Heft 872, Januar 2022

Kondiaronks indigene Kritik

von David Graeber, David Wengrow

Der folgende Text ist ein Vorabdruck aus David Graebers und David Wengrows Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Unter den unzähligen Beispielen, an denen die Autoren ihre Argumente entwickeln, ist die Figur des Huronen-Häuptlings Kondiaronk von besonderer Bedeutung. In diesem Kapitel rekonstruieren sie den Einfluss, den Kondiaronk dank des Bestsellers des Barons de Lahontan, der ihn als Kritiker Europas auftreten ließ, auf das Denken der Aufklärung hatte. Diese Form der »indigenen Kritik« wurde im Frankreich des 18. Jahrhunderts Mode, so sehr, dass ihr nicht nur viele Variationen folgten, bis hin zu Rousseaus »edlem Wilden«, sie hat auch wirkmächtige Gegenreaktionen provoziert.

Etwa die Geschichtsphilosophie des Ökonomen Anne Robert Jacques Turgot, die Graeber und Wengrow am Schluss des Abschnitts erwähnen. Sie kommen später noch ausführlich auf Turgot und die Folgen zurück. Dieser nämlich entwirft in seinen Vorlesungen eine Stufenfolge von Jägern zum Wanderhirtentum und zuletzt zur urbanen kommerziellen Zivilisation, aus deren Perspektive »diejenigen, die Jäger, Hirten oder primitive Bauern geblieben seien, nichts anderes als Überbleibsel früherer Stadien unserer gesellschaftlichen Entwicklung dar[stellten]. Auf diese Weise wurden Theorien gesellschaftlicher Entwicklung – die heute so vertraut sind, dass wir kaum noch über ihre Ursprünge nachdenken – erstmals in Europa artikuliert: als direkte Reaktion auf die Macht indigener Kritik.«

Es ist diese Idee einer Teleologie, einer folgerichtigen Aufwärtsentwicklung, gekrönt von der heutigen Zivilisation, gegen die sich das Buch wendet. Sie ist falsch, so Graeber und Wengrow, weil sie die Komplexität der »Anfänge« systematisch unterschätzt, indem sie als komplex nur Strukturen ansehen will, die Staaten ähneln, mit viel Hierarchie, mit viel Bürokratie und eindeutigen Herrschaftsstrukturen. Und sie ist falsch, weil sie zugleich die Vielfalt der Anfänge, der Aufbrüche, der Entwicklungen und der Möglichkeiten ignoriert, die sich dank der Funde, Entdeckungen, neuen Erkenntnisse und Interpretationen von Anthropologie und Archäologie längst nicht mehr leugnen lässt.

Das Buch ist eine souveräne Synopsis aktueller Forschungen, allein das Verzeichnis der Sekundärliteratur umfasst knapp vierzig Seiten. Und es gewinnt der Literatur eine Vielzahl von Thesen und Hypothesen ab, die sich kaum zusammenfassen lassen und über die in der Wissenschaft und darüber hinaus ganz sicher heftig diskutiert werden wird. Außer Zweifel steht für Graeber und Wengrow in jedem Fall dies: Nichts hätte in der Entwicklung der Menschheit kommen müssen, wie es kam. Und alles könnte darum auch anders sein, als es ist.

EK

Um zu verstehen, wie die indigene Kritik – jener beständige moralische und intellektuelle Angriff auf die europäische Gesellschaft, den vom 17. Jahrhundert an zahllose indigene Amerikaner formulierten – entstanden ist und auf das europäische Denken wirkte, müssen wir zunächst etwas über die Rolle zweier Männer begreifen: des verarmten französischen Adligen Louis-Armand de Lom d’Arce, hauptsächlich bekannt unter dem Namen Baron de Lahontan (1666–1716), und des ungewöhnlich brillanten Staatsmanns der Wendat namens Kondiaronk (1649–1701).

Im Jahr 1683 trat der damals siebzehnjährige Baron de Lahontan (wie er später genannt wurde) in die französische Armee ein und wurde in Kanada stationiert. Im Lauf des folgenden Jahrzehnts nahm er an einer Reihe von Feldzügen und Forschungsexpeditionen teil und wurde schließlich zum Stellvertreter des Generalgouverneurs befördert, des Comte de Frontenac. Daneben lernte er auch, fließend Algonkin und Wendat zu sprechen, und schloss eigenen Angaben zufolge Freundschaft mit einigen indigenen Politikern und Persönlichkeiten. Später behauptete Lahontan, diese seien bereit gewesen, ihm ihre tatsächliche Meinung über die christliche Lehre kundzutun, da er in religiösen Fragen eine Art Skeptiker und ein politischer Feind der Jesuiten sei. Eine dieser Personen war Kondiaronk.

