Liberale gegen Liberale
Unpopuläres über den (deutschen) Populismus von Georg SimmerlUnpopuläres über den (deutschen) Populismus
Jan-Werner Müller hat mit seinem jüngsten Beitrag im Merkur einer Ahnung zur Sprache verholfen, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit schon seit geraumer Zeit aufzieht: dass man sich dort nämlich einer antagonistischen Konfrontation zwischen Liberalen und Populisten beiwohnen sieht.1 Gewiss, Müller gebraucht diese Begriffe analytisch-reflektiert, und die strategischen Ratschläge, die er der liberalen Elite für den Umgang mit ihren antipluralistischen Antipoden mit auf den Weg gibt, sind das Ergebnis einer langen Debatte. Gleichwohl muss es Fragen aufwerfen, dass die gegenwärtige Lage von allen Seiten durch ein und denselben Schematismus erfasst und bearbeitet wird: von den »Populisten«, die zwischen Ablehnung und Aneignung dieses Etiketts schwanken, aber an der Etablierung der antagonistischen Lagebeurteilung selbst zweifellos maßgeblich beteiligt waren; von den »liberalen Eliten« aus Medien und Politik, die populistischen Anwürfen fortlaufend ausgesetzt sind; und schließlich auch von der vornehmlich professoralen Kommentatorenschaft, die sich nicht entscheiden kann, ob sie Partei oder Beobachter des Konfrontationsgeschehens in der bürgerlichen Öffentlichkeit sein will.
Einen wichtigen Hinweis, wie es zu diesem Einverständnis der kritischen Intelligenz mit dem gesunden Menschenverstand kommen konnte, gibt Müller auch. Unter denjenigen, die sich als Beobachter verstehen, habe die antagonistische Situationsdeutung mit der Einsicht Einzug gehalten, dass die demarkierende Identifikation von »Populisten« eine liberale Strategie und insofern mit der Frage nach dem Populismus auch unweigerlich die Frage nach dem Liberalismus selbst aufgeworfen sei (verstanden nicht als Parteiung, sondern als umfassende Problemstellung). Obwohl sich Müller nicht an dem aus dieser Erkenntnis erwachsenen »Markt für liberale Schuldbekenntnisse« beteiligen will, kommt auch er bei dem Versuch zu bestimmen, was ein Liberaler ist, nicht ohne Rekurs auf Carl Schmitt aus. Wenn der Liberalismus aber nicht ohne seine Kritik gedacht werden kann, gleichviel ob es sich der Intention nach um liberale Selbstkritik oder um antiliberale Kritik handelt, dann kann es tatsächlich nicht darum gehen, ein weiteres Mal eine der gängigen Varianten der Liberalismuskritik zu wiederholen. Dann ist vielmehr der Frage nachzugehen, welcher Liberalismus das ist, in dem sich die jüngste Debatte um den Populismus mit all ihren kritischen Formen vollzieht, und in welche Richtung er sich bewegt.
Kritikmaschine
Unsere Gegenwart begann in jeder der ihr vorangegangenen Krisen. Und so überrascht es auch nicht, dass es 1979 war, am Ende einer langen zeitdiagnostischen Debatte über die jüngste Krise des Kapitalismus, als sich ausgerechnet der wohl idealistischste Bundesrepublikaner Jürgen Habermas ein gern von Neokonservativen gebrauchtes Kritikmuster anverwandelte und alternative, ökologische und feministische Bewegungen unter das Rubrum »neopopulistische Strömungen« einsortierte. Während sein ehemaliger Mitarbeiter Claus Offe im gleichen Band noch offenherzig gewisse Strukturanalogien zwischen sozialistischen und konservativen Krisentheorien konzedierte, hatte Habermas damit auch schon ein Verständnis des neuen Populismus geliefert, auf das sich bald viele einigen können sollten. Denn schon ihm galt dieser als bedeutendes Zeitsymptom struktureller Veränderungen, ein vor allem reaktiver Protest gegen die instrumentelle Rationalität administrativer Prozeduren, der, von heterogenen Bevölkerungsgruppen getragen, nicht mehr durch die etablierten Parteien und Gewerkschaften kanalisiert werden konnte, aber dennoch systemkonform blieb.2
Mittlerweile sind die Suhrkamp-Taschenbücher, in denen derlei Überlegungen angestellt werden, zwar deutlich schmaler geworden. Und der Liberalismus hat wieder den Status jenes allumfassenden Problems erlangt, der ihm damals für die Debatte zwischen Konservativen und demokratischen Sozialisten nicht zuerkannt wurde (außer vielleicht von Foucault). Was sich jedoch in jedem Fall zwischen 1979 und heute nicht geändert hat, wenn über Populismus gesprochen wird, ist, dass Kritikmuster, von denen schwer zu sagen ist, woher sie kommen, plötzlich die Seite wechseln.
