Heft 904, September 2024

Literaturwissenschaft als Kunsthandwerk

von Tim Lanzendörfer

Zu den vielleicht nicht überlebenswichtigen Fragen, die man sich gegenwärtig stellen kann, gehört jene, wie sich Literaturwissenschaftler ihren Alltag vorstellen, wie sie konkret handeln, welche Praktiken sie verfolgen und was diese Praktiken für die Gesellschaft bedeuten. Diese Fragen betreffen also Selbst- genauso wie Fremdverständnis des Fachs, auch wenn sie häufiger innerhalb als außerhalb seiner gestellt werden. Eine der überraschenderen internen Einlassungen kommt dabei von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Jonathan Kramnick. Sein jüngstes Buch, Criticism & Truth, ist explizit als Diskussion der Praxis der Literaturwissenschaft gedacht – und von deren Zugriff auf die Welt.1

Die Begriffe, die Kramnick dabei wählt, sind zumindest ungewöhnlich: Neben handelsübliche Termini wie Methode und eben practice setzt er den Begriff der Wahrheit und den des craft, des Handwerks, und liest diese als notwendigerweise miteinander verwoben. Wissenschaftliche Disziplinen, so beginnt Kramnick, gründen ihre Fähigkeit, Wahrheiten über die Welt (beziehungsweise den von ihnen beschriebenen Teil der Welt) zu erzählen, in Methoden. Für Kramnick ist die wissenschaftliche Methode des close reading jene, die die Expertise des literary criticism, also der anglophonen Spielart der Literaturwissenschaft, begründet. Und im close reading steckt das Handwerk, wie er emphatisch ausführt, dabei schließt er an eine breitere Debatte in der Anglophonie an: »Close reading isn’t reading. It’s writing«, genauer: das »craftwork of spinning sentences from sentences already in the world«.

Bei Kramnick ist Literaturwissenschaft explizit Handwerk, und wenn ich diesen Begriff gleich noch etwas komplizierter lesen möchte, sei vielleicht gesagt: Das scheint nicht so abwegig. Wir sprechen sicherlich alle zwischendurch mal vom »Handwerkszeug,« das wir in Anschlag bringen, und vom »Werkzeugkasten« der Literaturwissenschaft, ohne uns die Tragweite und -fähigkeit dieser Metaphern richtig vor Augen zu führen. Für Kramnick ist die Literaturwissenschaft aber zugleich auch, so muss das wohl gelesen werden, eine Kunst. Er benutzt den Begriff »Kunst« sogar selbst, mit Bezug auf Friedrich Schleiermacher, und erläutert dessen Verwendung. Kunst bedeute »fine arts as well as skilled craftsmanship«; mit Schleiermacher versteht er dann die Hermeneutik – genauer: das close reading – als »eine Kunst, in manner if not outcome«.

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