Heft 906, November 2024

Können Konservative verzichten?

von Thomas Biebricher

Alles fing damit an, dass Robert Habeck, damals noch als nachdenklicher Politikerklärer und -macher gelobt, darüber sinnierte, dass man angesichts der Energiekrise doch vielleicht etwas kürzer duschen könnte. Da platzte Markus Söder der Kragen: Im Gespräch mit dem Spiegel befand der bayerische Ministerpräsident: »Die Wahrheit liegt nicht in der Dusche« und gab zu Protokoll, dass ihm die ewigen Verzichtsappelle der Grünen zusehends auf die Nerven gingen.1 Das war Mitte 2022, und seitdem hat sich zwar vieles dramatisch verändert, Habecks Beliebtheitswerte etwa, aber manches auch überhaupt nicht, wie etwa die Stoßrichtung der Kritik an einer vermeintlichen grünen Verbotspolitik und eben jenen Verzichtsappellen: Nicht nur auf Fleisch und den regelmäßigen Kurztrip nach Mallorca sollten die Menschen nun verzichten, wenn es nach den Grünen gehe, sondern sogar auf diskriminierende Sprache. So empört man sich regelmäßig rechts der Mitte von Kubicki über Dobrindt und Merz bis hin zur Rechtsaußenfraktion um Weidel und Chrupalla. Und handelt es sich hier nicht tatsächlich um das Bedrohungsszenario einer neuen Kultur der (erzwungenen) Askese, ins Werk gesetzt von alarmistischen Weltverbesserern und unterstützt von akademischen Zuarbeitern, die dem Ganzen auch noch die normative Legitimation verschaffen? Man denke etwa an Philipp Lepenies’ ebenfalls 2022 erschienenes Buch Verbot und Verzicht, in dem behauptet wird, es könne gute Gründe für beides geben.2

Nun haftet Verzichtsforderungen in der Tat oft etwas Problematisches an. Zunächst einmal ist die Frage des Verzichts eine ganz profane Distributionsfrage, bei der es um die Verteilung von Lasten und Zumutungen geht, darum, wer, warum, in welchem Maß auf was verzichten soll beziehungsweise muss. Abgesehen von dieser ökonomisch-materiellen Dimension gibt es auch noch die kulturelle. Hier kann der Verzicht schnell zum Distinktionsmerkmal von Lebensführungseliten werden, deren Selbstbeschränkung moralische Überlegenheit signalisieren soll und im Umkehrschluss dazu führt, dass sich diejenigen am unteren Ende der Einkommensskala nicht nur im Zeichen der allseits beschworenen Eigenverantwortung ihr eigenes relatives Scheitern im Kampf um geldwerten Erfolg zurechnen müssen. Diejenigen, die sich teure Lebensmittel und ethischen Konsum schlicht nicht leisten können, sehen sich auch noch dem Vorwurf ausgesetzt, den Planeten kaputtzumachen. Die Responsibilisierung des Einzelnen,3 dessen individuelles Handeln im Geist der Austerität zum entscheidenden Hebel zur Rettung des Planeten hochstilisiert wird, ist also alles andere als unschuldig.

Was aber doch überrascht, ist die Emphase, mit der sich im aktuellen Diskurs gerade Konservative gegen Verzichtsappelle verwahren. Vom Zehn-Punkte-Programm der Union von Mitte 2023 und dem 2024 verabschiedeten Grundsatzprogramm bis hin zu den unzähligen Reden in und außerhalb von Bierzelten, in denen gegen Verbot und Bevormundung gewettert wird, scheint es so, als ob es kaum etwas weniger Konservatives gäbe als Verzichtsappelle. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

