Heft 876, Mai 2022

Miami: Die aufregendste Stadt der USA

von Joel Stein

Als Miami das letzte Mal relevant war, war die Stadt nicht weiter wichtig. In den achtziger Jahren hatte sie nicht mehr zu bieten als Drogen, Clubs, pastellfarbene Blazer, Jai-Alai-Zockerei und mit Miami Vice vor allem eine sehr erfolgreiche Fernsehserie über all diese Dinge. Doch jetzt ist Miami die wichtigste Stadt in Amerika. Nicht etwa weil es aufgehört hätte, eine frivole, regelfreie Steueroase zu sein, die fest in der Hand heißer Internet-Berühmtheiten ist und wegen des Klimawandels im Meer versinkt. Sie wurde zur wichtigsten Stadt Amerikas, weil die Vereinigten Staaten zu einem frivolen, regelfreien Steuerparadies geworden sind, in dem Mikro-Prominente das Sagen haben und man vor dem Klimawandel kapituliert.

Alle paar Monate stößt Miami das Overton-Fenster ein Stückchen weiter auf und verleiht dem Meinungskorridor einen Blick aufs offene Meer. Noch im März 2021 wurde die Stadt verspottet, als die American Airlines Arena, die Heimat der NBA-Basketballmannschaft Miami Heat, in FTX Arena umbenannt wurde – nach einer erst zwei Jahre alten Internetbörse für Kryptowährungen. Aber schon im Dezember wurde dann auch das Staples Center der Los Angeles Lakers auf den Namen Crypto.com-Arena getauft. Als Miami auf seine massiven Klimaprobleme mit der Ernennung eines »Chief Heat Officer« reagierte, wirkte dies wie ein dystopischer Scherz. Dann stellten Phoenix und Los Angeles ebenfalls Hitzebeauftragte ein. Man fand es einigermaßen lächerlich, als Miami eine Kryptowährung namens MiamiCoin ins Leben rief, aber kurz darauf kündigten New York City und Austin ihre eigenen an. Nachdem Francis Suarez, der Bürgermeister von Miami, erklärt hatte, er würde sein Gehalt von nun an in Bitcoin beziehen, twitterte der neue New Yorker Bürgermeister Eric Adams: »Ich werde mir meine ersten drei Gehaltsschecks in Bitcoin ausstellen lassen.«

Die Miami-Bewegung – Suarez möchte, dass ich »Miami Movement« schreibe, weil er fürchtet, ich könne die Bewegung zu einem »Miami Moment« herabsetzen – hatte sich schon seit einiger Zeit angedeutet, aber mit Ausbruch der Pandemie kam sie richtig in Fahrt. Die Leute arbeiteten im Homeoffice, und zu Hause war es kalt. Und zugerümpelt. Und die Restaurants waren alle zu. Miami schien ein guter Ort zu sein, um dem Alltag für ein paar Tage zu entfliehen. Und den Urlaub zu verlängern. Und nie zurückzukehren.

Wenn man in der Vergangenheit an der Landkarte der USA rüttelte, fanden sich früher oder später alle losen Teile auf der Halbinsel von Florida ein: die frisch Geschiedenen, die Zahlungsunfähigen, die Langzeitarbeitslosen, die Betrüger, die ehemaligen und die zukünftigen Straftäter. Doch während der Pandemie wurde auch Otto Normalverbraucher zu einem losen Teil, abgeschnitten von seinem Büro, seiner Familie, seinen Freunden, seinem Umfeld. In den zwölf Monaten seit dem 1. Juli 2020 zogen weit mehr Amerikaner nach Florida als in jeden anderen Bundesstaat – 220 890 Menschen, um genau zu sein. Und Migrationsbewegungen können Orte verändern, das zeigte sich in Kalifornien nach der Zeit des Dust Bowl oder im Mittleren Westen nach der großen afroamerikanischen Migration. Aber nach Miami zieht es nicht nur Menschen. Es ist auch eine Migration des Gelds. Der Milliardär Carl Icahn hat sein Hedgefonds-Büro von New York hierher verlegt. Bereits 2020 verkaufte die Jills Zeder Group Häuser im Wert von mehr als 1,2 Milliarden Dollar, mehr als jede andere große Immobilienagentur. Im Jahr 2021 hat die Firma Verträge über mehr als 2 Milliarden Dollar abgeschlossen.

