Heft 911, April 2025

Mehr Bürokratie wagen

von Michel Küppers

In einer von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) in Auftrag gegebenen Studie gaben 92,3 Prozent der Befragten an, der bürokratische Aufwand sei für Unternehmen und Bürger zu hoch. Die Zahlen scheinen das zu bestätigen. Nach Berichten des ZDF soll die Belastung durch Bürokratie 2023 so hoch gewesen sein wie nie zuvor. Kein Wunder, dass sich führende Politiker jedweder Couleur dem Bürokratieabbau verschrieben haben. Doch spätestens seitdem Christian Lindner im Dezember 2024 bei Caren Miosga dazu aufrief, mehr Musk und Milei zu wagen, wachsen auch Zweifel: Könnte so manche Forderung nach Bürokratieabbau nicht vielleicht doch zu weit gehen?

Die Kritik am Bürokratieabbau hat eine kleine, bescheidene Tradition in den politischen Feuilletons. Im Merkur widmete Ralph Bollmann dem Lob der Bürokratie bereits 2012 einen ausführlichen Essay. Darin hält er der geistlosen Bürokratiekritik Edmund Stoibers den geistreichen Max Weber entgegen. Es folgen ein kenntnisreicher Streifzug durch die deutsche Verwaltungsgeschichte und eine Reihe die Vorzüge der Bürokratie ausweisender Anekdoten. Bollmanns zentrale These lautet, dass Bürokratie keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für einen stabilen demokratischen Rechtsstaat und eine funktionierende Marktwirtschaft ist. Die Alternative zur bürokratischen Verwaltung sei die dilettantische. Wo die Bürokratie des modernen Verwaltungsstaates fehle, da herrsche die Willkür der charismatischen Herrschaft in Gestalt des modernen Diktators oder die Unfreiheit des vormodernen Personenverbands.

Nun haben allerdings auch die härtesten Bürokratiekritiker noch nie ernsthaft eine grundsätzliche Abkehr von der rationalen Herrschaft Weberscher Provenienz gefordert. Will man verstehen, weshalb Bürokratiekritik trotzdem so leicht verfängt (und zugleich niemals an ein Ende kommt), muss man den Blick wohl doch anders justieren: Auf der einen Seite besteht in der Bevölkerung ein weitverbreitetes, nicht per se unberechtigtes, aber eben auch unspezifisches Ressentiment gegen »die Bürokratie«. Bürokratisch sind hier wahlweise der aufgeblähte Staatsapparat, die Arbeitsmoral »der« Beamten, eine engstirnige und pedantische Geisteshaltung, eine unverständliche Ausdrucksweise, die fehlende Digitalisierung, unnötige Behördengänge oder ein Wust an vermeintlich sinnlosen Vorschriften. Die Unzufriedenheit bezieht sich aber nie nur auf einen einzelnen Vorgang, ein spezifisches Gesetz oder eine bestimmte Behörde, sondern beklagt immer zugleich einen allgemeinen, als defizitär empfundenen Zustand. Auf der anderen Seite haben sich in Deutschland seit den 1970er Jahren Initiativen und Institutionen herausgebildet, die das Ziel verfolgen, die Bürokratie systematisch zu vermessen und abzubauen.

Die permanente Thematisierung und die in diesem Zusammenhang erstellten Gutachten und Berichte verstärken bei gleichzeitigem Ausbleiben greifbarer Ergebnisse das allgemeine Ressentiment und erhöhen den politischen Druck, die Anstrengungen zum Bürokratieabbau zu verstärken – was wiederum zu einem weiteren Ausbau eben dieser Institutionen führt. Mit Max Weber hat diese Dynamik wenig zu tun. Will man ihr auf den Grund gehen, muss man sich die lange und verworrene Geschichte der Bürokratiekritik vergegenwärtigen.

Dass wir heute über ein griffiges Wort verfügen, um unserem Frust über die Regulierungswut des Staates Ausdruck zu verleihen, verdanken wir einem Möbelstück. Das »Bureau« war ein mit Stoff bezogener Tisch, an dem französische Beamte zu arbeiten pflegten. Im Laufe der Zeit weitete sich die Bedeutung des Ausdrucks und umfasste auch die Arbeitsräume der Staatsdiener. In Verbindung mit dem altgriechischen Krátos gelangte man zur Bureaucratie, der Herrschaft der Amtsstube. Der spöttisch-ironische Ausdruck geht auf den französischen Ökonomen und Staatsmann Vincent de Gournay (1712–1759) zurück, der damit seinen Unmut über die Handelspolitik seines Landes zum Ausdruck brachte. Im 19. Jahrhundert fand der Begriff dann Eingang in die politischen und verwaltungswissenschaftlichen Schriften der Zeit. Bürokratie blieb aber, allen Versuchen der Versachlichung und Verwissenschaftlichung zum Trotz, ein Schmähwort. 1846 spottete der Staatsrechtler Robert Mohl, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen seien »wundersam einstimmig in ihrer Verwerfung, im verachtenden Hasse gegen die Bureaukraten; allein unmöglich können diese Alle das Nämliche meinen, weil sie so weit entfernt sind, das Nämliche zu wollen«.

Das Ressentiment gegen die Bürokratie blickt also auf eine lange Geschichte zurück und war schon immer gleichsam politisch und unbestimmt. Ab den 1970er Jahren nahm das Lamento über lebensferne Beamte, unnötig komplizierte Verwaltungsabläufe und unliebsame Gesetze jedoch neue Formen an. Damals wandelte sich unter dem Eindruck der Ölkrise und dem wachsenden internationalen Wettbewerbsdruck das Meinungsklima. Die Bürokratie erschien plötzlich als existenzbedrohend, und aus einer Schmähung wurde eine fest umrissene politische Agenda. An diesem Prozess hatte die CDU einen erheblichen Anteil. Die Christdemokraten versuchten sich damals aus der Opposition heraus programmatisch zu erneuern. Heiner Geißler trieb diesen Prozess als CDU-Generalsekretär maßgeblich voran und setzte dabei auf das Thema Bürokratieabbau. Bald gab es kaum eine Rede eines CDU-Politikers mehr, in der nicht gegen die Bürokratie gewettert wurde. Das Programm der CDU zur Entbürokratisierung von Staat und Gesellschaft von 1979 beschwor gar die »lautlose Systemüberwindung«. Die Bürokratie führe in den Sozialismus – ganz ohne Revolution und ohne demokratische Mehrheit, sondern »durch Bürokratisierung gleichsam wie von selbst«.

In den folgenden zwei Jahrzehnten folgte eine Abbauinitiative der anderen. Es gab die Länderkommissionen zur Entbürokratisierung, die Geschäftsstelle Entbürokratisierung im Bundesministerium des Innern, die Waffenschmidt-Kommission, die Schlichter-Kommission, den Sachverständigenrat »Schlanker Staat«, die Mandelkern-Kommission, die Fuchs-Kommission und die Henzler-Kommission: Sie alle hatten sich dem Kampf gegen die Bürokratie verschrieben. In Erinnerung geblieben ist kaum eine von ihnen. Die Forderung nach Bürokratieabbau ist aus der Politik dennoch nicht mehr wegzudenken.

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