Als Konservative noch verzichten konnten

Blickt man in den Werte- und Tugendkatalog der konservativen Tradition im Allgemeinen und auch der christdemokratischen im Speziellen, dann kann man nur zu der Einschätzung gelangen, dass der Verzicht – sei es aus tugendhafter oder instrumenteller Einsicht – eigentlich zum Kernbestand des konservativen Ideenhaushalts gehört. Denn wer würde bestreiten, dass Konservative den klassisch protestantisch-kapitalistischen Wertekatalog gutheißen, wie er einst von Max Weber beschrieben wurde, in dem es um aufgeschobene Befriedigung, Sparsamkeit, Opferbereitschaft, Selbstdisziplin, kluge Voraussicht und Leistungsbereitschaft geht? Die Verzichtsdimension ist all diesen Vorstellungen auf die ein oder andere Art zu eigen. Der Verzicht war hier nicht nur ein notwendiges Übel, um ein bestimmtes Ziel – im Zweifelsfall wirtschaftlichen Profit – zu erreichen, sondern gewissermaßen auch Zweck an sich als Ausweis eines tugendhaften Charakters, der in der Lage ist, sich selbst die Zügel anzulegen – das Signum des Zivilisationsprozesses, wie er einst von Norbert Elias interpretiert wurde, und ein unverzichtbares Element eines jeden Habitus, der sich als bürgerlich versteht.

Nun kann man natürlich behaupten, dass es sich um konservative Folklore handele, die im zeitgenössischen Kontext allenfalls noch im Rahmen erbaulicher Sonntagsreden eine Rolle spielt. Doch dieser Eindruck täuscht, denn immerhin prägte seinerzeit die schwarz-gelbe Regierung Kohl /Genscher ihre Agenda mit der Formel der geistig-moralischen Wende, bei der es – etwas vereinfacht ausgedrückt – darum ging, die Werte von 1948 gegen die von 1968 zu mobilisieren. Wo Letzteres für Hedonismus, Libertinage, Permissivität und Selbstverwirklichung stehe, sollten stattdessen wieder die Werte hochgehalten werden, die es ermöglicht hatten, dass einem in Trümmern liegenden Westdeutschland in der Nachkriegszeit der Wiederaufbau und ein veritables Wirtschaftswunder gelangen.4 Hier wurde den Bürgern zumindest symbolisch etwas abverlangt, wenn auch nicht ganz klar war, wer genau auf was verzichten sollte, und die »Wende« sich ohnehin spätestens mit der Wiedervereinigung erledigt hatte.

Die Idee einer geistig-moralischen Erneuerung mit dem Ziel, einem post-materialistischen Wertewandel entgegenzuwirken, war damals keineswegs eine der Ludwigshafener Provinz entsprungene Idiosynkrasie. Vielmehr zehrte das Kohl-Projekt von einem transatlantischen ideologischen Überbau, der seit den 1970er Jahren sowohl in den USA als auch in Deutschland unter dem Begriff des Neokonservatismus firmierte. Gerade in den Vereinigten Staaten unterzogen Autoren wie Irving Kristol oder Daniel Bell die zeitgenössische (Jugend)Kultur einer eingehenden Kritik: Der Konsumkapitalismus der Gegenwart produziere verweichlichte und narzisstische Ego-Hedonisten, die das kollektive materielle und ideelle Erbe, das über Generationen hinweg angehäuft worden sei, gedankenlos verprassten, weil sie schlicht nicht willens, aber auch nicht fähig seien, sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Ich-Schwäche, ursprünglich ein wichtiges Element in der Diagnostik der Frankfurter Schule, wurde nun von der konservativen Kulturkritik vereinnahmt, diese mündete im Lauf der 1970er Jahre in breit diskutierten Krisenbefunden über »unregierbare« Gesellschaften und die »Anspruchsinflation« ihrer Bevölkerungen. Im angloamerikanischen Raum bereiteten diese den Weg für Thatcher und Reagan.5 Kurz, der Antihedonismus des Verzichts galt hier aus (neo)konservativer Perspektive als Ausweis einer intakten Persönlichkeit, und man ging so weit, Wohl und Wehe des Westens daran zu knüpfen, dass ein solcher Persönlichkeitstypus in hinreichendem Maß auch in den jüngeren Alterskohorten anzutreffen sei.6

Um Beispiele für das konservative Lob des Verzichts zu finden, reicht aber schon der Blick auf die Debatte über die Schuldenbremse. In der Spätphase der Ära Merkel war die inhaltliche Ausgezehrtheit des christdemokratischen Konservatismus mit Händen zu greifen, mit großer Leidenschaft klammerte man sich damals in den Reihen der Union an die Maxime der schwarzen Null, also die Zielvorstellung eines ausgeglichenen Haushalts. Schließlich handelte es sich um das einzig verbliebene Erkennungsmerkmal der C-Parteien, das so auch als Ausweis des Konservativen im merkelianischen Christdemokratismus herhalten musste. Interessant daran ist im vorliegenden Kontext aber, dass es sich bei Schwarzer Null und Schuldenbremse um nichts anderes als mehr oder weniger kodifizierte Verzichtsforderungen handelt.

