Netikrumas yra normalu*
* Litauisch für: Verunsicherung ist normal von Katja Kullmann* Litauisch für: Verunsicherung ist normal
1
Ein Jahr liegt mein Litauen mittlerweile zurück. Wochenlang bin ich mit Zügen, Bussen, Autos und Fähren kreuz und quer durch das gar nicht mal so kleine Land gefahren (immerhin: doppelt so groß wie Belgien), hatte Unterkünfte in drei verschiedenen Städten gemietet und mit Dutzenden Menschen Gespräche geführt, meist auf Behelfsenglisch, gelegentlich mit Händen und Füßen und manchmal auch auf Deutsch, mit Professorinnen und Barmännern, Übersetzern und Botschaftsangestellten, Studierenden, Soldatinnen, Marktfrauen, Rentnern. Nicht durch eine, sondern sogar durch zwei militärische Sperrzonen war ich spaziert, Hunderte Fotos hatte ich gemacht und anderthalb Notizbücher vollgeschrieben. Doch nicht die kürzeste Kurzgeschichte ist aus all dem erwachsen, nicht mal das mickrigste Gedicht, wenigstens sechs klingende Zeilen über die Dämmerung über den katholischen Dächern von Vilnius oder über das Schilfgeraschel an der Kurischen Nehrung oder über den bröckelnden Putz an den Art-Déco-Fassaden von Kaunas – nothing, nada, nieko habe ich zustande gebracht.
Es ist sogar noch ärger: Nicht nur, dass ich keinen Text aus Litauen mitgebracht habe – ich habe unterwegs sogar noch einen verloren.
Einen ganzen Roman hatte ich bei der Abreise im Kopf gehabt, eine Hauptfigur, erste Umrisse eines Plots – und Litauen als Szenerie. »Den Aufenthalt in Litauen würde ich dazu nutzen, die Gegebenheiten vor Ort zu studieren, Eindrücke, Bilder, Idiome, Szenen zu sammeln. Geplant ist ein Werk erzählerischer Prosa«: So vernünftig, so planvoll hatte ich es in der Vorbereitung formuliert.
Doch als ich nach den erlebnisreichen Wochen in meine erlebnisarme Schriftstellerinnenwohnung zurückkehrte und auf meinem Schreib-Tisch das Romanexposé liegen sah, den großartigen Entwurf, den Auftrag, den ich mir selbst erteilt hatte, begriff ich mit Gewissheit, was ich zuvor, in den Unterwegswochen, bloß wackelig geahnt hatte: Das wird nichts.
Das Merkwürdige war: Statt Enttäuschung verspürte ich Erleichterung. Ein schlechter Roman wäre es nämlich geworden. Und allein Litauen ist zu verdanken, dass er nie geschrieben werden wird.
2
Mein Dank gilt nicht dem Litauen, das ich mir vor der Reise zusammenimaginiert hatte, aus ehrgeizig Angelesenem und online Recherchiertem, sondern dem realen, dreidimensionalen, lebendigen Litauen – seinen blankgeputzten Kirchen und seiner Rundumbeflaggung, seinen dampfenden Speck- und Kartoffelgerichten und seinen volldigitalen Türschlössern und Bezahlsystemen, seiner Kopfsteinpflasterschönheit und seinen monströsen Sowjet-Resten, seinen lichten Kiefernwäldern, glitzernden High-End-Showrooms, staubigen Billigläden, hochgetuneten Angeberautos, einsamen Bushaltestellen und rempelfreudigen Fußgängerinnen – die Fußgängerinnen allein ergäben schon Stoff für mindestens eine Novelle.
Ich danke also dem, was der weitgereiste britische Schriftsteller Graham Greene einmal die gesegnete Wirklichkeit genannt hat. Aufs Üppigste hat sie mich in Litauen beschenkt. Und trotzdem halten »immer neue Bedenken vor dem Schreiben« mich zurück, nunmehr schon fast ein Jahr.
Von den »immer neuen Bedenken vor dem Schreiben« hat einer meiner Lieblingsschriftsteller auffällig oft gesprochen: Wolfgang Koeppen, der ebenfalls gern und viel unterwegs war. Stoff – das anstrengende, oft frustrierende Bemühen, den Stoff mit den eigenen (woher auch immer kommenden) Gedanken zu verschränken: Kaum jemand legte seine Schriftstellerschwierigkeiten so offen, wie Koeppen es zeitlebens tat.
