Mehr Bürokratie wagen
von Michel KüppersIn einer von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) in Auftrag gegebenen Studie gaben 92,3 Prozent der Befragten an, der bürokratische Aufwand sei für Unternehmen und Bürger zu hoch.1 Die Zahlen scheinen das zu bestätigen. Nach Berichten des ZDF soll die Belastung durch Bürokratie 2023 so hoch gewesen sein wie nie zuvor.2 Kein Wunder, dass sich führende Politiker jedweder Couleur dem Bürokratieabbau verschrieben haben. Doch spätestens seitdem Christian Lindner im Dezember 2024 bei Caren Miosga dazu aufrief,3 mehr Musk und Milei zu wagen, wachsen auch Zweifel: Könnte so manche Forderung nach Bürokratieabbau nicht vielleicht doch zu weit gehen?
Die Kritik am Bürokratieabbau hat eine kleine, bescheidene Tradition in den politischen Feuilletons. Im Merkur widmete Ralph Bollmann dem Lob der Bürokratie bereits 2012 einen ausführlichen Essay.4 Darin hält er der geistlosen Bürokratiekritik Edmund Stoibers den geistreichen Max Weber entgegen. Es folgen ein kenntnisreicher Streifzug durch die deutsche Verwaltungsgeschichte und eine Reihe die Vorzüge der Bürokratie ausweisender Anekdoten. Bollmanns zentrale These lautet, dass Bürokratie keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für einen stabilen demokratischen Rechtsstaat und eine funktionierende Marktwirtschaft ist. Die Alternative zur bürokratischen Verwaltung sei die dilettantische. Wo die Bürokratie des modernen Verwaltungsstaates fehle, da herrsche die Willkür der charismatischen Herrschaft in Gestalt des modernen Diktators oder die Unfreiheit des vormodernen Personenverbands.
Nun haben allerdings auch die härtesten Bürokratiekritiker noch nie ernsthaft eine grundsätzliche Abkehr von der rationalen Herrschaft Weberscher Provenienz gefordert. Will man verstehen, weshalb Bürokratiekritik trotzdem so leicht verfängt (und zugleich niemals an ein Ende kommt), muss man den Blick wohl doch anders justieren: Auf der einen Seite besteht in der Bevölkerung ein weitverbreitetes, nicht per se unberechtigtes, aber eben auch unspezifisches Ressentiment gegen »die Bürokratie«. Bürokratisch sind hier wahlweise der aufgeblähte Staatsapparat, die Arbeitsmoral »der« Beamten, eine engstirnige und pedantische Geisteshaltung, eine unverständliche Ausdrucksweise, die fehlende Digitalisierung, unnötige Behördengänge oder ein Wust an vermeintlich sinnlosen Vorschriften. Die Unzufriedenheit bezieht sich aber nie nur auf einen einzelnen Vorgang, ein spezifisches Gesetz oder eine bestimmte Behörde, sondern beklagt immer zugleich einen allgemeinen, als defizitär empfundenen Zustand. Auf der anderen Seite haben sich in Deutschland seit den 1970er Jahren Initiativen und Institutionen herausgebildet, die das Ziel verfolgen, die Bürokratie systematisch zu vermessen und abzubauen.
Die permanente Thematisierung und die in diesem Zusammenhang erstellten Gutachten und Berichte verstärken bei gleichzeitigem Ausbleiben greifbarer Ergebnisse das allgemeine Ressentiment und erhöhen den politischen Druck, die Anstrengungen zum Bürokratieabbau zu verstärken – was wiederum zu einem weiteren Ausbau eben dieser Institutionen führt. Mit Max Weber hat diese Dynamik wenig zu tun. Will man ihr auf den Grund gehen, muss man sich die lange und verworrene Geschichte der Bürokratiekritik vergegenwärtigen.