Natürlich verdeckt das Framing der Befürworter oftmals diese grundsätzliche Parallele, da suggeriert wird, dass nicht die Menschen, sondern »der Staat« sich einschränken müsse, damit zukünftige Generationen nicht in die Schuldknechtschaft hineingeboren würden. Aber das ist Augenwischerei. Im Kern stammt die Argumentation für eine Schuldenbremse aus der Zeit, in der Public-Choice-Ökonomen wie James M. Buchanan argumentierten, dass man der wachsenden Staatsverschuldung nur Herr werden könne, wenn man der politischen Praxis einen Riegel vorschob, bestimmten politischen Gruppen oder der Bevölkerung insgesamt kostenträchtige Versprechungen zu machen – in der Hoffnung, damit die eigenen Wiederwahlchancen zu verbessern.7 Die Wurzel des Problems waren somit einerseits Bürgerinnen und Bürger, die nicht bereit waren, den Gürtel zugunsten von Kindern und Kindeskindern enger zu schnallen, wie andererseits Politiker, die opportunistisch Wohltaten aus dem steuer- und schuldenfinanzierten Füllhorn verteilten. Hinter Formulierungen wie der von einer »verantwortungsvollen Fiskalpolitik des Staates« verbirgt sich also letztlich die Forderung an die Bevölkerung, zum Wohl des Ganzen zu verzichten – etwa auf eine funktionierende öffentliche Infrastruktur.

Es soll hier aber nicht um die Schattenseiten der Schuldenbremse gehen, sondern um die bemerkenswerte Inkonsistenz einer Unionspolitik, die beständig Verzichtsforderungen beim politischen Gegner anprangert und dabei gleichzeitig den in der Schuldenbremse verfassungsrechtlich kodifizierten kollektiven Verzicht als unverzichtbare Komponente einer modernen konservativen Politik adelt.

Verzicht auf Verzicht – Drei Motive

Eine naheliegende Erklärung für die Haltung des christdemokratischen Konservatismus im deutschen Kontext, auf den sich die folgenden Ausführungen konzentrieren,8 stellt auf Opportunitätsstrukturen und Positionierungen im politischen Raum ab. Im Lauf des Wahlkampfs 2021 musste die Union einen inhaltlichen Offenbarungseid leisten, als im Zeichen der Corona-Pandemie die zum Identitätskern erhobene schwarze Null geschleift worden war und nun beim besten Willen niemand mehr erkennen konnte, wofür die Christdemokratie eigentlich stehen sollte. Mit der Niederlage Laschets und Merz’ Wahl zum Vorsitzenden war die Zeit für eine personelle und vor allem auch inhaltliche Erneuerung gekommen, zumal der neue Vorsitzende das Projekt der Erarbeitung eines Grundsatzprogramms noch von seiner Vor-Vorgängerin geerbt hatte. Es sollte parteiintern zu einer Vergewisserung über das Selbstverständnis der Christdemokratie dienen und nach außen die Wiedergewinnung eines inhaltlichen Profils dokumentieren.

