Heft 849, Februar 2020

Lesen wir die deutsche Geschichte richtig?

von Wolfgang Müller

Friedrich Schillers An die Freude, später von Beethoven vertont, ist zu einer Ikone des Menschheitlichen geworden. Umso verstörender die Randnotiz, die Theodor W. Adorno in einem unveröffentlichten Manuskript neben das »Seid umschlungen, Millionen!« schrieb: »Hitler«.

Man kann das irrwitzig finden, unhistorisch, ungerecht, aber Assoziationen haben ihre eigene Logik und können selbst in ihrer scheinbaren Unlogik auf verborgene Zusammenhänge deuten. Schockierend an Adornos Notiz ist ja nicht der Hinweis auf das Offenkundige – den Absturz Deutschlands in das Grauen der Hitler-Zeit –, sondern dass er diesen Tiefpunkt in direkte Verbindung bringt mit dem, was diese Nation einst für ihr Höchstes hielt. Wenn selbst in Schillers An die Freude noch Verfolgung und Vernichtung mitgelesen werden, dann erscheint die deutsche Kultur bis in die Wurzel kontaminiert. Und dann muss die Suche nach den Ursachen der Katastrophe sehr tief ansetzen. Was sie auch seit langem tut, nur vielleicht auf falsche Weise.

Die heute dominierende Erklärung geht etwa so: Im Vergleich zu Ländern wie Frankreich oder England hatten die Deutschen Schwierigkeiten mit der Nationsbildung. Ein Hindernis war insbesondere ihre eigentümliche politische Erbschaft, jenes Heilige Römische Reich Deutscher Nation, zu dem auch (etwa mit Böhmen) nichtdeutsche Gebiete gehörten, während umgekehrt große preußische und habsburgische Gebiete außerhalb des Reiches lagen. Jedenfalls war es kein passender Rahmen für einen deutschen Nationalstaat.

Als schließlich mit der Revolution 1848 doch noch ein vielversprechender Anlauf zu einer Einheit in Freiheit begann, scheiterte dieser, teils an der Komplexität der Aufgabe (nur mühsam rang man sich zu einer »kleindeutschen« Lösung durch, ohne Österreich), teils an der Zögerlichkeit der Revolutionäre. Zwar kam die Einheit wenig später doch, nach Bismarcks Kriegen 1864 bis 1871, aber jetzt ohne Freiheit, preußisch-autoritär. Dies, so die verbreitete Meinung, war eben der deutsche Sonderweg: Während im Westen die Nationsbildung, alles in allem, von Prozessen der Demokratisierung begleitet war, wurde Deutschland Nation, blieb aber im Inneren ein Obrigkeitsstaat.

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