Dass wir heute über ein griffiges Wort verfügen, um unserem Frust über die Regulierungswut des Staates Ausdruck zu verleihen, verdanken wir einem Möbelstück. Das »Bureau« war ein mit Stoff bezogener Tisch, an dem französische Beamte zu arbeiten pflegten. Im Laufe der Zeit weitete sich die Bedeutung des Ausdrucks und umfasste auch die Arbeitsräume der Staatsdiener. In Verbindung mit dem altgriechischen Krátos gelangte man zur Bureaucratie, der Herrschaft der Amtsstube. Der spöttisch-ironische Ausdruck geht auf den französischen Ökonomen und Staatsmann Vincent de Gournay (1712–1759) zurück, der damit seinen Unmut über die Handelspolitik seines Landes zum Ausdruck brachte. Im 19. Jahrhundert fand der Begriff dann Eingang in die politischen und verwaltungswissenschaftlichen Schriften der Zeit. Bürokratie blieb aber, allen Versuchen der Versachlichung und Verwissenschaftlichung zum Trotz, ein Schmähwort.5 1846 spottete der Staatsrechtler Robert Mohl, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen seien »wundersam einstimmig in ihrer Verwerfung, im verachtenden Hasse gegen die Bureaukraten; allein unmöglich können diese Alle das Nämliche meinen, weil sie so weit entfernt sind, das Nämliche zu wollen«.6
Das Ressentiment gegen die Bürokratie blickt also auf eine lange Geschichte zurück und war schon immer gleichsam politisch und unbestimmt. Ab den 1970er Jahren nahm das Lamento über lebensferne Beamte, unnötig komplizierte Verwaltungsabläufe und unliebsame Gesetze jedoch neue Formen an. Damals wandelte sich unter dem Eindruck der Ölkrise und dem wachsenden internationalen Wettbewerbsdruck das Meinungsklima. Die Bürokratie erschien plötzlich als existenzbedrohend, und aus einer Schmähung wurde eine fest umrissene politische Agenda.7 An diesem Prozess hatte die CDU einen erheblichen Anteil. Die Christdemokraten versuchten sich damals aus der Opposition heraus programmatisch zu erneuern. Heiner Geißler trieb diesen Prozess als CDU-Generalsekretär maßgeblich voran und setzte dabei auf das Thema Bürokratieabbau. Bald gab es kaum eine Rede eines CDU-Politikers mehr, in der nicht gegen die Bürokratie gewettert wurde. Das Programm der CDU zur Entbürokratisierung von Staat und Gesellschaft von 1979 beschwor gar die »lautlose Systemüberwindung«. Die Bürokratie führe in den Sozialismus – ganz ohne Revolution und ohne demokratische Mehrheit, sondern »durch Bürokratisierung gleichsam wie von selbst«.
In den folgenden zwei Jahrzehnten folgte eine Abbauinitiative der anderen. Es gab die Länderkommissionen zur Entbürokratisierung,8 die Geschäftsstelle Entbürokratisierung im Bundesministerium des Innern, die Waffenschmidt-Kommission, die Schlichter-Kommission, den Sachverständigenrat »Schlanker Staat«, die Mandelkern-Kommission, die Fuchs-Kommission und die Henzler-Kommission: Sie alle hatten sich dem Kampf gegen die Bürokratie verschrieben. In Erinnerung geblieben ist kaum eine von ihnen. Die Forderung nach Bürokratieabbau ist aus der Politik dennoch nicht mehr wegzudenken.
Anfang der 2000er Jahre galten die bisherigen Abbaubemühungen im Wesentlichen als gescheitert. Die CDU/CSU-Fraktion hatte schnell einen Grund ausgemacht. Es mangele an »systematischen, auf die Dauer angelegten und damit durchgreifenden Maßnahmen und Instrumenten zum Rückbau von Bürokratie«.9 Die Forderung nach Bürokratieabbau war von der allgemeinen Überzeugung getragen, dass die in Deutschland tätigen Unternehmen unter einer unüberschaubaren Anzahl komplizierter und sinnbefreit formalistischer gesetzlicher Vorgaben leiden, die volkswirtschaftlich erheblichen Schaden anrichten. Nur war weiterhin völlig unklar, was überhaupt abgebaut werden sollte.