Doch Grundsatzprogramme lassen sich sogar von selbsterklärten Machertypen wie Carsten Linnemann (»Einfach mal machen«), dem die Federführung übertragen wurde, nicht so einfach übers Knie brechen, will man die Basis nicht vor den Kopf stoßen. In der Zwischenzeit musste aber das gähnende inhaltliche Loch gefüllt werden, das die Ära Merkel (neben so vielen anderen Problemen) hinterlassen hatte. An der Spitze der Union setzte sich wohl auch angesichts dieses Vakuums, das auch nicht durch gelegentliche ›Zehn-Punkte-Pläne‹ gefüllt werden konnte, die Einschätzung durch, dass man, wenn man schon keine eigenen Positionen und Überzeugungen in petto hatte, zumindest übergangsweise ein mobilisierungsträchtiges Feindbild kultivieren könnte. Angesichts der Tatsache, dass der Konservatismus von jeher eine zutiefst reaktive Weltanschauung ist, die erst von bestimmten Entwicklungen aktiviert wird, denen man Einhalt gebieten will, ist dies nicht ganz ungewöhnlich. Jedenfalls kristallisierte sich, halb kalkuliert, halb aus Mangel an Alternativen, eine Strategie heraus, die man im Englischen treffend und bündig als »Owning the Libs« bezeichnet und der die Grand Old Party in den USA schon seit etlichen Jahren folgt.

Es geht darum, dem politischen Gegner ein bestimmtes Label anzuhängen und sich an diesem Konstrukt dann politisch profitabel abzuarbeiten. Für den deutschen Kontext bedeutete das: Die Grünen mussten zur Verbots- und Verzichtspartei wohlmeinender, aber eigentlich autoritärer Gutmenschen und Besserwisser stilisiert werden, die anderen ihren Lebensstil aufzwingen wollen. Träfe diese Erzählung zu, dann würde als erstes Kuriosum daraus folgen, dass die Grünen eigentlich das repräsentierten, was sich in ferner Vergangenheit einmal Konservative anmaßten, nämlich eine Vorstellung der tugendhaften Lebensführung zu haben, von der man so überzeugt war, dass man sogar ganz paternalistisch voraussetzte, sie sei auch für andere die richtige. Das eigentliche Kuriosum besteht aber darin, dass die »kryptokonservativen« Grünen in Wahrheit weder verbieten noch Verzicht predigen wollen. Die Toxizität von allem, was nach Verzicht und Verbot riecht, ist mittlerweile so groß, dass man selbst bei der vermeintlichen Bastion dieses Denkens nichts damit zu tun haben möchte.

Schwerwiegender sind aber die Konsequenzen der Unions-Strategie. Zum einen hat man sich nolens volens an Sound und Positionen der AfD angeschmiegt, die in der genau gleichen Tonlage nicht nur die Politik der Ampel, sondern vor allem den bevormundenden Geist der Grünen geißelt. Diese Angleichung erklärt auch bis zu einem gewissen Punkt, warum die Union bislang nicht in der Lage war, mehr von der massiven Unbeliebtheit der Ampel-Regierung zu profitieren. Zum anderen hat man, zutiefst unkonservativ, langfristige strategische Optionen auf dem Altar der kurzfristig politisch opportunen Praxis geopfert. Schließlich gab es eine eindeutige habituelle Brücke, die den Weg für eine dauerhafte schwarz-grüne Hegemonie hätte ebnen können: Bürgerlichkeit hätte als die Zügelung der Affekte in unterschiedliche Richtungen ausbuchstabiert werden können, mit der Überzeugung als gemeinsamem Nenner, dass Verzicht sowohl in fiskal- als auch in klimapolitischer Hinsicht einen Dienst an der Gemeinschaft darstellt – eine gelebte Tugend der gegenwärtigen zum Wohle der zukünftigen Generation. Natürlich hätte das Widerspruch und damit eine Diskussion mit den politischen Wettbewerbern provoziert. Der Demokratie in Deutschland, die ja bisweilen als die postdemokratische Herrschaft der Alternativlosigkeit kritisiert wird, hätte eine solche Auseinandersetzung nicht unbedingt geschadet. Hinweise, wie man eine PR-Strategie für ein solches Programm stricken könnte, lieferte in einem Zeit-Interview von 2023 etwa der politische Kommunikationsexperte Karl-Rudolf Korte. Mit Blick auf die aktuellen Umbrüche und die damit einhergehenden Entbehrungen könne man von »Veränderungs-Patriotismus« sprechen und einer Politik, die »enkelfähig« sein müsse. Kortes Fazit: »Die Wende zum Weniger kann mehrheitsfähig sein, wenn der Rettung eine Richtung gegeben wird.«9

