Literaturwissenschaft als Kunsthandwerk
von Tim LanzendörferZu den vielleicht nicht überlebenswichtigen Fragen, die man sich gegenwärtig stellen kann, gehört jene, wie sich Literaturwissenschaftler ihren Alltag vorstellen, wie sie konkret handeln, welche Praktiken sie verfolgen und was diese Praktiken für die Gesellschaft bedeuten. Diese Fragen betreffen also Selbst- genauso wie Fremdverständnis des Fachs, auch wenn sie häufiger innerhalb als außerhalb seiner gestellt werden. Eine der überraschenderen internen Einlassungen kommt dabei von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Jonathan Kramnick. Sein jüngstes Buch, Criticism & Truth, ist explizit als Diskussion der Praxis der Literaturwissenschaft gedacht – und von deren Zugriff auf die Welt.
Die Begriffe, die Kramnick dabei wählt, sind zumindest ungewöhnlich: Neben handelsübliche Termini wie Methode und eben practice setzt er den Begriff der Wahrheit und den des craft, des Handwerks, und liest diese als notwendigerweise miteinander verwoben. Wissenschaftliche Disziplinen, so beginnt Kramnick, gründen ihre Fähigkeit, Wahrheiten über die Welt (beziehungsweise den von ihnen beschriebenen Teil der Welt) zu erzählen, in Methoden. Für Kramnick ist die wissenschaftliche Methode des close reading jene, die die Expertise des literary criticism, also der anglophonen Spielart der Literaturwissenschaft, begründet. Und im close reading steckt das Handwerk, wie er emphatisch ausführt, dabei schließt er an eine breitere Debatte in der Anglophonie an: »Close reading isn’t reading. It’s writing«, genauer: das »craftwork of spinning sentences from sentences already in the world«.
Bei Kramnick ist Literaturwissenschaft explizit Handwerk, und wenn ich diesen Begriff gleich noch etwas komplizierter lesen möchte, sei vielleicht gesagt: Das scheint nicht so abwegig. Wir sprechen sicherlich alle zwischendurch mal vom »Handwerkszeug,« das wir in Anschlag bringen, und vom »Werkzeugkasten« der Literaturwissenschaft, ohne uns die Tragweite und -fähigkeit dieser Metaphern richtig vor Augen zu führen. Für Kramnick ist die Literaturwissenschaft aber zugleich auch, so muss das wohl gelesen werden, eine Kunst. Er benutzt den Begriff »Kunst« sogar selbst, mit Bezug auf Friedrich Schleiermacher, und erläutert dessen Verwendung. Kunst bedeute »fine arts as well as skilled craftsmanship«; mit Schleiermacher versteht er dann die Hermeneutik – genauer: das close reading – als »eine Kunst, in manner if not outcome«.
Der interpretative Akt sei unausweichlich kreativ, mehr noch: Wie Lyrik oder erzählende Literatur bedürfe er des Fingerspitzengefühls und der Geschicklichkeit des Schaffenden – hier des Literaturwissenschaffenden. Tatsächlich ist Kramnicks gesamter argumentativer Gedankengang direkt daraufhin ausgelegt. »Close reading as method, method as skilled practice, practice as creative action, and creative action as justified truth«: So, argumentiert er, ließe sich letztlich Literaturwissenschaft begründen. Die Methode begründet die Wahrheit, der Weg ist unausweichlicher Teil des Ziels.
Kunst und Handwerk: Bei Kramnick kristallisiert sich Literaturwissenschaft als eine Praxis heraus, die ich gerne ohne das »und« diskutieren möchte, eben als Kunsthandwerk. Zugegeben, Kramnick selbst nutzt den üblichen englischen Begriff, »arts and crafts,« so nicht. Seine Begriffe der »art« und des »craft« mit Kunsthandwerk zu übersetzen ist begriffslogisch, glaube ich, trotzdem richtig und stellt die entsprechenden Anforderungen an die Literaturwissenschaft, nämlich sich darüber klar zu werden, welche Anteile von Handwerklichem und welche Anteile von Künstlerischem ihrer Wissenschaftlichkeit zugehören – und was es bedeutet, sich so oder so festzulegen oder zumindest in diese oder jene Richtung zu lehnen. Der deutsche Begriff hat einen gewichtigen Vorteil gegenüber dem unbenutzten englischen: Er spart sich die Konjunktion und verbindet seine Teile so enger, sogar notwendig, eine hilfreiche Zuspitzung.
Die Idee eines »Kunsthandwerks Literaturwissenschaft« ist für manche Ohren sicherlich widersprüchlich, verbindet sie mit den Bezügen auf techne und episteme doch zwei gegensätzliche Aspekte aristotelischen Denkens – Begriffe, die, wie der Technikphilosoph und KI-Kritiker Matteo Pasquinelli schreibt, »funktional wurden, um soziale Hierarchien im Westen zu beschreiben«, nämlich jene, die das wissenschaftliche Wissen der episteme gegenüber dem Handwerk der techne überhöhen, die Arbeit in den white-collar-Professionen gegenüber den blue collar als wichtiger, vielmehr: als wertvoller, höher (wahrer, schöner, besser?) zu verstehen.
Wissen und Erkennen stehen sozialhierarchisch über dem bloßen Tun, und künstlerisches Schaffen erst recht. In seiner Verbindungsbegründung bemüht Kramnick Überlegungen des Philosophen Gilbert Ryle, dessen Unterscheidung zwischen »knowing how« und »knowing that«, zwischen Handlungswissen und Faktenwissen, sich durch die Debatte zieht und auf ähnliche Weise danach trachtet, die Trennung zwischen Schaffen und Denken aufzuheben.
Genau hierin liegt der Reiz der Analyse: Die Idee, Literaturwissenschaft als »craft epistemology« zu verstehen, lokalisiert diese in einem interessanten Spannungsfeld. Denn auf der einen Seite trägt Kramnick zu einem Programm der Entmystifizierung bei. Literaturwissenschaft als Kunsthandwerk ist dann »nur« kreatives Handwerk, also erlernbarer als Kunst und dabei trotzdem auf gebührendem Abstand zu ihr. Gleichzeitig wird sie aus dem intellektuellen Elfenbeinturm gelöst, eben weg von den sozialen Hierarchien von Professionalität und Laientum.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.