Lauf der Dinge überrollt werden. Die Politik ist zugleich Getriebene wie auch Treiberin des gesellschaftlichen Wandels. Mal tritt sie auf die Bremse, um einen Aufprall oder ein Aus-der-Kurve-Rutschen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhindern, mal beschleunigt sie, um gewünschte oder notwendige Entwicklungen herbeizuführen.

Das Verhältnis von Politik und sozialem Wandel können wir uns als notorisch prekär vorstellen. Nur selten sind sie im Gleichklang und finden einen gemeinsamen Takt. Die Analyse politischer Entscheidungsfindung changiert nicht nur deshalb zwischen den Vorwürfen der Entscheidungsverweigerung einerseits und der Kritik an falschen oder irrationalen Entscheidungen andererseits. Politik steckt ja in der merkwürdigen Zwickmühle, zwar Entscheidungskompetenz simulieren zu müssen, aber zugleich in zahlreichen (rechtlichen, sachlichen, sozialen, organisationalen und politischen) Zwängen zu stecken, welche die Entscheidungsspielräume massiv einschränken. Sie kann also über die Grundlagen von Entscheidungen nicht frei disponieren – es gibt keinen »freien politischen Willen«.

Entscheidungen sind aber nicht nur restringiert, so dass die politischen Akteure nur geringe Beinfreiheit haben und freies Malen im Grunde ausgeschlossen ist, sie sind auch zunehmend einem myopischen Politikmodus anheimgegeben, der sich vor allem am Gegenwärtigen abarbeitet. Man könnte von reaktiver Stehgreifpolitik oder von politischem Adhocismus reden. Man hat zwar Parteiprogramme, Koalitionsvereinbarungen und mittelfristige Veränderungsabsichten, doch dann kommen die großen und die kleinen Krisen immer wieder dazwischen (Corona, Russlands Krieg in der Ukraine etc.): Politik muss dann Entscheidungen treffen, die sie nicht vorhergesehen hat und für die es weder eine programmatische Fundierung noch eine durchdachte Blaupause gibt.

Sozialer Wandel

Unter sozialem Wandel fassen wir alle Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen und Funktionsweisen, die die Lebensweisen, Handlungsroutinen und Orientierungen von Individuen dauerhaft beziehungsweise langfristig verändern. Gesellschaften wandeln sich fortwährend, oft ohne dass wir es bemerken: innerhalb von Lebensläufen, aber auch über Generationen hinweg. Veränderungen der Geburtenrate oder eine Verlängerung der Lebenserwartung würden vermutlich trotz wichtiger Folgen für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang nicht als sozialer Wandel wahrgenommen werden (obwohl sie es de facto sind). Für die Wirkung auf die Gesellschaft kommt es auf das Ausmaß, die Richtung, die Reichweite und die Tiefe des Wandels an, etwa dass er bedeutsam ist oder als bedeutsam wahrgenommen wird. Auch die Zeitspanne, in dem Wandel passiert – also die Veränderungsrate –, ist relevant, denn ob Gesellschaften in der Lage sind, Wandel zu verarbeiten und sich anzupassen, ist auch eine Frage des »wie viel« und des »wie schnell«. Inkrementeller Wandel, also der Wandel in kleinen Schritten, ist oftmals unproblematisch, disruptiver oder transformativer Wandel hingegen in der Regel sozial umkämpft.

Man könnte die zwei Wandlungstypen vielleicht mit einem Fluss vergleichen, der ja auch beständig durch sein Flussbett fließt und doch nie derselbe ist: Fließgeschwindigkeit, Wasserstand oder Flora und Fauna ändern sich beständig, und doch würden wir erst dann eine wirkliche grundlegende Veränderung konstatieren, wenn sich beispielsweise das Flussbett verschiebt. Es gibt seit Parsons die bekannte Unterscheidung von Wandel innerhalb von Systemen und dem Wandel von Systemen. Wenn man sich beispielsweise ein sozialstrukturelles Positionsgefüge vorstellt, könnte man sagen, dass es durch soziale Mobilität eine Bewegung von Menschen zwischen unterschiedlichen (und relativ stabilen) Positionen gibt, was zu Veränderungen führt, aber fundamentaler sozialer Wandel erst dann stattfindet, wenn sich das Positionsgefüge insgesamt verändert. Es gibt also auch Wandel innerhalb der gegebenen Strukturen, andererseits Wandel als Umwandlung von Strukturen, Institutionen, Regeln etc.

Aber selbst bei dem genannten Beispiel ist die genaue Markierung des Übergangs nicht einfach. Wir würden ja auch von sozialem Wandel sprechen, wenn im Positionsgefüge alles stabil bleibt, aber nun plötzlich Arbeiterkinder und nicht Kinder aus dem Wirtschaftsbürgertum Konzernlenker und DAX-Vorstände würden. Hinzu kommt, dass wir viele Veränderungsprozesse kennen, die sich kumulativ aufschichten oder durch das Erreichen von tipping points aus langfristigem Wandel in eine gesellschaftliche Diskontinuität hineingeraten. Mit anderen Worten: Vieles hat sich schon verändert, es braucht aber ein auslösendes Moment, um diesen Wandel in einen anderen sozialen Aggregatzustand zu überführen. Inkrementeller Wandel kann sich also zu fundamentalem Wandel aggregieren; manchmal sprechen wir deshalb von »stillen Revolutionen«.