Kehren wir für einen Moment zurück zu der Parallele zwischen nachhaltiger Finanz- und Umweltpolitik und der auffallend unterschiedlichen Bedeutung, die von Seiten der Merz-Söder-Linnemann-Union der Selbstbeschränkung im Namen zukünftiger Generationen in beiden Fällen beigemessen wird. Womöglich ist es nicht der reine politische Opportunismus, der dafür sorgt, dass man sich in der Klimapolitik so ganz anders positioniert als in der Frage der öffentlichen Finanzen. Es könnte auch etwas mit dem komplizierten Erbe der konservativen Tradition im deutschen Kontext zu tun haben. Der deutsche Konservatismus unterhielt seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert ein überaus enges Verhältnis zur Tradition der Romantik. Die Vergangenheit spielte zwar auch für Edmund Burke eine zentrale Rolle; das geschichtliche Gewordensein der Gesellschaft und ihrer Institutionen war schließlich die zentrale Quelle konservativer Normativität. Die Idealisierung der mittelalterlichen Gesellschaft, die deutsche Konservative mit Romantikern wie Novalis oder Hölderlin teilten, sucht im internationalen Vergleich jedoch ihresgleichen.

Dies brachte den deutschen Konservatismus in seinen wichtigsten Strömungen spätestens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen einer industriellen Massengesellschaft in eine schroffe Frontstellung gegen eine Moderne, die durch einige wirkmächtige Dichotomien gekennzeichnet und kritisiert wurde: Hatte die Vergangenheit noch mit »organischen Gemeinschaften« und einer »authentisch gewachsenen Kultur« aufwarten können, so war die Gegenwart aus konservativer Sicht deformiert zu einer Zivilisation der Oberflächlichkeit, in deren Gesellschaften nur noch Eigeninteresse, Wissenschaft, Industrie und Technik den Ton angaben. Dieser Kulturpessimismus sollte in der Zwischenkriegszeit komplexe Verbindungen sowohl mit der Konservativen Revolution als auch mit nationalsozialistischem Gedankengut eingehen.

Nachdem in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Begriff des Konservativen aufgrund der Komplizenschaft mancher seiner Spielarten mit dem Nationalsozialismus gänzlich diskreditiert erschien, begann seine intellektuelle Renaissance Ende der 1950er Jahre im Zeichen einer geradezu dialektischen Volte, mit der man sich von der romantischen Prägung des deutschen Konservatismus vor 1945 lossagte. Stattdessen wurde nun eine technisierte, industrialisierte und verwissenschaftliche Welt mehr oder weniger umstandslos affirmiert.

Die zentralen Stichwortgeber waren Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, dessen 1961 erschienener Essay Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation zu einem zentralen Dokument dieser neuen Strömung wurde, der Martin Greiffenhagen zehn Jahre später den Namen »technokratischer Konservatismus« gab.10 Gehlen und vor allem Schelsky erschienen Wissenschaft und Technik als zentrale Prägekräfte zeitgenössischer Gesellschaften, aus denen sich unweigerlich Sachzwänge im Hinblick auf die Regierungstätigkeit ergäben, die wesentlich stärker auf den Rat von Experten angewiesen sei und sich eher an diesen statt an einem diffusen Willen des Volkes zu orientieren habe: die völlige Umkehrung im Hinblick auf die Einschätzung des kapitalistisch getriebenen technisch-wissenschaftlichen Fortschritts.

Von Technokratie zu Technophilie

Damit begann eine langwährende, aber notwendig spannungsreiche Liaison zwischen dem Geist des Bewahrens und der umstürzlerischen Kraft des technischen Fortschritts. Ermöglicht werden sollte diese Verbindung im Denken Schelskys und Gehlens durch einen starken Staat, umgeben von einem Kranz robuster Institutionen, die gemeinsam die kreativ-zerstörerischen Auswirkungen der Fortschrittskräfte eindämmen und abfedern, die kapitalistisch-technische Maschinerie ihrerseits aber auch vor Eingriffen schützen sollten. Wie Jürgen Habermas später hervorhob, bewahrte sich dieser Konservatismus zwar die tiefen Vorbehalte gegenüber einer kulturellen Moderne und ihren Werten von Selbstverwirklichung und Autonomie; der gesellschaftlichen Moderne von Kapitalismus, Wissenschaft und Technik verschrieb er sich aber mit Leib und Seele.11 Und nur vor dem Hintergrund dieser verblüffenden Neupositionierung sollte Franz Josef Strauß dann zu Ende der 1960er die auf den ersten Blick widersinnige Überzeugung vertreten können, konservativ zu sein heiße, »an der Spitze des Fortschritts zu marschieren«.