Wenn etwa der Politologe Ivan Krastev in seinem aufsehenerregenden Essay Europadämmerung davon berichtet, dass der Liberalismus in Osteuropa schon längst als »Synonym für Heuchelei« gelte, weil seine Eliten sich weigerten, die Steuerung von Migration zu thematisieren, dann stellt sich die Frage, ob hier nun eigentlich – wie Aleida Assmann im Merkur treffend formuliert hat – Ressentiments analysiert oder nicht vielmehr geschürt werden, ob Krastev also dem Volk wirklich dessen Liberalismuskritik ablauscht oder sie ihm nicht doch eher in den Mund legt.3 Da aber die Herkunft zumindest dieser Kritikform feststeht – der Vorwurf eines heuchlerischen Pseudoliberalismus war schon im Vormärz gängig und zwar nicht nur unter seinen Gegnern, sondern auch unter denjenigen seiner Vertreter, die damit radikale Elemente isolieren wollten –, kann bei der Analyse Ivan Krastevs, immerhin Leiter des Centre for Liberal Strategies, wohl getrost von einer weiteren liberalen Strategie ausgegangen werden (auch Assmann vermutet beabsichtigte Unschärfen).
Obwohl nicht zu klären ist, ob sich auch Krastev damit als Realist gegenüber allzu liberalen Bestrebungen positionieren wollte, führt diese Strategie doch mitten hinein in das Liberalismus-Problem, das hinter der gegenwärtigen Debatte um den Populismus steht und von einem weiteren Essay luzide erfasst wird, den er gemeinsam mit dem britischen Historiker Stephen Holmes verfasst hat.4 Die beiden Autoren sprechen darin von einer »institutionellen Fassade« liberaler Demokratie in Osteuropa, machen den dort gegenwärtigen Illiberalismus andererseits aber auch als Reaktion verständlich: Er tritt vor dem Hintergrund einer bereits vollzogenen Umwandlung nach dem liberalen Modell auf und soll die Bürger gerade davon ablenken – bloß eine weitere Strategie in unweigerlich durchliberalisierten Gesellschaften also.
Darüber hinaus weisen Krastev und Holmes darauf hin, dass in Osteuropa Liberalismus und Nationalismus seit den 1990ern nie einen offenen Widerspruch dargestellt hätten, während in Deutschland vor allem deswegen eine postnationale Identität gepflegt werde, um auf europäischer Ebene nationale Interessen durchsetzen zu können. Sie dürften dabei zwar übersehen haben, dass der Nationalismus spätestens seit der Euro-Krise auch hierzulande wieder ein akzeptiertes Denkschema geworden ist. Mit dem Verweis auf unterschiedliche nationale Liberalismen, in denen bisweilen illiberale Strategien zum Einsatz kommen, haben Krastev und Holmes dennoch nicht nur eine apokalyptische Vision für Europa, sondern auch eine zukunftsträchtige Analytik seiner Gegenwart konturiert, die eine Alternative zur Entgegensetzung von Liberalen und Populisten bieten könnte.
Dass Liberalismus und Nationalismus keine unvereinbaren Gegensätze sind, erkennt auch Aleida Assmann an. Was sie aber daran hindert, die analytische Volte von Krastev und Holmes nachzuvollziehen, ist ihr eigenes gefestigtes Verständnis davon, wie der Liberalismus zu kritisieren sei. Denn obwohl Krastev und Holmes ja von der vollständigen Remodellierung Osteuropas nach liberalen Maßgaben ausgehen, rät sie ihnen dennoch den reichlich strapazierten Begriff des Neoliberalismus an, um den analytischen Gehalt ihrer Aussagen zu schärfen – und das gepaart mit einem Verweis auf die Arbeiten Wolfgang Streecks. Gerade dessen Neoliberalismus-Kritik zeigt sich jedoch unfähig, das Nationalistische im Liberalismus adäquat zu analysieren (und um Nationalismen handelt es sich bei den populistischen Bewegungen allemal). Nicht nur, dass sich auch Streeck als Nachlassverwalter des Nationalstaats der frühen Nachkriegszeit und seiner sozialdemokratischen Krisentheorie von Adam Tooze hat vorhalten lassen müssen, die zusehends enthemmte Rhetorik seiner jüngeren Arbeiten resoniere mit ethnonationalistischen Ressentiments (vgl. Assmann vs. Krastev).5
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