Warum sich Gesellschaften mit Wandel so schwertun, liegt eigentlich auf der Hand. Wir alle sind in unseren sozialen Rollen, den normativen Erwartungen, den zukunftsbezogenen Entscheidungen oder in unseren sozialen Beziehungen auf ein gewisses Maß an Kontinuität angewiesen. Sozialer Wandel, wenn er plötzlich und nicht über Generationen geschieht, ist ein Kontinuitätsbruch, er ist ein Destabilisierungsereignis, das eingespielte Verhältnisse derangiert und aus dem Gleis wirft. Je nach Position, Ressourcen und Verarbeitungskapazitäten kann dieser Wandel als optionserweiternd oder als risikoreich, gefährlich und belastend wahrgenommen werden. Nicht überraschend interpretieren Menschen Wandlungsprozesse häufig in Gewinn- oder Verlustkategorien und positionieren sich entsprechend. Hinzu treten Veränderungen von Sinnbezügen und Anerkennungsformen, die Einfluss darauf haben, ob eine Umwälzung als problematisch oder auch als chancenmehrend oder sogar emanzipatorisch wahrgenommen wird. Wandlungsprozesse sind immer auch Prozesse der Umwertung dessen, was als anerkannt und gesellschaftlich wertvoll angesehen wird oder eben nicht.

Zeitlichkeitsverhältnisse: Zur Kopplung von Politik und Gesellschaft

Wie aber gestalten sich die Zeitbeziehungen von Politik und Gesellschaft? Wie verknüpft sich sozialer Wandel mit politischen Entscheidungen? Welche Geschwindigkeitsverhältnisse herrschen vor, und mit welchen Implikationen? Ich beginne mit einer eher formalen Taxonomie, die die denkbaren temporalen Beziehungsverhältnisse erfasst.

Politische Entscheidungen können gesellschaftlichen Wandel nachvollziehen beziehungsweise ihm nachlaufen. Das sind Konstellationen, in denen gesellschaftliche Veränderungen schon am Laufen sind – demografischer Wandel, Liberalisierung, Wertewandel –, nun arbeitet die Politik nach. Ein Beispiel wäre sicherlich die späte politische Entscheidung für die Ehe für alle, die gesellschaftlich schon längst von großen Mehrheiten akzeptiert war, als die Politik sie gesetzlich verankerte. Dies ist in der Regel ein unproblematisches adaptives politisches Entscheiden. Hier droht eher die Gefahr der Verschleppung oder der Aufrechterhaltung eines gesetzlichen Korsetts, das der Gesellschaft aufgrund von Veränderungsprozessen schon längst nicht mehr passt.

Der zweite, weitgehend unproblematische Fall ist die Taktung oder Gleichzeitigkeit von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichem Wandel. Beide sind aufeinander bezogen, ganz organisch ergibt sich ein Zusammenwirken von gesellschaftlichen Veränderungen und politischer Entscheidungsfindung. Dieser Fall wirft relativ wenige Probleme auf, Politik und Gesellschaft stehen in einem entspannten Verhältnis zueinander. Die Politik fällt die Entscheidungen, die die Gesellschaft braucht, um sich zu verändern, drängt ihr sozialen Wandel aber nicht auf.

Der dritte Fall ist der des politisch indizierten Wandels, der auf eine veränderungsunwillige, träge oder einfach nur routinisierte Gesellschaft trifft. Hier macht nicht die Gesellschaft Druck auf die Politik, sondern die Politik macht Druck auf die Gesellschaft, will deren Veränderung anreizen, vorantreiben oder erzwingen und Beharrungskräfte überwinden. Das ist auf der Ebene gesetzgeberischer Einzelmaßnahmen (zum Beispiel im Steuerrecht) recht unproblematisch und fortwährendes politisches Geschäft, aber viel anspruchsvoller, wenn soziale Handlungsroutinen, Selbstverständnisse, latente kulturelle Muster oder soziale Arrangements herausgefordert werden. Man könnte sagen: Je größer der politische Veränderungsschnitt, desto schwieriger die gesellschaftliche Vermittlung politischer Entscheidungen. Andererseits gibt es die verbreitete, aus der Technologieforschung stammende Vorstellung eines »cultural lag«, also eines zeitlich nachgeordneten kulturellen Nachvollziehens von Innovationen oder systemischen Veränderungen. Diese Denkfigur wird zwar mitunter auf politische Entscheidungen übertragen, dies wird der Sache aber kaum gerecht.

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