Dass die Union heute in Finanz- und Klimapolitik so unterschiedlich agiert, auf der einen Seite also der Verzichtslogik der Schuldenbremse huldigt, aber in der Klimapolitik keinerlei Anlass zu entsprechenden Forderungen sieht, ist meiner Ansicht nach auch auf dieses Erbe zurückzuführen, das dem Konservatismus damals wie heute einen recht eigentümlichen Charakter verleiht. Auf die Frage, wie man denn auf die Herausforderungen des Klimawandels und anderer im weitesten Sinne ökologischer Probleme reagieren sollte, wenn nicht mithilfe von Verbot und Verzicht, erhält man von der Union ausweislich der jeweiligen Grundsatzprogramme und sonstiger Verlautbarungen durchgehend die Antwort, man setze auf technologische Lösungen, es bedürfe nur entsprechender Anreize, damit diese im Rahmen kapitalistischen Wettbewerbs gefunden würden.

Was sich hier besichtigen lässt, ist nicht einfach die Manifestation des alten technokratischen Konservatismus, denn von Superstrukturen, Expertokratie und Sachgesetzlichkeiten ist wenig die Rede. Vielmehr ist die Technokratie hier zur bloßen Technophilie zusammengeschrumpft, und da, wo sich der technokratische Konservatismus eine nüchtern-realistische Weltsicht bewahrte, in der es um das Überleben einer halbwegs zivilisierten Welt ging, nimmt die heutige Technikbegeisterung auf Seiten der Union geradezu utopische Züge an: Alle energiepolitischen Probleme werden gelöst sein, hat man erst den »weltweit ersten Fusionsreaktor« gebaut, wie es im CDU-Grundsatzprogramm avisiert wird.

Technological fix statt Verhaltensänderungen also, und damit vollzieht sich auch ein bemerkenswerter Rollentausch zwischen Konservativen und ihren links-grünen Antagonisten. Erstere hatten schließlich immer wieder vor den Gefahren des utopischen Denkens, vor selbstherrlichen Reißbrettentwürfen und wirklichkeitsfremden Wolkenkuckucksheimen gewarnt, die als typische Ausdrucksformen der Linken galten. Nun sind es die Konservativen, die ungedeckte Wechsel auf die Zukunft ausstellen und die im Hinblick auf die Menschheitsherausforderung des Klimawandels wenig außer der vagen Hoffnung auf Technik anzubieten haben. Hätte man vermutet, dass die konservative Maxime hier auf präventive Vorsichtsmaßnahmen hinausliefe, da man in jener Tradition doch immer wieder nüchtern mit dem Szenario des worst case kalkuliert hatte, so blickt man gegenwärtig mit einer geradezu rosaroten Brille in die Zukunft. Im schlimmsten Fall gibt es ja noch die Option des Geo-Engineering, und statt mühsamer Versuche, kollektive Verhaltensregime zu transformieren, schießt man einfach Schwefelpartikel in die Atmosphäre, um die Sonneneinstrahlung abzulenken.

Zumindest scheint dies der Fluchtpunkt der Perspektive des zeitgenössischen technophilen Konservatismus zu sein. Im Grunde handelt es sich dabei um eine Pervertierung der fundamentalen Intuition dieser Tradition, derzufolge bestimmte natürliche (oder naturalisierte) Zusammenhänge nicht zur menschlichen Disposition gestellt werden dürften und entsprechende Eingriffe katastrophale Auswirkungen zur Folge hätten.12 Weitreichendere und in ihren Folgen unabsehbarere Eingriffe als die Manipulation des Klimasystems sind eigentlich kaum denkbar.