Als Schlüsselstratege der Wendat-Konföderation, einer Koalition von vier irokesischsprachigen Völkern, betrieb Kondiaronk (sein Name bedeutet wörtlich »die Bisamratte«, die unter den Ureinwohnern als wendig und schlau vergleichbar dem Fuchs in Europa galt; die Franzosen nannten ihn nur »die Ratte«) damals ein komplexes geopolitisches Spiel, bei dem er versuchte, die Engländer, die Franzosen und die Fünf Nationen der Haudenosaunee gegeneinander auszuspielen – mit dem anfänglichen Ziel, einen verheerenden Angriff der Haudenosaunee auf die Wendat zu verhindern, langfristig jedoch, um eine umfassende indigene Allianz zu schmieden, damit dem Vordringen der Siedler Einhalt geboten werde. Wer ihm begegnete, ob Freund oder Feind, musste zugeben, dass er ein wahrhaft bemerkenswerter Mensch war: ein mutiger Krieger, ein brillanter Redner und ungewöhnlich geschickter Politiker und an seinem Lebensende ein entschiedener Gegner des Christentums.

Lahontans militärische Karriere indes fand ein jähes Ende. Obwohl er Nova Scotia erfolgreich gegen eine englische Flotte verteidigen konnte, fiel er bei seinem Gouverneur in Ungnade und war gezwungen, aus dem französischen Territorium zu fliehen. In Abwesenheit wegen Ungehorsams verurteilt, verbrachte er das folgende Jahrzehnt größtenteils im Exil, irrte in Europa umher und versuchte vergebens, eine Rückkehr in seine Heimat Frankreich auszuhandeln. Im Jahr 1702 lebte Lahontan in Amsterdam, vom Glück verlassen, wie ihn diejenigen beschrieben, die ihm als mittellosem Vagabunden begegneten und ihn als freiberuflichen Spion behandelten. All das sollte sich jedoch schlagartig ändern, als er eine Buchreihe über seine Abenteuer in Kanada veröffentlichte.

Zwei Bücher aus dieser Reihe waren Erinnerungen an seine amerikanischen Abenteuer. Das dritte, Supplement aux Voyages ou Dialogues avec le sauvage Adario (1703), enthält vier Konversationen zwischen Lahontan und Kondiaronk, in denen der Wendat-Weise – der dabei Meinungen äußert, die auf seinen eigenen ethnografischen Betrachtungen von Montreal, New York und Paris beruhten – einen äußerst kritischen Blick auf die europäischen Gepflogenheiten und Vorstellungen hinsichtlich Religion, Politik, Gesundheit und Sexualleben wirft. Diese Bücher gewannen eine breite Leserschaft, und Lahontan gelangte bald zu einer gewissen Berühmtheit. Er ließ sich am Hof von Hannover nieder, wo auch Leibniz wirkte, der sich mit ihm anfreundete und ihn unterstützte; Lahontan erkrankte und starb um 1715.

Die meisten Kritiker seines Werkes nehmen wie selbstverständlich an, die Dialoge seien frei erfunden und die »Adario« zugeschriebenen Argumente – gemeint ist freilich Kondiaronk – spiegelten die Meinungen von Lahontan wider. Dieser Schluss dürfte kaum überraschen. Denn Adario behauptet nicht nur, Frankreich besucht zu haben, sondern äußert seine Meinung zu allem, von Klosterpolitik bis hin zu rechtlichen Fragen. In der Debatte um Religion klingt er häufig wie ein Vertreter der deistischen Position – spirituelle Wahrheit sei in der Vernunft und nicht in göttlicher Offenbarung zu suchen – und gibt damit genau den rationalen Skeptizismus wieder, der damals in kühneren intellektuellen Kreisen Europas populär wurde. Auch der Stil von Lahontans Dialogen scheint wenigstens teilweise von den Schriften des altgriechischen Satirikers Lukian inspiriert zu sein. Angesichts der herrschenden Kirchenzensur im damaligen Frankreich war es wahrscheinlich für einen Freidenker, der, obwohl er einen offenen Angriff auf das Christentum veröffentlicht hatte, ungeschoren davonkommen wollte, am einfachsten, einen Dialog zu erfinden und so zu tun, als verteidigte er den Glauben gegen die Angriffe eines imaginären fremden Skeptikers – jedoch dafür zu sorgen, argumentativ stets den Kürzeren zu ziehen.

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