Die vermeintlich allgegenwärtigen bürokratischen Regeln ließen sich weder einzeln benennen noch abstrakt beschreiben. Man beschränkte sich daher fürs Erste darauf, die Bundesgesetzblätter zu durchforsten und mit großer Emphase die in diesem oder jenen Zeitraum erlassenen Gesetze und Rechtsverordnungen zu zählen. Nun ist allgemein anerkannt, dass diesen Zahlen keinerlei Aussagegehalt zukommt, und Hans Peter Bull weist zu Recht darauf hin, dass sich auch die Bürokratiekritik in Wahrheit gar nicht für den Umfang und die Anzahl an gesetzlichen Vorschrift interessiert: »Laufbahnverordnungen und Besoldungstabellen für Beamte etwa, Ausbildungsordnungen für Handwerksberufe, Steuertabellen, Listen verbotener Emissionen dürfen so lang sein, wie die Verfasser es für nötig halten – als unerwünschte Auswüchse schlechter Normsetzung gelten allenfalls diejenigen Teile solcher Vorschriften, die den Beteiligten Lasten auferlegen.«10 Aber es blieb der Union gar nichts anderes übrig, denn es mangelte damals an einer präzisen Begriffsbestimmung, an einer Messmethode für die Belastungen durch die Bürokratie.11
Als die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel im September 2005 eine Senkung der »Bürokratiekosten« um 50 Prozent ankündigte, markierte das den Auftakt einer neuen Phase des Bürokratieabbaus in Deutschland.12 Nur, wie sollte man dieses Versprechen umsetzen? Die Suche nach Antworten führte in die Niederlande, die damals eine Vorreiterrolle im Bürokratieabbau einnahmen.13 Ab Mai 2000 war hier erstmals ein Konzept erprobt worden, das bald in ganz Europa Karriere machen sollte. Die niederländische Regierung wurde verpflichtet, bei jedem Gesetzesvorhaben die dadurch verursachten Bürokratiekosten nach dem sogenannten »Standardkostenmodell« zu berechnen.14 Es wurde eine unabhängige, auf Dauer angelegte Institution eingesetzt, um diesen Vorgang zu überwachen: das Adviescollege Toetsing Administratieve Lasten (»Rat zur Vermeidung administrativer Lasten«). Nun gab es eine »objektive Messmethode« zur Erfassung der bürokratischen Belastung und eine auf Dauer angelegte, die Regierung kontrollierende Behörde. Politikberatungen in ganz Europa priesen das Verfahren. In Deutschland rührte allen voran die Bertelsmann Stiftung die Werbetrommel. Es war der Traum von einem unpolitischen Bürokratieabbau.
Norbert Röttgen, dem die Aufgabe zufiel, Merkels Wahlkampfversprechen in ein umsetzbares politisches Programm zu überführen, träumte mit. Schnell war ein Arbeitskreis gegründet, und Delegationen der Bertelsmann Stiftung und der CDU reisten nach Den Haag, um sich mit Vertretern des Adviescollege Toetsing Administratieve Lasten auszutauschen. Die gewonnenen Erkenntnisse flossen in einen Bericht ein, wurden Merkel vorgelegt und für gut befunden. Wenig später verständigten sich die Union und die SPD im Koalitionsvertrag darauf, das niederländische »Standardkosten-Modell zur objektiven Messung der bürokratischen Belastungen von Unternehmen umgehend einzuführen« und »zur Begleitung dieses Prozesses ein unabhängiges Gremium von Fachleuten (Normenkontroll-Rat)« ins Leben zu rufen.15 Am 14. August 2006 dann wurden die Pläne Gesetz. Das Standardkosten-Modell versprach Wissenschaftlichkeit und der Normenkontrollrat Beständigkeit im Kampf gegen die Bürokratie. Mit ihm glaubte die Bundesregierung nun einen »objektiven Methodenwächter« an ihrer Seite, der darauf achten sollte, dass die neue Methode auch richtig angewandt wird.16
Seither hat die Bürokratie ein Preisschild. Der vom Normenkontrollrat erfasste laufende Erfüllungsaufwand gilt als Maß für die Bürokratiebelastung.17 Er soll gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates (NKRG) den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten erfassen, die durch die Befolgung einer bundesrechtlichen Vorschrift bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft sowie der öffentlichen Verwaltung entstehen.
Will die Bundesregierung ein Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen, muss sie im Regierungsentwurf diese Kosten abschätzen. Der zuständige Sachbearbeiter nimmt dazu einen kleinteiligen – um nicht zu sagen bürokratischen – Leitfaden zur Hand, in dem beispielsweise steht, wie hoch der typische Zeitaufwand ist, um ein Formular auszufüllen, sich mit einer gesetzlichen Vorschrift vertraut zu machen oder fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen.18 Der Normenkontrollrat wird frühzeitig in die Kostenschätzung einbezogen und prüft die Angaben der Bundesregierung. Sind alle Vorgaben eines Regelungsvorhabens identifiziert, die Zahl der Fälle und Normadressaten ermittelt und der jeweilige Zeit- und Sachaufwand sowie die Lohnkosten geschätzt und addiert, ist es bis zum Feierabend nicht mehr weit. Jetzt muss nur noch berechnet werden, wie sich das einzelne Vorhaben auf den gesamten laufenden Erfüllungsaufwand auswirkt. Tritt das Gesetz in Kraft, nimmt der Normenkontrollrat diese Zahl in seinen Jahresbericht auf.