Die letzte Erklärung für die tiefe Antipathie von Konservativen gegenüber Verzichtsforderungen läuft zugespitzt auf die These einer zunehmenden Freidemokratisierung der Christdemokratie hinaus, die sich schon länger angedeutet, in der jüngsten Vergangenheit aber noch einmal verstärkt hat. Die Tendenz zum Paternalismus hat man sich inzwischen mit der Hinwendung zu dem abtrainiert, was etwa von Andreas Rödder als Liberalkonservatismus bezeichnet wird,13 also der Verschwisterung von konservativen und liberalen Elementen, die auch das Ende des Kulturpessimismus mit autoritären Untertönen bedeutet, wie man ihn bei Gehlen noch fand.

Schon in den 1990er Jahren nahm die Christdemokratie immer stärkere Anleihen bei den wirtschaftspolitischen Rezepten des Neoliberalismus, gipfelnd in der Radikalität des Leipziger Programms 2003. Das verschwand zwar nach dem knappen Wahlsieg 2005 auf Nimmerwiedersehen in den Schubladen, aber mit dem Wechsel an der Spitze, mit Merz als Vorsitzendem und Linnemann als Generalsekretär, tritt die Tendenz zur Freidemokratisierung wieder deutlicher zutage. In der Welt skizzierte Linnemann 2023 seine Antwort auf die Frage: »Was ist konservativ?« in etwa so: Der Einzelne solle im Mittelpunkt stehen, er wisse selbst am besten, was das Gute und Richtige für ihn sei und reagiere am ehesten auf wirtschaftliche Anreize. Gute Politik sei unideologisch und könne nie die letzten Antworten bieten, Toleranz sei wichtig, und der Staat sollte sich auf seine Kernaufgaben beschränken. Es gab in diesem Beitrag keine Zeile, der nicht auch Christian Lindner unbesorgt hätte zustimmen können, selbst dem unvermeidlich eingestreuten Adenauer-Zitat: »Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind – andere gibt es nicht.«14

Den Eindruck einer Freidemokratisierung bestätigt auch das Grundsatzprogramm, das nicht etwa Verantwortung, Gemeinschaft oder ähnliches zum zentralen Wert kürt, sondern eben die Freiheit. Man wird angesichts dieser Tendenzen den Eindruck nicht los, dass insbesondere Merz und Linnemann bei allem Leitkultur-Gerede und der Forderung nach einem gesellschaftlichen Dienstjahr ihre intellektuellen Stichwortgeber vor allem in der liberalen und nicht zuletzt der neoliberalen Tradition finden. Mit diesen Verschiebungen passt sich die CDU einem Zeitgeist an, dessen Einfluss von manch freidemokratischer Strömung bis hin zur AfD reicht und der durch einen zunehmend aggressiven Individualismus und damit korrespondierenden radikal negativen Freiheitsbegriff charakterisiert ist: Freiheit bedeutet die vollkommene Abwesenheit von Einmischung jeglicher Art ins eigene Denken und Handeln – und das schließt natürlich Verzichtsforderungen oder gar Verbote ein. Man will sich nichts sagen lassen, wittert überall Bevormundung und Zumutung und ist nur da ganz bei sich selbst, wo man auch den eigenen Affekten freien Lauf lassen kann.15 Am Rande sei angemerkt, dass sich das Pathos der individuellen Freiheit in den Reihen der Union allerdings schnell erschöpft hat, wenn es um legalen Zugang zu Cannabis, die Entscheidung über die eigene Geschlechteridentität – oder gar die eigene Schwangerschaft geht. Ganz ohne Verbote geht es also selbst in der freidemokratisierten Christdemokratie nicht.

