Heft 853, Juni 2020

Kunst und Kunstkritik in Zeiten politischer Polarisierung

Ein Kippmodell des politischen Raums von Harry Lehmann

Ein Kippmodell des politischen Raums

In wenigen Jahren hat sich die Situation in den Künsten sehr verändert: Bilder werden aus Museen entfernt, Gedichte werden übermalt, politische Kriterien überschreiben ästhetische, und Künstler werden aufgrund ihrer politischen Äußerungen von Ausstellungen ausgeladen.1 Wie konnte es zu einer solchen Politisierung der Künste kommen? Man wird diese Frage nicht unabhängig von politischen Theorien beantworten können, die beschreiben, wie und warum die Gesellschaft sich heute polarisiert. Entsprechend handelt dieser Text zur politischen Kunst zunächst einmal von politischer Theorie.

Wahlentscheidungshilfen

Abbildung 1 zeigt die Parteipositionen zur Bundestagswahl 2017, wie sie vom »Bundeswahlkompass« ermittelt wurden.2 Es handelt sich dabei um eine Wahlentscheidungshilfe, mit der Bürger durch die Beantwortung eines Online-Fragenkatalogs sehr anschaulich ihre Nähe oder Ferne zu politischen Parteien bestimmen können. Es gibt mehrere solcher Portale wie den »Wahl-O-Mat« der Bundeszentrale für politische Bildung oder auch den »Wahlnavi« von RTL; der Bundeswahlkompass hat für unsere Zwecke den Vorteil, dass er eine grafische Darstellung des politischen Raums erzeugt und dabei mit einem zweidimensionalen Standardmodell der Politikwissenschaften arbeitet. Es besteht aus einem Koordinatensystem mit einer horizontalen ökonomischen Achse, welche die typische Links-rechts-Unterscheidung abbildet, und einer vertikalen kulturellen Achse, die sich zwischen progressiven und konservativen kulturellen Einstellungen in der Gesellschaft aufspannen lässt.

Abbildung 1

Die Ausgangsthese, die ich von den Politikwissenschaften übernehme, besteht darin, dass es nun auch in Deutschland, wie in den USA und in Großbritannien, zu einem politischen Realignment kommt. Politische Realignments treten in liberalen Demokratien im Abstand von ein paar Jahrzehnten auf und werden durch tiefgreifende Veränderungen in den politischen Einstellungen größerer Wählergruppen ausgelöst, die wiederum auf einschneidenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen beruhen.3 Insofern sich die Konfliktlinien zwischen den Wählergruppen verändern, führt dies auch zu einer volatilen Parteienlandschaft und schließlich zu einem party realignment: zum Entstehen und Vergehen von Parteien, zu programmatischen Neuausrichtungen von Parteien und zu neuen und bis dato undenkbaren Parteienallianzen. Indizien hierfür lassen sich inzwischen auch hierzulande finden, wie zum Beispiel der Niedergang großer Volksparteien und das Erstarken von Parteien, die bis vor kurzem irrelevant waren.

Die Idee lautet nun, dass sich das gegenwärtige politische Realignment durch eine Neubezeichnung der beiden Achsen darstellen lässt. Es sind letztendlich die Bedeutungen, die man den Koordinatenachsen gibt, die einen zweidimensionalen politischen Raum definieren. Auf diese Weise kann man eine Vorstellung davon gewinnen, in welchen oder besser gesagt »zwischen« welchen politischen Räumen wir uns heute bewegen.

So weit die Ideenskizze, aus der zwei Fragen folgen: Wie war der politische Raum bisher konfiguriert, und wie hat sich diese Konfiguration in den letzten Jahren verändert?

Die alte und die neue Formation des politischen Raums

Das politische System in den liberalen Demokratien muss permanent zwei Grundkonflikte auflösen oder zumindest entschärfen – einen ökonomischen und einen kulturellen. Der ökonomische Konflikt ergibt sich daraus, dass liberale Demokratien auf einer Marktwirtschaft beruhen und der durch Produktivitätsgewinne generierte Wohlstand nach Marktgesetzen und infolgedessen auch extrem ungleich verteilt wird. Dieser Konflikt wird im politischen System traditionell durch linke und rechte Parteien abgebildet.

Linke Parteien plädieren für eine staatliche Regulierung der Wirtschaft und für eine starke Umverteilung der erwirtschafteten Gewinne, sie stehen für Arbeitnehmerrechte ein und fordern einen umfangreichen Wohlfahrtsstaat. Rechte Parteien argumentieren, dass zu viel Umverteilung dazu führt, dass es am Ende weniger zum Umverteilen gibt, und dass zu viel staatliche Regulierung Effizienzverluste und Wettbewerbsnachteile mit sich bringt. Der kulturelle Grundkonflikt entfaltet sich hingegen zwischen denjenigen in der Gesellschaft, die ein Interesse am Erhalt von Tradition haben, und denjenigen, die tradierte Lebensformen überwinden wollen. Demokratische Wahlen stellen also sicher, dass eine Mehrheit in der Gesellschaft sowohl die ökonomischen als auch die kulturellen Veränderungen akzeptieren kann und dass das politische System so zu kollektiv bindenden Entscheidungen kommt.

So war der politische Raum bislang konfiguriert; die Politikwissenschaften vermuten aber schon seit langem, dass er einem tiefgreifenden Transformationsprozess unterworfen ist. Hanspeter Kriesi formulierte bereits 2006 die entscheidende These, als er schrieb, dass sich ein neuer struktureller Konflikt zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern entzündet.4 Diese Argumentationsstruktur hat sich inzwischen in den Politik- und Sozialwissenschaften fest etabliert und wird insbesondere zur Erklärung des Rechtspopulismus herangezogen.

Das Erfolgsrezept rechtspopulistischer Parteien besteht darin, Nichtwähler in der Repräsentationslücke des politischen Systems reaktivieren zu können und eine Allianz zwischen den ökonomisch und kulturell Deklassierten zu schmieden. Damit werden die Spielregeln der Politik so stark verändert, dass das gesamte Parteiensystem sich neu ausrichten muss. Es sind also soziokulturelle Veränderungen in den alten Industriegesellschaften, wodurch sich die politischen Konfliktlinien verschieben. Wenn die neue Konfliktlinie zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern verläuft, wie verändert sich dann der politische Raum, in dem sich Parteien und Wähler orientieren müssen? Diese Frage lässt sich in einer Art Gedankenexperiment beantworten, indem man die Achsen des politischen Raums neu bezeichnet und anschließend versucht, die Parteien in diesem neuformatierten politischen Raum zu positionieren.

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