2023 betrugen die so gemessenen »Bürokratielasten« 26,8 Milliarden Euro.19 Bei näherer Betrachtung offenbart der laufende Erfüllungsaufwand jedoch gravierende methodische Mängel und einen politisch-ideologischen Kern, der mit der Idee einer »mit Autorität ausgestatteten neutralen Einrichtung«20 nur schwer in Einklang zu bringen ist. Die Probleme beginnen mit dem Struck’schen Gesetz.21 Wird der Regierungsentwurf im laufenden Gesetzgebungsverfahren geändert, hat das auf die Berechnung des Erfüllungsaufwands in der Regel keinen Einfluss mehr.22 Ebenso wenig finden Gesetzesentwürfe des Bundesrats oder aus der Mitte des Bundestages Eingang in die Berechnung. Und da der Erfüllungsaufwand erst seit 2011 erhoben wird, werden die Kosten älterer Gesetze nicht berücksichtigt. Der Erfüllungsaufwand misst also nicht die »Bürokratielasten«. Er gibt die grob geschätzten Kosten an, welche die seit 2011 eingebrachten Regierungsentwürfe verursachen würden, wenn sie Gesetz geworden wären – sofern nur überhaupt irgendein Gesetz aus ihnen hervorgegangen ist.
Vor allem aber werden die Vorteile, die das Gesetz mit sich bringt, nur ganz unzureichend berücksichtigt.23 Das liegt nicht einmal zwingend am fehlenden politischen Willen des Normenkontrollrats oder des federführenden Ministeriums. Der gesamtgesellschaftliche Nutzen einer einzelnen gesetzlichen Maßnahme lässt sich in Zahlen schlicht nicht sinnvoll beziffern. Die Kosten einer klimapolitischen Vorgabe sind schnell geschätzt, ihre Vorteile aber können – trotz der grundsätzlich unbestrittenen Notwendigkeit klimaschützender Maßnahmen – nicht in Euro und Cent angegeben werden. Bei anderen politischen Zielen ist ein finanzieller Nutzen überhaupt nicht ersichtlich. Wäre der laufende Erfüllungsaufwand bereits 1891 erhoben worden, so hätte etwa das Verbot der Fabrikarbeit volksschulpflichtiger Kinder die »Bürokratielasten« in die Höhe getrieben.
Der laufende Erfüllungsaufwand umfasst also jedes Gesetz, das irgendwen Geld kostet, ganz gleich wie ausgewogen, effizient und gesamtgesellschaftlich wünschenswert es ist. Das zeigen die großen Kostentreiber der letzten zehn Jahre: die Energieeinsparverordnung, das Mindestlohngesetz, das Ganztagsförderungsgesetz und das Gebäudeenergiegesetz. Nicht unnötiger Verwaltungsaufwand, ellenlange Formulare und vermeidbare Behördengänge treiben die Kosten. Das Mindestlohngesetz etwa ist allein deswegen ein 5,6 Milliarden Euro schweres Bürokratiemonster, weil die Wirtschaft höhere Löhne zahlen muss.24 Dabei war der Normenkontrollrat anfangs sogar noch von Kosten in Höhe von 9,7 Milliarden Euro ausgegangen.25 Der Mehraufwand durch Dokumentationspflichten beträgt nicht einmal 2 Prozent. Gleichzeitig wird der Nutzen für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor ausgeblendet.
Das hat handfeste politische Folgen, denn die Bundesregierung hat sich selbst verpflichtet, nur in dem Maße neue »bürokratische« Lasten einzuführen, wie bisherige abgebaut werden.26 »One in – one out« heißt das im politischen Marketing-Jargon, wobei nur die Belastungen für die Wirtschaft Beachtung finden. Mit ihrer »Wachstumsinitiative« vom 5. Juli 2024 ist die Ampelregierung noch einen Schritt weiter gegangen und hat angekündigt, einen »Belastungs-Abbaupfad« gesetzlich festzulegen.27 Sollte das Vorhaben umgesetzt werden, wären künftige Regierungen verpflichtet, jedes Jahr ein neues Bürokratieentlastungsgesetz vorzulegen, »welches sicherstellt, dass die Belastung aus sämtlichen Bundesgesetzen in dem jeweiligen Jahr auch unter Berücksichtigung neu geschaffener Regelungen abnimmt«.
