Heft 846, November 2019

Landschaft mit Windrädern

von Sonja Asal

Das Schwarzwalddorf, in dem ich aufwuchs, zählte etwa zweihundert Einwohner. Es gab dort ein Hotel, zwei Gasthöfe, einen Tante-Emma-Laden und ein Postamt. Dienstags parkte die »fahrende Volksbank« ihren mobilen Schalterraum in der Dorfmitte, mittwochs hatte die Sparkasse ihren Kassenraum geöffnet. Im Schulhaus wurden die ersten beiden Klassen gemeinsam von der Dorflehrerin unterrichtet, im Rathaus daneben tagte der Bürgermeister mit acht Gemeinderäten. Seit den prosperierenden siebziger Jahren wurde gebaut: Geräteräume für Feuerwehr und Weidegemeinschaft, später ein Gemeindehaus mit einem Veranstaltungssaal und einem Leseraum für die Feriengäste. In jedem Stall standen ein paar Kühe, an sonnigen Sommertagen sah man auf beiden Seiten des Tals Traktoren mit Mähmaschinen oder Ladewagen ihre Bahnen ziehen. Zum Leben reichte die Landwirtschaft allerdings schon lange nicht mehr, deshalb arbeiteten die Männer auf dem Bau, als Lkw- oder Busfahrer, während sich die Frauen zu Hause um Kinder und Feriengäste kümmerten. Wie viele andere Höfe boten auch wir »Zimmer mit Frühstück« an. Die Gäste kamen in den Sommerferien mit dem vollgepackten Familienauto aus dem Ruhrgebiet, blieben drei Wochen und unternahmen Ausflüge und Wanderungen in der näheren Umgebung.

All das liegt gut vierzig Jahre zurück, und von der einstigen Betriebsamkeit ist nicht mehr viel zu spüren. Übrig geblieben sind Vereine, die mit Nachwuchssorgen kämpfen. Ein Großteil der Felder wird von einem Bauern aus dem Nachbardorf bewirtschaftet, einem der wenigen Vollerwerbsbetriebe in der Gegend. Die Scheunen dienen als Lagerraum oder werden gleich mitsamt dem Wohnhaus abgerissen, um Platz für ein modernes Einfamilienhaus zu schaffen. Das Dorf liegt zwar am Rand eines inzwischen ausgewiesenen und von der UNESCO anerkannten Biosphärenreservats, doch der Tourismus im Ort ist auf einige wenige Anbieter von Ferienwohnungen zurückgegangen. Vor zehn Jahren schloss sich das Dorf mit anderen Ortschaften im Tal zu einer Einheitsgemeinde zusammen. Die Verwaltung mit dem hauptamtlichen Bürgermeister befindet sich in einem zentralen Ort acht Kilometer entfernt. Dort, wo auch die Arztpraxis liegt, um deren Wiederbesetzung die Einwohner alle paar Jahre zittern müssen, wenn der Landarzt in Rente geht oder sich doch nach einer lukrativeren Praxis in der Stadt umgeschaut hat.

Der Zusammenschluss der Gemeinden hatte seinerzeit handfeste finanzielle Hintergründe: Das Regierungspräsidium war nicht länger bereit, die defizitären Verwaltungshaushalte der Einzelgemeinden auszugleichen. Nun müssen andere Einkommensquellen aufgetan werden, und vor wenigen Jahren tauchte ein vielversprechender Kandidat am Horizont auf: ein Windpark mit neun Windkraftanlagen, die alle im Gemeindewald entlang des Höhenzugs zum Nachbartal errichtet werden sollen. In Aussicht stehen Pachterträge für die Gemeindekasse und für die Einwohner obendrein das gute Gefühl, ihren Teil zum Kampf gegen den Klimawandel beizutragen. Einerseits. Andererseits würden selbst in der dünn besiedelten Gegend die geplanten 230 Meter hohen Windräder manchen Ansiedlungen bedrängend nahe rücken, es drohen Lärm mit all seinen gesundheitlichen Auswirkungen und massive Eingriffe in Natur und Landschaft. Ein Teil der Bewohner unterstützt das Vorhaben, andere haben eine Bürgerinitiative dagegen gegründet. Es ist eine Geschichte, wie sie sich derzeit in Deutschland hundertfach abspielt und in der die Rollen nicht mehr so eindeutig zuzuordnen sind, wie das früher einmal der Fall gewesen sein mag: hier die edlen Naturschützer, dort die gierige Energieindustrie.

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