»Die Leute kommen hierher, um Karriere zu machen, das ist noch nie vorgekommen«, sagt der Autor Dave Barry, der 1983 nach Miami zog. »Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal kommen Menschen nicht aus rein korrupten und eigennützigen Gründen, sondern um etwas aufzubauen.« Barry und ich essen die besten Croquetas, die ich je gegessen habe, im Glass and Vine, einem Restaurant im Peacock Park in Coconut Grove, einem Nobelviertel mit vielen Boutiquen. Als Barry das letzte Mal hier essen war, bemerkte er eine ihm unvertraute Gruppe von Menschen zwischen den üblichen Tischen mit Touristen, Bankern und Anwälten. »Ich weiß nicht«, spöttelt er, »ob sich all die Tech-Bros schon darüber Gedanken machen, was sie tun werden, wenn der erste große Hurrikan kommt und sie sich bei Home Depot anstellen müssen, um Sperrholz zu kaufen und dann zu gucken, was sie mit dem Sperrholz überhaupt anfangen.«

Ich bin nach Miami gekommen, um mir die Zukunft Amerikas anzusehen. Wenn die amerikanische Gesellschaft ein freudsches Es hat, dann ist es in den letzten hundert Jahren von New York über Los Angeles nach Las Vegas gezogen und hat sich jetzt hier niedergelassen. Ich wollte sehen, wonach diesem Es jetzt der Sinn steht – zumal es sich um ein Land handelt, in dem es kaum noch ein Ego oder Über-Ich gibt. Wie viel verrückter, wollte ich wissen, wird es eigentlich noch? Befinden wir uns auf einer Expedition, die scheitern muss, oder sind wir auf dem Weg in ein dezentralisiertes Wunderland der Freiheit?

An einem Donnerstagmorgen im Dezember nehme ich eine Fähre nach Fisher Island, um die Immobilienmaklerin Jill Eber zu treffen, eine der beiden Jills von der Jills Zeder Group. Sie holt mich in ihrem türkisfarbenen Golf-Cart ab, dem bevorzugten Transportmittel auf dieser nur knapp 70 Hektar großen Insel mit Golfplätzen, Restaurants, Apartmenthäusern, einem Fitness-Studio und einer Schule, also alles in allem einer Ortschaft, die sich in nichts von einem All-inclusive-Resort unterscheidet. Laut Bloomberg handelte es sich im letzten Jahr um die mit einem jährlichen Durchschnittseinkommen von 2,2 Millionen Dollar wohlhabendste Postleitzahl Amerikas.

Eber ist eine zierliche Frau und sieht dermaßen nach einer Immobilienmaklerin aus Miami aus, dass ich nur staunen kann. Sie trägt ein Oberteil von Alexander McQueen, eine Sonnenbrille von Tom Ford, einen Hut mit großer Krempe und unmöglich hohe Absätze. Sie ist seit langem auf der Insel ansässig und plaudert im Restaurant des Privatclubs mit den Polohemden und Sonnenbrillen, während sie mich strammen Schrittes von einer Wohnung in die nächste führt, die für 5 Millionen, 7 Millionen oder 12 Millionen Dollar verkauft werden. In der Vergangenheit waren dies Winterresidenzen, viele davon im Besitz von Lateinamerikanern oder Russen. »Es gibt mehr Käufer aus Kalifornien als je zuvor«, sagt sie später, als wir an der Baustelle einer neuen Eigentumswohnung vorbeifahren, die am Fährterminal gebaut wird. »Wir sehen viel mehr Interessenten aus der Technologiebranche. Sie nennen es die Wall Street des Südens.«

Ich fahre auf das Festland zurück und treffe mich mit der anderen Jill zu unserem lange geplanten Termin zur Besichtigung eines Hauses, das auf den Venetian Islands zum Verkauf steht, einer Gruppe von sechs winzigen künstlichen Inseln vor dem langen Damm, der Miami mit Miami Beach verbindet. Maler und Bauarbeiter sind dabei, die Renovierung dieses 481 Quadratmeter großen Hauses in einem vorstädtisch anmutenden Block mit Blick auf die Biscayne Bay abzuschließen. Um den klimawandelbedingten Anstieg der Gezeiten zu kompensieren, wurde das Haus um fünf Meter über den Meeresspiegel angehoben und der darunterliegende Raum in ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Esszimmer im Freien verwandelt, die direkt am Wasser liegen. Das Dach wurde mit Hurrikan-Gurten befestigt, um es stabil zu halten. In der Stadt der Freiheit kann man in einer MiaCucina-Küche mit Arbeitsflächen aus Statuario-Marmor durch bodentiefe Fenster Ebbe und Flut beobachten.