Bürokratieabbau wird damit zum Selbstzweck ohne Blick auf die Folgen. Um die selbstgesteckten Abbauziele zu erreichen, muss die Politik immer neue Vorschriften ausfindig machen, die gestrichen werden können. Dadurch entsteht der Anreiz, die Vorteile einer Streichung zu überhöhen und die damit einhergehenden Nachteile herunterzuspielen. Die Abschaffung der Hotelmeldepflicht durch das Bürokratieentlastungsgesetz IV ist ein anschauliches Beispiel dafür, welche Rechenspiele erforderlich sind, um die Kostenersparnisse zu ermitteln. Nach alter Rechtslage waren Beherbergungsstätten verpflichtet, für jeden Gast einen Meldeschein bereitzuhalten, auszufüllen und zu archivieren. Die Pflicht diente der Gefahrenabwehr und sollte die Strafverfolgung erleichtern.
Der Dokumentationsaufwand wurde im Regierungsentwurf auf zwei Minuten pro Vorgang geschätzt. Bei einem veranschlagten Stundenlohn von 21 Euro und 88,6 Millionen Fällen pro Jahr ergibt sich eine Kostenersparnis von 62 Millionen Euro.28 Dies setzt allerdings voraus, dass die Beherbergungsstätten durch den Wegfall der Meldepflicht in die Lage versetzt werden, Personalkosten durch Entlassungen oder Arbeitszeitverkürzungen zu senken oder die freiwerdende Arbeitszeit produktiv für wertschöpfende Tätigkeiten zu nutzen. Andernfalls bleibt die angenommene Einsparung rein theoretisch.
Zudem besteht die Gefahr, dass sinnvolle Regelungen leichtfertig gestrichen werden. Das zeigt sich besonders deutlich am jüngst verabschiedeten Bürokratieentlastungsgesetz IV. Darin wurden unter anderem die Aufbewahrungsfristen für Steuer- und Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre verkürzt. Unnötige Papierberge sollten verhindert werden. Die Bundesregierung versprach Einsparungen in Höhe von 626 Millionen Euro für die Wirtschaft.29 Erstaunlich ist aber, dass die immensen Kosten, die der Wirtschaft durch die Aufbewahrungspflichten angeblich entstehen, zu 95 Prozent auf die Aufbewahrung von Buchungsbelegen in Papierform entfallen sollen.
Nach Schätzungen des Regierungsentwurfs bewahren aber nur noch ein Viertel der Kaufleute ihre Belege in Papierform auf und müssen dafür Lagerräume anmieten. Der überwiegende Teil der Unternehmen speichert die Daten digital. Dabei geht der Entwurf davon aus, dass 7 Gigabyte Speicherkapazität pro Jahr bereitgestellt werden müssen. Die hierzu erforderlichen Kosten werden auf sage und schreibe 12 Euro pro Jahr geschätzt.
Selbst wenn man die Zahlen für plausibel hält, ist also davon auszugehen, dass mit zunehmender Digitalisierung die Kosten für physische Aufbewahrung von allein sinken. Zugleich räumt der Entwurf selbst ein, dass mit jährlichen Steuerausfällen zu rechnen ist. Diese werden im Regierungsentwurf ohne nähere Begründung auf 200 Millionen Euro geschätzt und sind nach Einschätzung von Kritikern zu niedrig angesetzt.30 Ob der Ampelregierung hier ein Befreiungsschlag gegen die Bürokratie gelungen ist, darf bezweifelt werden. Die Steuerhinterziehung wurde jedenfalls erleichtert.
Die vielfältigen Anstrengungen im Kampf gegen die Bürokratie haben kaum Früchte getragen. Selbst wenn Zielvorgaben erreicht oder neue, breitere Bürokratiebegriffe implementiert wurden, verspürten weder Unternehmen noch Bürgerinnen und Bürger eine Linderung.31 Ganz im Gegenteil befindet sich die Unzufriedenheit mit der Bürokratie heute auf einem Höchststand. Während im Jahr 1994 noch 58 Prozent der Befragten die Belastung durch staatliche Bürokratie als hoch oder sehr hoch einschätzten, waren es zehn Jahre später bereits 79 Prozent.32 Heute sind es, wie erwähnt, 92 Prozent. Vielen gilt diese Unzufriedenheit als Hinweis darauf, dass die bisherigen Abbaubemühungen schlicht nicht weit genug gegangen sind.33 Ganz in diesem Sinn schreibt der Normenkontrollrat in seinem Jahresbericht 2024, die Bundesregierung solle sich verpflichten, sowohl den Erfüllungsaufwand als auch die Bürokratiekosten innerhalb von vier Jahren um 25 Prozent zu senken. Friedrich Merz geht auch das nicht weit genug. Er fordert ein »Bürokratie-Moratorium«.34 Für jede neue Regelung sollen mindestens zwei alte gestrichen werden.
