Heft 887, April 2023

Neom, die Wüstendystopie

von Deyan Sudjic

In Saudi-Arabien soll ein Traum Wirklichkeit werden, und westliche Architekten reißen sich beide Beine aus, um daran mitzuwirken: eine Stadt, die aus einer 170 Kilometer langen Linie aus verspiegelten Hochhäusern besteht. Wird das einmal der längste Scherbenhaufen der Welt?

Als die ersten Entwürfe für Neom durchsickerten, erinnerten sie an mittelprächtige Science-Fiction-Filme. Schwärme fliegender Taxis, von einem künstlichen Mond beleuchtet, und in die Landschaft geworfene, wild ineinander verdrehte Glastürme sollten eine Neun-Millionen-Stadt ergeben, die sich der Kronprinz und Cyberpunk-Fan Mohammed bin Salman für die wasserlose nordwestliche Provinz Tabuk ausgedacht hatte. Der Spott ließ nicht auf sich warten: Zu solchen überhitzten Fantasien käme man wohl, wenn Boston Consulting und McKinsey sich gemeinsam ans Brainstorming setzen – und das Ergebnis dann von jemandem designt wird, der eigentlich Marvel-Filme macht. Einen seriösen Stadtplaner hatte man dafür bestimmt nicht konsultiert.

Die Beratungsfirmen waren tatsächlich an der Gestaltung der Stadt beteiligt, und einem gut informierten Bericht von Bloomberg zufolge wurden viele der visuellen Elemente tatsächlich von Hollywoods erfolgreichsten Set-Designern entworfen. Den Auftrag bekamen Olivier Pron, vom Superheldenfilm Guardians of the Galaxy, Nathan Crowley von The Dark Knight und Jeff Julian, verantwortlich für das Erscheinungsbild von I Am Legend.

Es wäre bei weitem nicht das erste Mal, dass gewiefte Geschäftsleute mithilfe von überzogen optimistischen Berechnungen und fantasievoll illustrierten Bebauungsplänen versuchen, unwirtliche Ödnis als erstklassige Investition für eine neue Stadt anzupreisen. Ein frühes Beispiel dieser kaufmännischen Praxis stammt aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert, als Schottland erfolglos versuchte, am Darién Gap in Panama ein New Edinburgh zu errichten, und darüber fast pleite ging.

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