Neom, die Wüstendystopie
von Deyan SudjicIn Saudi-Arabien soll ein Traum Wirklichkeit werden, und westliche Architekten reißen sich beide Beine aus, um daran mitzuwirken: eine Stadt, die aus einer 170 Kilometer langen Linie aus verspiegelten Hochhäusern besteht. Wird das einmal der längste Scherbenhaufen der Welt?
Als die ersten Entwürfe für Neom durchsickerten, erinnerten sie an mittelprächtige Science-Fiction-Filme. Schwärme fliegender Taxis, von einem künstlichen Mond beleuchtet, und in die Landschaft geworfene, wild ineinander verdrehte Glastürme sollten eine Neun-Millionen-Stadt ergeben, die sich der Kronprinz und Cyberpunk-Fan Mohammed bin Salman für die wasserlose nordwestliche Provinz Tabuk ausgedacht hatte. Der Spott ließ nicht auf sich warten: Zu solchen überhitzten Fantasien käme man wohl, wenn Boston Consulting und McKinsey sich gemeinsam ans Brainstorming setzen – und das Ergebnis dann von jemandem designt wird, der eigentlich Marvel-Filme macht. Einen seriösen Stadtplaner hatte man dafür bestimmt nicht konsultiert.
Die Beratungsfirmen waren tatsächlich an der Gestaltung der Stadt beteiligt, und einem gut informierten Bericht von Bloomberg zufolge wurden viele der visuellen Elemente tatsächlich von Hollywoods erfolgreichsten Set-Designern entworfen. Den Auftrag bekamen Olivier Pron, vom Superheldenfilm Guardians of the Galaxy, Nathan Crowley von The Dark Knight und Jeff Julian, verantwortlich für das Erscheinungsbild von I Am Legend.
Es wäre bei weitem nicht das erste Mal, dass gewiefte Geschäftsleute mithilfe von überzogen optimistischen Berechnungen und fantasievoll illustrierten Bebauungsplänen versuchen, unwirtliche Ödnis als erstklassige Investition für eine neue Stadt anzupreisen. Ein frühes Beispiel dieser kaufmännischen Praxis stammt aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert, als Schottland erfolglos versuchte, am Darién Gap in Panama ein New Edinburgh zu errichten, und darüber fast pleite ging.
Der Name Neom setzt sich zusammen aus dem griechischen Wort neo für »neu« und dem ersten Buchstaben von mustaqbal, einem arabischen Wort für Zukunft. »Neom vereint das Beste aus der ganzen Welt, woraus ein Ökosystem der Inkubation und eine Mannigfaltigkeit neuer Ideen und Inspiration entstehen wird«, heißt es im Pitch des Projekts. »Eine Stadt ohne Pendelei, ohne die Luftfeuchtigkeit von Singapur, den Dreck von London, das schlechte Wetter von Paris oder die Steuern des Silicon Valley.« Das klingt unverkennbar nach einem entfernten Echo der Idee, die Schottland einst hatte, dass es eine Kolonie schon irgendwie zu Reichtum bringen würde, wenn man sie nur an den richtigen Ort pflanzte, um Waren auf dem Landweg transportieren zu können und sich so die endlose Seereise ums Kap Hoorn zu sparen.
Denn so sehr bin Salman auch davon überzeugt sein mag, in Neom das Beste von allem versammeln und die Stadt zur Blaupause für Saudi-Arabiens Weg aus der Ölabhängigkeit in eine nachhaltige Zukunft machen zu können, hatte es der Kronprinz doch vor allem darauf abgesehen, dass seine Designer sich in der Ästhetik der Dystopie einmal ordentlich austoben konnten. Das alles schien so wenig umsetzbar, dass es sehr danach aussah, als würde sich der CO2-Ausstoß für die Verwirklichung des Projekts – abgesehen von den Langstreckenflügen der hochbezahlten Berater aus der ganzen Welt – in sehr engen Grenzen halten.
Doch das Blatt wendete sich, als bin Salman im vergangenen Sommer eine Flotte riesiger Bagger und Erdbewegungsmaschinen auf die Wüste losließ. Aus dem Lager, das er für die ersten zweitausend Arbeiter errichtet hatte, schwärmten sie ins Land aus, um die Fundamente für das markanteste Element von Neom zu legen: eine lineare, vollverspiegelte Megastruktur von 170 Kilometern Länge: The Line.
Den Baugrund beansprucht eigentlich der Stammesverband der Howeitat für sich, und nach Angaben saudischer Regimekritiker kam dessen Angehöriger Abdul Rahim al-Huwaiti im April 2020 nach einer Konfrontation mit Sicherheitskräften in dem Gebiet zu Tode. Anderen soll eine Entschädigung angeboten worden sein, damit sie die Gegend verlassen.
Nun sind gewisse internationale Architekten immer bereit, über solche Kollateralschäden – wie auch über die Ermordung und Zerstückelung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 – hinwegzusehen, und haben eigene Ideen entwickelt, um diejenigen der Filmemacher umzusetzen. Sie sind bereit, sich auf den Tanz mit Reichtum und Macht einzulassen, in dem sich die Architektur schon immer übt.
Das Konglomerat an Architekten hat eine Reihe von 3D-Zeichnungen von Neom erstellt, die sehr viel überzeugender sind als die früheren Versionen der Stadt. Die Bilder sind zweifellos beeindruckend, aber sie vermitteln nicht das Ausmaß und die Größe dessen, was tatsächlich angedacht ist. Damit sind sie letztlich auch nicht plausibler als die Science-Fiction-Animationen.