Dabei ist ein so verstandener Abbau der Bürokratie weder praktisch durchführbar noch politisch sinnvoll. Ein handlungsfähiger Staat ist zwingend auf Informationspflichten angewiesen, und ein politisches Gemeinwesen ist ohne Gesetze, die Kosten verursachen, undenkbar. Statt aus der Luft gegriffene Zielvorgaben einzuhalten, ist sinnvollerweise allein der Abbau derjenigen Vorschriften zu fordern, die unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen und keiner hinreichenden sachlichen Rechtfertigung unterliegen. Die Frage, was als Bürokratie anzusehen ist, ist dann aber zwangsläufig von politischen Wertungen bestimmt.
Einem »depolitisierten« Bürokratieabbau fehlt damit jede Grundlage.35 Der Normenkontrollrat kann nur die Kosten schätzen, die ein Gesetz verursacht, und selbst diese Angaben befinden sich, wie gezeigt, nur zu oft im Bereich des Spekulativen. Gleichzeitig entzieht sich der gesamtgesellschaftliche Nutzen einer Vorschrift der zahlenmäßigen Erfassung nahezu vollständig. Der kostentechnische Zugriff erweist sich daher als ein pseudowissenschaftliches, kurzsichtiges, ideologisch gefärbtes und regulierungsfeindliches Unterfangen. Er wird in den Worten der Rechtswissenschaftlerin Pascale Cancik »als unpolitisch inszeniert, ist es aber in Wahrheit gerade nicht«.36
Man wird ihn nicht finden, den Dschungel an sinnlosen Vorschriften und Regeln, die niemandem nützen, und auch nicht die Pedanten, die sie mit Zähnen und Klauen verteidigen. Hans Peter Bull hat in seinem Aufsatz Bürokratieabbau eindrucksvoll dargelegt, dass die allermeisten der als bürokratisch empfundenen Gesetze durchaus ihren Sinn haben und allein deswegen verhasst sind, weil sie lästige Pflichten auferlegen. Die Entscheidung, ob die mit einer Regel einhergehenden Nachteile größer als die Vorteile sind, kann uns kein Expertengremium abnehmen. Dass wir dennoch an der irrigen Vorstellung einer ubiquitären, alles lähmenden Bürokratie festhalten, ist für alle recht bequem. Die Bürokratie ist schlecht, die Bürokraten, das sind die anderen. Wenn etwas nicht funktioniert, dann ist die Bürokratie daran schuld. Die Wut auf die Bürokratie eint uns.
Doch dieses warme Gefühl hat seinen Preis. Wenn der Bevölkerung über Jahrzehnte ein Bürokratieabbau versprochen wird, der gar nicht eingehalten werden kann, führt das zu Frust und Enttäuschung. Der politisch angeheizte und institutionell verfestigte Bürokratieabbaudiskurs untergräbt systematisch das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Parteien mögen sich davon kurzfristige politische Gewinne versprechen. Letztlich aber profitieren Populisten, die nur zu gerne an die alarmistische Untergangsrhetorik anknüpfen. Gleichzeitig nutzen Interessengruppen den Kampfbegriff der Bürokratie, um gegen Gesetze vorzugehen, die wenig mit dem zu tun haben, was man sich gemeinhin unter Bürokratie vorzustellen pflegt.
Wenn jedes Gesetz, das irgendjemandem Kosten verursacht, als bürokratisch bezeichnet wird, ist Vorsicht geboten. In diesem Fall sichert Bürokratie auch den Rechtsstaat, fördert den Klimaschutz und gewährleistet den sozialen Frieden. Müssten wir aber dann nicht, statt ständig ihren Abbau zu fordern, auch einmal mehr Bürokratie wagen?
Umfrage zur Bürokratie in Deutschland vom 19. Februar 2024 (www.neuesozialemarktwirtschaft.de/fileadmin/insm-dms/downloads/INSM-Umfrage_Buerokratie_in_Deutschland.pdf). Kritisch zur INSM Thomas Fricke, Propaganda für die Welt von vorgestern. In: Spiegel online vom 18. Juni 2021 (www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/initiative-neue-soziale-marktwirtschaft-propaganda-fuer-die-welt-von-vorgestern-a-904a71b4-e5f0-4ed5-83d6-e2ee19424142).
