Mein Sommer mit Kennedy
von Volker HageAn dem Tag, an dem John F. Kennedy nach Deutschland kam, begann ich ein Tagebuch zu führen. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ob überhaupt, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich hatte offenbar die Idee, dass es später einmal interessant sein könnte, was in meinem jungen Leben passiert.
Natürlich bin ich ihm nie begegnet. Ich war dreizehn, als er am 23. Juni 1963 in Köln-Bonn landete, ich war vierzehn, als er im November des Jahres in Dallas ermordet wurde. Seiner Ankunft widmete ich damals auch nur eine Zeile: »Kennedy kommt heute Morgen zu einem Deutschlandbesuch.«
Was nicht heißt, dass ich die allgemeine Begeisterung und Aufregung, die dieser Besuch in der westdeutschen Bevölkerung auslöste, nicht teilte. Im Gegenteil: Ich sammelte so viele Artikel wie möglich, schnitt die Beiträge und Fotos aus und legte sie in eine Mappe, um sie später in ein Heft vom Format DIN A4 einzukleben. Auf dieses bunte Album stieß ich kürzlich beim Aussortieren alter Schulhefte. Ich hatte es vollständig vergessen und betrachtete die Mühe und Sorgfalt, die ich einst aufgewendet hatte, mit einer gewissen Rührung. Auf der Vorderseite war das Schulheftetikett überklebt, und in Schnörkelschrift hatte ich vollmundig »Weltgeschehen 1963« draufgeschrieben.
Das Tagebuch dagegen war nichts anderes als ein billiger Taschenkalender mit braunem Plastikumschlag, darauf eingeprägt: 1963. Für jede Woche eine Doppelseite, für jeden Tag sieben enge Zeilen. Darin fand sich auch die Information, wann ich mir die Arbeit mit dem Album gemacht hatte. Der Eintrag war ebenfalls überraschend knapp: »Kennedy-Ausschnitte eingeklebt.« Es war am 9. Juli im Ostseebad Travemünde. Fünf Tage zuvor hatten die Sommerferien begonnen.
Ich sehe mich da noch sitzen, am Esstisch in dem kleinen Apartment an der Kaiserallee mit Blick auf die Ostsee und das Mecklenburger Ufer. Ich verteilte die Ausschnitte zunächst probeweise auf die Seiten. Es sollte alles in die richtige Reihenfolge gebracht werden und das Heft ausfüllen. Schere und Uhu lagen bereit. Unter jedes Foto, jeden Text schrieb ich das entsprechende Datum und – ein früher journalistischer Impuls – eine Quellenangabe: Bild, Welt am Sonntag, Hamburger Abendblatt, Bunte Illustrierte. Viel Platz räumte ich den Zitaten aus Kennedys berühmter Berliner Rede ein: »Ein echter Friede kann in Europa nicht gewährleistet werden, solange jedem vierten Deutschen das Grundrecht einer freien Wahl vorenthalten wird.« Das hörten, vom Dolmetscher übersetzt, Hunderttausende vor dem Rathaus. Und natürlich seine auf Deutsch einstudierten Worte: »Ick bin ein Berliner.« Davor ein Foto von Kennedys Besuch an der Mauer: Von einem Podest aus schaut er hinüber in den Ostteil Berlins. Das war am 26. Juni 1963.
Zum Auftakt meines Albums hatte ich eine Farbdoppelseite ausgewählt, die ich der Bunten entnommen hatte: die Ankunft Kennedys auf dem Flughafen Köln-Bonn drei Tage zuvor. Manche der Personen, die dort zur Begrüßung angetreten waren, hatte die Redaktion dankenswerterweise mit Ziffern versehen und mit Namen und Funktion erläutert.
Aber im Mittelpunkt steht er, John F. Kennedy, gelandet früh an diesem Sonntagmorgen und strahlend jung mit seinen sechsundvierzig Jahren. Er hat die Hände auf dem Rücken verschränkt und hört mit ernster Miene zu, wie der Dolmetscher die Begrüßungsworte Konrad Adenauers übersetzt. Im Hintergrund die Präsidentenmaschine mit dem Schriftzug »United States of America«, damals noch eine Boeing 707.
Adenauer war siebenundachtzig Jahre alt und sollte noch im Laufe des Jahres von seinem Amt zurücktreten. Als er im September 1949 zum Bundeskanzler gewählt worden war, ich selbst hatte in jenem Monat gerade das Licht der Welt erblickt, war er schon dreiundsiebzig, so alt, wie ich heute bin, da ich dies notiere. Einige Monate zuvor, im Oktober 1962, hatte schon der französische Präsident Charles de Gaulle Deutschland besucht, mit 72 Jahren auch er ein alter Mann. Im offenen Mercedes war er durch Hamburg gefahren, von den Hanseaten am Straßenrand brav begrüßt, darunter auch meine Mutter und ich. Als der Konvoi vorbeikam, von weißgekleideten Polizisten auf Motorrädern eskortiert, knipste sie, wie man damals sagte. Auf den Fotos war später allerdings nicht viel zu erkennen.
Hamburg stand nicht auf Kennedys Reiseplan. Seine Route sah andere Städte vor: Bonn natürlich, Köln, Langendiebach, wo sich ein Fliegerhorst der amerikanischen Luftwaffe befand, Frankfurt, wo er in der Paulskirche eine Rede hielt, und als vorletzte Station Wiesbaden. In Bild wurde berichtet, dass dort, kaum war Kennedy dem Army-Hubschrauber entstiegen, eine jubelnde Menschenmenge außer sich geriet und die Polizeiketten zu durchbrechen drohte. Mehrere Frauen seien ohnmächtig geworden. Er sah einfach blendend aus, von seinem Rückenleiden wusste man damals nichts. Und seine Frau, die schöne Jaqueline, war, warum auch immer, in Amerika geblieben, was die Zeitungen am Rande vermerkten.
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