Lesen (Proust-Bots)
von Elias Kreuzmair@ProustBot, 27. März 2020, 20:00 Uhr: »Autrefois, j’ai planté des salades de bonne heure«, einst habe ich frühmorgens Salat gepflanzt. @ProustBot, 28. Juni 2020, 14:57 Uhr: »Toute mon enfance, j’ai fait du poney trop tard«, während meiner ganzen Kindheit bin ich zu spät auf dem Pony geritten. Seit Mai 2016 veröffentlicht der @ProustBot ungefähr alle sechs Stunden auf Twitter eine neue Variante des ersten Satzes von Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu (1913–1927). Er hat bisher 7408 Tweets publiziert (Stand: 28. Juni 2021), sich dabei allerdings einige Male wiederholt.
Ganz ähnlich funktioniert der Bot @LongtempsP, der seit August 2020 616 Tweets publiziert hat. Auch er findet immer neue Variationen des Anfangssatzes der Recherche, behält aber im Gegensatz zum @ProustBot die Temporaladverbien »longtemps« am Anfang des Satzes und »de bonne heure« am Ende bei: »Longtemps je me suis aménagé de bonne heure«, lange Zeit habe ich mich früh eingerichtet (17. Dezember 2020, 19:34 Uhr). Oder: »Longtemps, je me suis excavé de bonne heure« (21. Oktober 2020, 20:33 Uhr), lange Zeit habe ich mich früh ausgegraben.
Diese Beispiele sind schon zwei der wirklichkeitsnäheren Sätze, die @LongtempsP produziert hat. Die meisten Verben, die der Bot einsetzt, wollen nicht so recht in das Schema des Satzes passen, für das eigentlich nur reflexive Verben geeignet sind. Dafür finden sich sehr ausgefallene Wörter in den Posts: etwa »rimailler«, das mit »schlechte Reime schmieden« zu übersetzen ist, oder »hydrofinir«, das den chemischen Prozess der hydrierenden Raffinierung beschreibt, wie sie in der Herstellung von Schmierstoffen zum Einsatz kommt.
@ProustBot und @LontempsP variieren den Eingangssatz der Recherche, lassen das übrige Textmaterial aber außen vor. In dieser Hinsicht ist @BotRecherche von Greg Devin ein kühneres Projekt. Zwischen erster und letzter Zeitangabe des Romans bildet der Bot aus typischen Syntagmen und Präpositionen des Romans neue Sätze. Alle zwölf Stunden entsteht so eine neue Kürzestversion der Recherche: »Longtemps, j’ai fait semblant à l’heure du dîner dans ma chambre tandis que Cottard hésitait comme d’une agate opaline travaillée et polie, laissant les jolies femmes aux hommes sans imagination, puisque rien ne peut durer qu’en devenant général – dans le temps« (25. November 2020, 7:28 Uhr). Man müsste das ungefähr so übersetzen: »Lange habe ich es zur Abendessenzeit in meinem Zimmer so aussehen lassen als ob, während hingegen Cottard wie von einem opalartig gearbeiteten und geschliffenen Achat zögerte, die schönen Frauen den Männern ohne Fantasie überlassend, denn nichts kann dauern als im Begriff allgemein zu werden – in der Zeit.«
Zwar ergibt dieser Satz wenig Sinn, dennoch vermag er ein Element der Recherche nachzubilden. Durch die Rahmung etabliert er das zentrale Thema der Zeit, die geschachtelten, sich steigernden Satzkonstruktionen sind syntaktisch repräsentativ für den Roman, wenn man den Abstraktionsgrad nur genug erhöht. Zwischen »longtemps« und »dans le temps« wird durch die Satzkonstruktion Spannung aufgebaut, die mit der schließenden Temporalkonstruktion aufgehoben wird.
Die drei angesprochenen stellen eine spezifische Variante von Proust-Bots dar. Es gibt neben ihnen mindestens zwei japanische, einen koreanischen und natürlich einen französischen Bot, die die Recherche in kleinen Textportionen versenden beziehungsweise versendet haben. (Das Problem mit Bots ist, dass sie einen Rechner brauchen, auf dem sie laufen. Wer einen Twitter-Bot auf dem eigenen Rechner betreibt, darf diesen also nicht ausschalten oder die Verbindung zum Internet trennen. Arbeitet man nicht mit einer Cloud-Lösung, hört der Bot auf zu posten, wenn der Rechner einmal ausgeschaltet wird und das Skript nach dem Neustart nicht manuell reaktiviert wird.)
Twitter stellt die ideale Plattform für solche Textexperimente dar, die zudem wesentlich einfacher zu vollführen sind als zuvor. Man muss nicht einen »Poesie-Automaten« bauen lassen wie Hans Magnus Enzensberger, sondern nur eine ungefähre Idee von der Funktionsweise eines Computerprogramms haben, sich ein Youtube-Tutorial ansehen und ein paar Code-Schnipsel im Netz zusammensuchen. Dann kann man mit wenig Aufwand einen Bot programmieren. Dass diese Bots häufig mit einfachen Verfahren der Korpuslinguistik arbeiten, führt zur Fokussierung auf grammatische Fragen in den Lektüren der Ausgangstexte.