Aber für all diese Forderungen gibt es ja bereits die FDP – und die AfD. Wofür braucht man also eine Christdemokratie, die für sich zum Glaubenssatz erhoben hat, dass man den Menschen nichts, aber auch gar nichts mehr abverlangen darf oder soll – außer eben die Warte- und Ausfallzeiten bei der Bahn, die aus der Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur im Geiste »fiskalischer Disziplin« herrühren? Was ist die Daseinsberechtigung einer Union, die suggeriert, dass niemand aufgrund der planetarischen Herausforderungen des Klimawandels oder aus anderen Gründen auf irgendetwas verzichten muss und sich damit durchgehend auf Blühende-Landschaften-Terrain bewegt? Wozu braucht man konservative Politiker, die sich mit Händen und Füßen sträuben, ein wenig politischen Mut und Führungsstärke zu beweisen, indem man der Wahlbevölkerung auch bitteren, aber eben reinen Wein einschenkt beziehungsweise zumutet? Kann man auf solche Konservative nicht wirklich verzichten?

Übrigens fiel Linnemann immerhin doch noch etwas zum Thema Verzicht ein: Angesichts der allgegenwärtigen Krisen solle Scholz doch bitte auf den geplanten Ausbau des Bundeskanzleramts verzichten. Na also, geht doch.

Anmerkungen

1

»Die Wahrheit liegt nicht in der Dusche«. In: Spiegel vom 22. Juli 2022.

2

Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens. Berlin: Suhrkamp 2022.

3

Zu diesem Konzept vgl. Catrin Heite /Veronika Magyar-Haas /Clarissa Schär (Hrsg.), Responsibilisierung. Wiesbaden: Springer 2024.

4

Vgl. Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Berlin: Matthes & Seitz 2018.

5

Zu diesen Diskursen vgl. Michel J. Crozier /Samuel P. Huntington /Joji Watanuki, The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission. New York University Press 1975.

6

Manche Protagonisten jener Zeit, insbesondere Daniel Bell, sahen diese Bedingung immer weniger gegeben und wendeten sich später Asien (und seinen Werten) als neuer Speerspitze der (kapitalistischen) Zivilisation zu. Vgl. Daniel A. Bell, Beyond Liberal Democracy. Political Thinking for an East Asian Context. Princeton University Press 2006.

7

James M. Buchanan /Richard E. Wagner, Democracy in Deficit. The Political Legacy of Lord Keynes. New York: Academic Press 1977.

8

Auf die Frage, inwiefern es auch einen grünen, sozialdemokratischen oder gar einen AfD-Konservatismus gibt, kann hier nicht eingegangen werden. Im Hinblick auf die Möglichkeit des Letzteren muss der Hinweis ausreichen, dass es zwar womöglich inhaltlich-substantielle Schnittmengen gibt, das Politikverständnis der AfD und vieler anderer rechtsautoritärer Parteien das zentrale konservative Motiv des Bewahrens aber zugunsten eines quasi-umstürzlerischen Projekts aufgegeben hat: Der Status quo ist nicht bewahrenswert und auch nicht mehr zu retten; es gilt vielmehr, »Dinge zu erschaffen, die zu erhalten sich lohnt«, wie es einst von Arthur Moeller van den Bruck formuliert wurde. Der Bewahrung muss zunächst die Disruption vorausgehen, womit sich dieses Projekt streng genommen außerhalb des konservativen Ideenkosmos stellt. Vgl. Thomas Biebricher, Mitte /Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus. Berlin: Suhrkamp 2023.

9

Flucht vor dem Frust. Interview mit Tina Hildebrandt. In: Zeit vom 6. Juni 2023.

10

Vgl. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Wiesbaden: Springer 1961; Martin Greiffenhagen, Technokratischer Konservatismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 31, 1971.

11

Vgl. Jürgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik. In: Merkur, Nr. 413, November 1982.

12

Zu dieser Figur als Versatzstück konservativer Diskurse vgl. Albert O. Hirschman, The Rhetoric of Reaction. Perversity, Futility, Jeopardy. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 1991.

13

Andreas Rödder, Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland. München: Beck 2019.

14

Carsten Linnemann, Nehmen wir die Menschen, wie sie sind. In: Welt vom 3. Juli 2023.

15

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin: Suhrkamp 2022) diagnostizieren hier eine »libertären Autoritarismus«. Wendy Brown (Neoliberalism’s Frankenstein: Authoritarian Freedom in Twenty-First Century »Democracies«. In: Critical Times, Nr. 1/1 2018) verweist auf Marcuses Konzept der »repressiven Entsublimierung« in Verbindung mit einem nietzeanischen Nihilismus.