Heft 851, April 2020

»Monsieur, ich hasse Sie«Urbanormativität und Populismus

von Marcus Twellmann

Urbane Abhängigkeit und Hegemonie

Es ist ungefähr 14 500 Jahre her, dass wir sesshaft geworden sind. Damals sind jedenfalls erste Siedlungen im Jordan-Tal entstanden. 8000 Jahre später gab es Städte. Nicht mehr als 13 Prozent der Menschheitsgeschichte, so rechnen Gregory M. Fulkerson und Alexander R. Thomas, kannten also urbanes Leben. Und erst die jüngsten 0,06 Prozent haben global cities gesehen. Gleichwohl scheint uns eine immer weiter fortschreitende Urbanisierung der natürliche Gang der Dinge zu sein. An die vorstädtischen 87 Prozent der Geschichte wird kaum je gedacht. Anders wissen die amerikanischen Soziologen nicht zu erklären, dass sich gegen das world urban experiment so wenig Widerstand regt: Es muss an der historischen Amnesie liegen und, mehr noch, an »urbanormativity«. Den eigens geprägten Begriff haben sie in den Titel ihres neuen Buches gestellt.1

In The Evolution of the Ancient City (2010) hat Thomas mit Blick auf den fruchtbaren Halbmond, ein wasserreiches Gebiet, das sich sichelförmig zwischen dem anatolischen Bergland und der syrischen Wüste erstreckt, eine um 9500 vor Christus mit der Gründung von Dörfern beginnende »Urbanisierung« beschrieben, die 5000 Jahre später städtische Knotenpunkte in Netzen des Handels entstehen ließ.2

Dass Kapitalismus und Städte im Grunde ein und dasselbe sind, wissen wir von Fernand Braudel.3 Thomas und Fulkerson sind der Ansicht, dass viele der meist mit dem modernen Industriekapitalismus in Zusammenhang gebrachten Erscheinungen auf frühere Prozesse der Vernetzung zurückzuführen sind. Ihre Betrachtung reicht demnach nicht nur weiter zurück, sie greift auch tiefer. Gewinnen wir mit der longue-durée-Perspektive eine bessere Sicht auf die Gegenwart?

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