Ergebnis des Jahresberichts: Belastung durch Bürokratie so hoch wie nie. In: ZDF heute vom 20. November 2023 (www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/verwaltung-buerokratie-gesetz-belastung-buschmann-ampel-regierung-100.html).
Christian Lindner, »Arroganz gegen Milei und Musk können wir uns nicht leisten«. In: Handelsblatt vom 8. Dezember 2024 (www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-arroganz-gegen-milei-und-musk-koennen-wir-uns-nicht-leisten/100093420.html).
Ralph Bollmann, Lob der Bürokratie. In: Merkur, Nr. 755, April 2012. Mit ähnlicher Stoßrichtung jüngst Kurt Kister, Schon Goethe war ein Bürokrat. In: SZ vom 5. Dezember 2024.
Ausführlich zur Begriffsgeschichte der Bürokratie: Martin Albrow, Bureaucracy. London: Pall Mall Press 1970; Bernd Wunder, Bürokratie: Die Geschichte eines politischen Schlagwortes. In: Adrienne Windhoff-Héretier (Hrsg.), Verwaltung und ihre Umwelt. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987.
Robert Mohl, Ueber Buereaukratie. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Nr. 3/2, 1846.
Vgl. ausführlich Pascale Cancik, Zuviel Staat? – Die Institutionalisierung der »Bürokratie«-Kritik im 20. Jahrhundert. In: Der Staat, Nr. 56/1, 2017. Vgl. auch die Hinweise auf frühere Entbürokratisierungsbestrebungen bei Werner Jann, Warum Bürokratieabbau so schwer ist. In: Berliner Republik, Nr. 1, 2007 (www.b-republik.de/archiv/warum-buerokratieabbau-so-schwer-ist).
Vgl. Christopher Wilkes, Institutionalisierung der Entbürokratisierung. In: Die Verwaltung, Nr. 22, 1989.
Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 1. Juli 2003, BT-Drucksache 15/1330.
Hans Peter Bull, Bürokratieabbau. In: Merkur, Nr. 873, Februar 2022.
Das erkannten auch mit der Sache befasste CDU-Politiker selbst an. Vgl. Hans-Georg Kluge, Vom politischen Projekt zum Gesetz – wie es zur Einführung des Standardkosten-Modells und zur Entstehung des Nationalen Normenkontrollrates kam. In: Norbert Röttgen /Bernhard Vogel (Hrsg.), Bürokratiekostenabbau in Deutschland. Baden-Baden: Nomos 2010.
Plenarprotokoll 15/186 des Deutschen Bundestages vom 7. September 2005.
Ausführlich zur Genese der Normenkontrollräte in Deutschland und den Niederlanden Antonia Schurig, Bessere Rechtsetzung im europäischen Vergleich. Baden-Baden: Nomos 2020.
Das Standardkostenmodell ermittelt die »Bürokratiekosten«, die ein Gesetz dadurch verursacht, dass Unternehmen Informationspflichten auferlegt werden. Hierzu werden bei jedem Gesetz die Anzahl der Normadressaten und der Vorgänge sowie der erforderliche Zeitaufwand und die durchschnittlichen Lohnkosten geschätzt und multipliziert.
Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. September 2005.
BT-Drucksache 16/1406.
Die Prüfkompetenzen des NKR wurde 2011 erweitert. Seither erfasst er nicht nur die sog. Bürokratiekosten (Kosten der Informationspflichten für Unternehmen), sondern auch den umfangreicheren »Erfüllungsaufwand«, vgl. BT-Drucksache 17/1954.
Leitfaden zur Ermittlung und Darstellung des Erfüllungsaufwands in Regelungsvorhaben der Bundesregierung vom Dezember 2024 (www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Buerokratiekosten/Publikationen/Downloads-Buerokratiekosten/erfuellungsaufwand-handbuch.pdf?__blob=publicationFile).
Zwar weist der NKR in seinem Jahresbericht 2023 (Weniger, einfacher, digitaler. Bürokratie abbauen. Deutschland zukunftsfähig machen) darauf hin, dass der Anstieg des Erfüllungsaufwands nicht per se mit einem Anstieg an Bürokratie gleichzusetzen sei (www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/SharedDocs/Downloads/DE/Jahresberichte/2023-jahresbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=5). Der laufende Erfüllungsaufwand wurde jedoch unter der schwarz-gelben Koalition gerade deshalb eingeführt, weil die nach Standardkosten-Modell berechneten Bürokratiekosten mit dem Fokus auf Informationspflichten für Unternehmen als zu eng angesehen wurden. In der Gesetzesbegründung ist von dem »umfassenderen Bürokratiekostenbegriff ›Erfüllungsaufwand‹« die Rede (BT-Drucksache 17/1954). Und auch der NKR schreibt, dass er sich angesichts des hohen Erfüllungsaufwands des Eindrucks nicht erwehren könne, dass es in Deutschland von Jahr zu Jahr bürokratischer zugehe. Es ist also kein Zufall, wenn in der medialen Berichterstattung der laufende Erfüllungsaufwand als ein Maß für die Bürokratiebelastung angeführt wird.
