Kinderland
von Anne RabeSommer 2019. Nördlich von Stockholm sitze ich auf der Terrasse des Ferienhauses und blicke auf die windstille Ostsee, als Franzi anruft. Am Tag zuvor hatte ich ihr einen Text von mir geschickt, in dem auch sie vorkommt. Um über unsere gemeinsame Kindheit weiterschreiben zu können, möchte ich mir ihre Erlaubnis einholen. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagt sie, und dann beginnen wir zu reden.
Das Jahr, in dem sich die Öffnung der Berliner Mauer zum dreißigsten Mal jährt, beginnt für mich mit einem Buch. Im Februar war Ines Geipels Umkämpfte Zone – mein Bruder, der Osten und der Hass erschienen. Geipel beschreibt die Gewaltgeschichte des Ostens. Bis zum Fall der Berliner Mauer hat der Teil des Landes, der noch immer als »die neuen Bundesländer« umrissen wird, von 89 Jahren des 20. Jahrhunderts 56 als Diktatur durchlebt. Eine lange Geschichte menschenverachtender Gewalt und Millionen Varianten, diese zu beschweigen.
Im Fernsehen aber beginnt 2019 die Honni-Horror-Picture-Show. Man möchte an die guten Momente erinnern. Kati Witt, das schönste Gesicht des Ostens, Urlaub am Plattensee ohne viel Schnickschnack, das Ost-Sandmännchen, das es nach der Wende auch ins Westfernsehen geschafft hatte, und immer wieder die Medaillen. Wenig Platz findet die harte Realität der sozialistischen Diktatur. Die tödlichen Fluchtversuche, Bautzen, Hoheneck, Jugendwerkhöfe und das Zwangsdoping an Tausenden von Kindern.
Nun soll vor allem die schwierige Zeit nach der glücklichen Novembernacht betrachtet werden. Eine Aufarbeitung der Treuhandgeschichte wird gefordert, denn auf der Politik lastet der Druck der kommenden Landtagswahlen. Spätestens seit Pegida 2014 in Dresden mit ihren islam- und ausländerfeindlichen Demonstrationen begann, ist nicht mehr zu leugnen, dass der Osten Deutschlands eine eigene politische Temperatur hat. Während die Zustimmungswerte im Westen mit dem Aufstieg des völkisch-nationalen Flügels der Alternative für Deutschland schon bei den Europawahlen im Mai deutlich sinken, legen die blaugefärbten Braunen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen so kräftig zu, dass ein AfD-Ministerpräsident in allen drei Ländern möglich scheint.
So weit kommt es zum Glück im Herbst dann nicht, aber das Bekenntnis zur extremen Rechten liegt nun in den fünf ostdeutschen Bundesländern stabil bei oft weit über 20 Prozent. Anders als das gängige Klischee will, findet die AfD ihre Wähler keineswegs vor allem unter alten weißen Männern. Es sind die Alten (fünfundsechzig plus), die mit großer Mehrheit entweder CDU, SPD oder Die Linke auf den ersten Platz wählten. In allen jüngeren Altersgruppen konnte die AfD die meisten Stimmen für sich verbuchen.
Ich frage mich, woher das kommt. Woher wir kommen. Warum haben auch die Jungen, die in den achtziger oder neunziger Jahren geboren wurden, dieses Gefühl, »Bürger zweiter Klasse« zu sein, das als Ursache für das Wahlergebnis in den Analysen immer wieder auftaucht? In einer Umfrage der Sächsischen Zeitung vor der Landtagswahl im Herbst stimmten auch 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dieser These zu. Diejenigen also, die als BRD-Bürger geboren und ohne Diktaturerfahrung aufgewachsen sind.
Ich bin Jahrgang 1986. Kaum hatte ich die sozialistische Namensweihe empfangen, war ich ein Wendekind. Die Erinnerungen an das Land, das meine Geburt beurkundet hat, sind blass. Die Fahnen zum vierzigsten Jahrestag. Kindergartenlieder. Der mit Flieder behangene Besenstiel zum Kindertag. Und meine vorsichtige Frage an der Hand meiner Mutter: »Leben wir in Deutschland?« – »Nein, sagte sie, »wir leben in der DDR.«
Wenn ich an meine Kindheit in Mecklenburg denke, fallen mir sofort die ersten Takte eines Kinderlieds des sächsischen Liedermachers Gerhard Schöne ein – Kinderland. Bedrohlich wirken die Geigen, die das Lied einleiten, das Schöne dann mit sanfter Stimme vorträgt: »Hinter dem Affenstrand, kurz vorm Schlaraffenland, da liegt Kinderland …« Ein Land, in dem Kinder alles dürfen, weil kein Erwachsener sie gängelt. »Wer da hin will, hebt die Hand. Nach Kinderland.« Mein Kinderland waren die neunziger Jahre an der mecklenburgischen Ostsee, eine Landschaft, in der wir Kinder uns alleine einen Weg durch die Zeit suchen mussten.
In Schweden wird es allmählich dunkel. Franzi und ich legen noch nicht auf. Es ist das erste Mal, dass wir über unsere Schulzeit sprechen und über die DDR. Wir erinnern uns an eine Schulzeit, deren Brutalität uns zwischen unseren Sätzen schlagartig bewusst wird, als wären wir schon lange Träger desselben Geheimnisses und hätten jetzt erst bemerkt, dass wir damit nicht allein waren. Wir denken nicht nur an die Tatsache, dass Neonazis Spielplätze, Jugendclubs und ganze Straßenzüge besetzten, wie es seit Herbst 2019 auf Twitter unter dem Hashtag »baseballschlägerjahre« beschrieben wird. Wir denken an das Schweigen der Erwachsenen, die auf vieles wohl selbst keine Antwort hatten.
Ich erinnere mich zum Beispiel an 1992, den Weg unserer Hortgruppe von der Grundschule zum Hortgebäude. Nachdem uns eine Erzieherin ein paar Mal begleitet hatte, sollten wir die Strecke nun allein zurücklegen. Dabei kamen wir an einem Kiosk vorbei, der es mit dem Jugendschutzgesetz nicht so streng nahm. Hier konnte jeder tanken, was er wollte. Vor diesem Kiosk stand häufig eine Gruppe von jugendlichen Neonazis rum, die sich freute, wenn wir an ihr vorbeimussten. Denn zu unserer Hortgruppe gehörte auch ein vietnamesisches Mädchen. Sie kreisten uns ein und begannen, das Mädchen zu beschimpfen. Unsere Versuche, sie zu verteidigen, belustigten die Kahlköpfe. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, in dem ein erwachsener Passant auf die Idee gekommen wäre, uns Erstklässlern zu helfen.
Im Gegensatz zu unseren Eltern konnten wir ganz gut erkennen, ob es sich um linke oder rechte Springerstiefelträger handelte. Man erkannte es an den Schnürsenkeln. Waren sie weiß, handelte es sich auf jeden Fall um Nazis. Rote Schnürsenkel hingegen waren die ungefährlichen Ois oder Redskins. Die Erwachsenen hatten keine Zeit, sich um solche Feinheiten zu kümmern. Sie fanden eh, dass das mit den Nazis zu sehr hochgekocht wird. Sie hatten andere Sorgen. Viele wurden arbeitslos, manche Berufe verschwanden ganz. Bei anderen war die Rente existenzbedrohend knapp.
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