Heft 882, November 2022

Kritik als identitäre Pose

Von der Studentenbewegung zu den »Querdenkern«? von Benedikt Sepp

Von der Studentenbewegung zu den »Querdenkern«?

Im bundesrepublikanischen Erinnerungskanon werden die Geschehnisse von 1968 meist mit der antiautoritären Studentenbewegung verbunden. Auch wenn heute eher die Vielfalt und Vielschichtigkeit der verschiedenen Entwicklungen betont wird, die sich zu den gesellschaftlichen Umbrüchen und Innovationen der 1960er Jahre bündelten, gehören die Bilder von hitzig diskutierenden Studierenden, von eskalierenden Demonstrationen und den nackten Hintern der Kommune 1 nach wie vor zu den ersten Assoziationen, die sich mit dem Label »Achtundsechzig« verbinden.

Befreit man die intellektuellen Rebellinnen und Rebellen jedoch von den zahlreichen Erinnerungs- und Nostalgieschichten, die sich mit der Zeit über ihnen abgelegt haben – und damit auch von der Verantwortung des Narrativs, die Bundesrepublik im Alleingang aus der verstaubten Nachkriegszeit geführt und zu einem liberalen Staat gemacht zu haben –, verbirgt sich dahinter nicht zuletzt die Geschichte einer enormen, fast schon erschreckenden Radikalisierungsdynamik: Was als Forderung nach freier Rede und weniger autoritärer Lehre an den Ordinarienuniversitäten begann, steigerte sich über den Protest gegen Notstandsgesetzgebung und Vietnamkrieg innerhalb weniger Jahre zu einer – wenigstens rhetorisch – unversöhnlichen Ablehnung der gesamten bundesdeutschen Politik und Gesellschaft.

»Es ist aber so, daß man schuldig wird, wenn man nicht haßt. Da wir alles, ausnahmslos alles ablehnen müssen, was der kapitalismus hervorgebracht hat, da es buchstäblich kein auto, keine apfelsine, kein riesenkaufhaus gibt, an dem nicht das blut totgeschlagener seelen klebte, müssen wir uns ständig wehren«, notierte der Schriftsteller Peter Schneider, der an der Freien Universität in West-Berlin an der vorderen Front der antiautoritären Bewegung stand, 1968 in sein Tagebuch. Eine »linguistische Machtergreifung« diagnostizierte Schneider bei einer späteren Relektüre seiner Notizen seinem jüngeren Ich, dessen Selbstgewissheit und rapide Wandlung vom schüchternen Gymnasiasten zum überzeugten Unterstützer des Guerillakriegs (und ebenso seine spätere Reintegration in die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik) keineswegs einzigartig war: Bevor sich die Bewegung nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder verlief, gingen Zehntausende auf die Straße – und nicht wenige wähnten sich Ende der sechziger Jahre sogar kurz vor der Machtübernahme in der Bundesrepublik.

In Rückblicken und Erinnerungen wird diese Radikalität meist entweder in Form einer nostalgischen Irritation thematisiert oder, etwa von konservativer Seite, als Beleg für verborgene totalitäre Tendenzen der Achtundsechziger angeführt. Viel aufschlussreicher, als diese auffällige Entwicklung zu skandalisieren oder zu verharmlosen, ist es jedoch, nach den Entstehungsbedingungen dieses revolutionären Rauschs zu fragen, der für kurze Zeit noch die pragmatischsten Studienstiftungsstipendiaten befiel. Gängige Erklärungen für die Radikalisierung politischer Bewegungen gehen für die Studentenbewegung nämlich fehl – weder handelte es sich bei den Antiautoritären um benachteiligte oder unzufriedene Individuen noch kann man bei ihrer Radikalisierung von einem zweckrationalen Handeln ausgehen, und es fehlte ihnen auch nicht der Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen, ganz im Gegenteil: Dialogangebote, Aufforderungen zur politischen Mitwirkung und runde Tische jeglicher Art wurden mehrmals brüsk abgewiesen.

Die rasche Radikalisierung der Studentenbewegung lässt sich also nur schwer mit Blick auf ihre soziale Zusammensetzung oder ideologische Verbohrtheit erklären. Vielmehr, so meine These, war ihr Hang zum Immer-grundsätzlicher-Werden in einer bestimmten Form der politischen Kritik angelegt, die sich zu Beginn der Bewegung herausgebildet hatte und die viel mit dem Gefühl der politischen Orientierungslosigkeit zu tun hatte, das zu Beginn der sechziger Jahre in großen Teilen der intellektuellen Linken vorherrschte. Der enttäuschte Blick auf die autoritäre Sowjetunion und die DDR einerseits und auf die sich an die kapitalistische Demokratie anpassende Sozialdemokratie andererseits ließ einen Ausbruch aus dem bestehenden System überhaupt nicht mehr möglich erscheinen: Die linke Bewegung sei macht- und visionslos und habe sich in ihrer traditionellen Form oft genug als systemstützend erwiesen; die Arbeiter seien, durch Konsumzwang und subtile Propaganda manipuliert, vollends in die politische Apathie versunken, und selbst die Lebensbereiche, in denen eine Ahnung von Fortschritt und Freiheit zu spüren gewesen war – Jugendkultur, Kunst, Literatur –, seien schon längst der Marktlogik unterworfen, so die resignierte Feststellung. Die vage Ahnung einer grundsätzlichen, nicht auf das Politische beschränkten Rebellion gegen die bestehende Gesellschaft lag, noch nicht als solche formuliert, gerade unter jungen Leuten in der Luft.

Zwar hatten die jungen Linken von Adorno, dem intellektuellen Star ihrer Zeit, natürlich gelernt, wie schnell die Vernunft in Ressentiment, die Aufklärung in Mythos umschlagen konnte. Viele von ihnen folgten ihm in der Ansicht, dass im theoretischen Arbeiten, in der genauen Analyse der Situation, die einzige Möglichkeit für linke Intellektuelle bestünde, überhaupt etwas Sinnvolles zu tun. Anderen hingegen erschien gerade dieser Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm als die finale Kapitulation – denn die Totalität des verhassten Systems bedeute, dass es sich auch jeden Versuch des widerständigen Denkens sofort einverleiben könne: »Noch die tiefstschürfende Gesellschaftsanalyse taugt nur dazu, auf der Frankfurter Buchmesse […] Regale zu füllen«, giftete die »Subversive Aktion«, ein Vorläufer der antiautoritären Bewegung, gegen die Beschränkung auf das Nur-Denken – stattdessen nahmen sich die jungen Linken vor, Theorie zu erarbeiten, die konkrete Ansatzpunkte zur politischen Praxis sichtbar machen sollte.

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