So der Entwurf des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrats vom 9. Mai 2006, BT-Drucksache 16/1406.
Das Struck’sche Gesetz besagt, dass kein Gesetz so aus dem Parlament herauskommt, wie es eingebracht worden ist. Der ironische Ausdruck geht auf den ehemaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck zurück. Zur Gesichte des geflügelten Worts vgl. Kristina Dunz, Wie ein »Gesetz« den toten Peter Struck lebendig hält. In: RND vom 27. Juli 2024 (www.rnd.de/politik/newsletter-hauptstadt-radar-wie-ein-gesetz-den-toten-peter-struck-lebendig-haelt-VPILPBVCJJHXLDY2R2ALUD5T6Y.html.
Eine Ausnahme bilden die im parlamentarischen Verfahren vorgenommenen Änderungen an der Novelle des Gebäudeenergiegesetzes. Hier hatte sich der geschätzte einmalige Erfüllungsaufwand bei Bürgerinnen und Bürgern von den zunächst angenommenen 20,8 auf 0,1 Milliarden Euro erheblich verringert, so dass sich der NKR entschlossen hat, diese Auswirkungen in seinem Gutachten zu berücksichtigen. Generelle Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen Änderungen zu berücksichtigen sind, bestehen jedoch nicht.
Das gesteht auch der NKR ein, vgl. Jahresbericht 2023.
Vgl. Normenkontrollrat, Jahresbericht 2023.
Normenkontrollrat, Jahresbericht 2014; Richtigstellung dann im Jahresbericht 2016.
Kabinettsbeschluss vom 11. Dezember 2014 (www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/BessereRechtsetzung/22_Kabinettbeschluss_Dezember_2014.pdf?__blob=publicationFile&v=2).
Wachstumsinitiative der Bundesregierung vom 5. Juli 2024 (www.bundesregierung.de/resource/blob/976020/2297962/ab6633b012bf78494426012fd616e828/2024-07-08-wachstumsinitiative-data.pdf?download=1).
BT-Drucksache 20/11306, Anlage 2.
BT-Drucksache 20/11306 Anlage 2.
Massimo Bognanni, Bürokratieentlastungsgesetz. »Ein Geschenk an Kriminelle«. In: tagesschau.de vom 19. September 2024 (www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buerokratieentlastungsgesetz-100.html).
Vgl. Sabine Kuhlmann /Florian Gerls, Die Kosten der Bürokratie: Zwischen Messung und Realität. In: ifo Schnelldienst, Nr. 11/2024; Michael Schorn, Bürokratiekostenabbau: Die Illusion des Unpolitischen. In: Stephan Hensel u.a. (Hrsg.), Gesetzesfolgenabschätzung in der Anwendung. Baden-Baden: Nomos 2010.
Werner Jann /Kai Wegrich, Wie bürokratisch ist Deutschland? Und warum? Generalisten und Spezialisten im Entbürokratisierungsspiel. In: dms – der moderne staat, Nr. 1, 2008.
In diesem Sinn etwa Nicolai Dose, Weshalb Bürokratieabbau auf Dauer erfolglos ist, und was man trotzdem tun kann. In: dms – der moderne staat, Nr. 1, 2008.
Friedrich Merz in einer Rede beim JU-Deutschlandtag in Halle am 26. Oktober 2024 (www.home.cdu.de/artikel/heute-schon-an-morgen-denken).
Im Entwurf des Änderungsgesetzes vom 8. Juni 2010 wird der »depolitisierte Ansatz« des NKR als dessen entscheidender Erfolgsfaktor gelobt (BT-Drucksache 17/1954).
Pascale Cancik, Die EU als Bürokratie der Anderen – zur Semantik gegenwärtiger EU-Kritik. In: Günter Blamberger u.a. (Hrsg.), Vom Umgang mit Fakten. Paderborn: Fink 2018; ähnlich Michael Schorn, Bürokratiekostenabbau. In: Stephan Hensel u.a. (Hrsg.), Gesetzesfolgenabschätzung in der Anwendung.
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