Heft 858, November 2020

Kinderland

von Anne Rabe

Sommer 2019. Nördlich von Stockholm sitze ich auf der Terrasse des Ferienhauses und blicke auf die windstille Ostsee, als Franzi anruft. Am Tag zuvor hatte ich ihr einen Text von mir geschickt, in dem auch sie vorkommt. Um über unsere gemeinsame Kindheit weiterschreiben zu können, möchte ich mir ihre Erlaubnis einholen. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagt sie, und dann beginnen wir zu reden.

Das Jahr, in dem sich die Öffnung der Berliner Mauer zum dreißigsten Mal jährt, beginnt für mich mit einem Buch. Im Februar war Ines Geipels Umkämpfte Zone – mein Bruder, der Osten und der Hass erschienen. Geipel beschreibt die Gewaltgeschichte des Ostens. Bis zum Fall der Berliner Mauer hat der Teil des Landes, der noch immer als »die neuen Bundesländer« umrissen wird, von 89 Jahren des 20. Jahrhunderts 56 als Diktatur durchlebt. Eine lange Geschichte menschenverachtender Gewalt und Millionen Varianten, diese zu beschweigen.

Im Fernsehen aber beginnt 2019 die Honni-Horror-Picture-Show. Man möchte an die guten Momente erinnern. Kati Witt, das schönste Gesicht des Ostens, Urlaub am Plattensee ohne viel Schnickschnack, das Ost-Sandmännchen, das es nach der Wende auch ins Westfernsehen geschafft hatte, und immer wieder die Medaillen. Wenig Platz findet die harte Realität der sozialistischen Diktatur. Die tödlichen Fluchtversuche, Bautzen, Hoheneck, Jugendwerkhöfe und das Zwangsdoping an Tausenden von Kindern.

Nun soll vor allem die schwierige Zeit nach der glücklichen Novembernacht betrachtet werden. Eine Aufarbeitung der Treuhandgeschichte wird gefordert, denn auf der Politik lastet der Druck der kommenden Landtagswahlen. Spätestens seit Pegida 2014 in Dresden mit ihren islam- und ausländerfeindlichen Demonstrationen begann, ist nicht mehr zu leugnen, dass der Osten Deutschlands eine eigene politische Temperatur hat. Während die Zustimmungswerte im Westen mit dem Aufstieg des völkisch-nationalen Flügels der Alternative für Deutschland schon bei den Europawahlen im Mai deutlich sinken, legen die blaugefärbten Braunen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen so kräftig zu, dass ein AfD-Ministerpräsident in allen drei Ländern möglich scheint.

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