Ein Bericht der Union of Concerned Scientists aus dem Jahr 2018 schätzt, dass 94 Prozent von Miami Beach bis zum Jahr 2100 unter Wasser stehen werden. Da Miami auf porösem Kalkstein liegt, dringt das Meer schon jetzt regelmäßig bis auf die Straßen vor. Außenküchen auf Meeresspiegelniveau mögen zweckdienlich sein; die weniger ausgefallenen Lösungen kommen auf der Jahrestagung der Miami Climate Alliance auf den Tisch, die in Naomi’s Garden Restaurant and Lounge tagt, einem haitianischen Restaurant, in dem draußen Hühner um die Stühle spazieren. Die Mitglieder tragen Namensschilder, auf denen steht, wie viele Meter über dem Meeresspiegel sie leben. Das Treffen beginnt mit einem Aufruf, »unsere Herzen für den Moment zu öffnen«, einigen Gedichten und einer Schweigeminute zu Ehren der Ureinwohner, die einst hier lebten.

Jane Gilbert sitzt in Sandalen und Leinenhose auf einem Klappstuhl. Sie hat langes aschblondes Haar. Seit Juni ist sie Chief Heat Officer im Bezirk Miami-Dade. Sie ist zuversichtlich, was die anderen Anpassungen der Stadt angeht: die Pumpen, die an den Straßen angebracht werden, die Rückflussventile, die Hinwendung zu Nachverdichtung und Abkehr von Klärgruben. Sie glaubt, dass diese Veränderungen die »rain bombs« bewältigen können – so nennen die Einwohner von Miami die in den letzten Jahren immer häufiger auftretenden heftigen Regengüsse. Das stoßfeste Glas, das seit dem Hurrikan Andrew 1992 vorgeschrieben ist, schützt die Gebäude weitgehend vor extremen Winden. Die Stadt konzentriert sich so sehr darauf, Wege zur Anpassung an den Klimawandel zu finden, dass das Aspen Ideas Festival sein neuartiges Konferenzformat »Aspen Ideas: Climate« im Mai 2022 in Miami Beach abhält.

Gilbert ist zuversichtlich, dass die Stadt einen Anstieg des Meeresspiegels um zweieinhalb Meter überleben kann, wenn sie genug Geld ausgibt. Miami, sagt sie, trifft massivere Vorkehrungen als New Orleans, Charleston oder Norfolk. Auf meine Frage, ob es Miami in dreißig Jahren noch geben wird, sagt sie, dass die Antwort immer von ihrer Stimmung abhänge. Heute ist sie optimistisch. Sie schätzt die Chancen auf fünfzig zu fünfzig.

Jemanden dazu zu bringen, 25 Millionen Dollar in etwas zu investieren, das mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit in dreißig Jahren verschwunden sein wird, klingt nach einer echten Herausforderung. Anscheinend ist es das aber nicht. In einem Kleid von Carolina Herrera kommt Jill Hertzberg die Treppe des fast renovierten Hauses auf den Venetian Islands herunter und erzählt mir, dass es soeben für 25 Millionen Dollar verkauft worden sei. An einen Typen aus Kalifornien. »Gekommen ist sein Freund. Der Käufer hat es sich nur über FaceTime angeschaut. Er hat es nie physisch gesehen.«

Jack Abraham ist der Patient Null der Migration nach Miami. Im Juni 2020 hielt sich der damals vierunddreißigjährige Risikokapitalgeber und Unternehmer aus dem Silicon Valley in San Francisco auf. Seine New Yorker Freunde luden ihn zu einem einwöchigen Urlaub in Miami ein, wo das Wetter gut und die Restaurants geöffnet waren. Er lehnte ab, weil er Angst vor einer Covid-Infektion hatte. Sie drängten ihn weiter, und aus Langeweile und Einsamkeit gab er nach. Wenige Tage nach seiner Ankunft in Miami steckte er sich mit dem Virus an. Seine Kumpel fühlten sich schuldig und blieben bei ihm, während er einen Covid-Test nach dem anderen machte, die alle positiv ausfielen. Da er ohne negativen Test nicht zurückfliegen konnte, gondelte er zwischen verschiedenen Airbnb-Häusern hin und her und kam dabei in Stadtteile, von deren Existenz er gar nichts gewusst hatte. Als er nach anderthalb Monaten endlich im Begriff war, nach Hause zurückzukehren, beschloss er stattdessen, einfach zu bleiben.

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