Eine Schwierigkeit hatte mich schon ereilt, während ich noch in Litauen war: Ich konnte niemanden belauschen, weder in einem Café noch in einer Supermarktschlange, noch an einer Haltestelle. Das Passantenbelauschen ist eine durchaus nicht unwichtige Tätigkeit für eine Schriftstellerin. Doch die litauische Sprache war mir auch nach einem ganzen Monat noch so verschlossen wie am ersten Tag.
Wie abhängig ich als Schriftstellerin von diesem Ding, der Sprache, bin: Beinahe hatte ich es vergessen. Doch Litauen hat mich wieder daran erinnert, Tag für Tag, etwa beim Spazierengehen: An die zwanzig Schaufenster habe ich unterwegs fotografiert, die kaum dekoriert und mit Gardinen verhangen waren und an deren Scheiben litauische Wörter vermutlich für litauische Dienstleistungen warben, die sich hinter den Gardinen abspielten – ob aber für ein Versicherungsbüro, einen Massagesalon oder eine Tierarztpraxis, für Gas-Wasser-Installationen, Steuerberatungen oder Psychotherapien: Es war mir unerschließbar. Diese buchstäbliche Fremdheit war keineswegs eine Qual, in gewisser Weise genoss ich sie sogar. Fielen mir einzelne Wörter besonders auf, gab ich sie in eines dieser Online-Übersetzungs-Tools ein und war häufig überrascht, dass sie etwas ganz anderes bedeuteten, als ich vermutet hatte.
Netikrumas ist ein solches Wort. In meiner dritten Litauenwoche habe ich es an einem Kiosk entdeckt. NETIKRUMAS stand in fetten Lettern auf der Titelseite einer Zeitung. Laut Übersetzungstool bedeutet es Verunsicherung, und das entsprach exakt der Gemütslage, in der ich mich in jenem Moment, gut eintausend Kilometer von meinem Heim-Schreib-Tisch entfernt, befand. Im Grunde hatte Netikrumas gleich am ersten Tag eingesetzt, schon bei meinem ersten Zusammenstoß mit einer litauischen Fußgängerin. Womöglich hat Litauen mich mit seiner eigenen Netikrumas sogar nachhaltig angesteckt.
4
Bei jedem Buch aufs Neue musste ich überlegen, was genau ich eigentlich herausfinden und erzählen will – und wie ich es am besten tue. Fiction oder Non-Fiction: Das ist stets die erste Grundsatzfrage, und das Springen zwischen den Gattungen war mir nie lästig, im Gegenteil, es macht mir Spaß, fordert mich heraus, hält das Denken wach und macht das Schreiben interessant (jedenfalls für mich).
Beim Detroit-Buch (meinem vierten) war die Sache sehr schnell klar. Der Strukturwandel interessierte mich: Wie eine reiche Stadt aufs Krasseste verarmen und wie eine krass verarmte Stadt vielleicht wieder reich werden konnte. You can’t make this stuff up, lautet ein oft zitierter Merksatz des nichtfiktionalen Schreibens, und darauf vertraute ich damals zu hundert Prozent: Ich war sicher, dass die gesegnete Wirklichkeit in Detroit genügend Storys, verstörende Eindrücke und erhellende Erkenntnisse bereit hielt, die ich erkunden und über die ich schreiben konnte.
Bei Litauen war es nun aber anders. Diesmal wollte ich die unterwegs vorgefundenen Fakten lediglich als Kulisse, Tapete, Hintergrundgeräusch, Ambient-Musik benutzen – und alles andere relativ frei aus meiner Fantasie hinzufabulieren. Die Idee für den Litauenroman war im Grunde ganz einfach. Obwohl, nein, »einfach« war sie eben nicht, aber so las sie sich auf den ersten Blick wahrscheinlich, zumindest im Exposé.
Stellen wir uns als Protagonistin eine Bundeswehrsoldatin von etwa Ende dreißig vor, aufgewachsen im Rhein-Main-Gebiet, als Kind einer deutsch-amerikanischen »Mischehe«, Tochter einer hessischen Mutter und eines US-Soldaten. Nun soll sie in Litauen als Teil einer »westlichen Schutzmacht« dauerhaft stationiert werden und tritt damit gewissermaßen in die Fußstapfen ihres Vaters – wiederholt sich damit ein Teil der Geschichte? Oder ist jetzt alles anders, gar schon allein deshalb, weil nun auch Frauen in der Armee dabei sind? Was erlebt die Heldin in dem ihr anfangs komplett fremden Land? Was lernt und erfährt sie über deutsche Schuld und heutiges Deutschsein, was über »Ost« und »West«? Und, schließlich, über das Menschsein im Angesicht neuer (drohender) Kriege?
Klingt nicht schlecht – finde ich immer noch. Doch leider: sträubte sich der Roman. Besser gesagt: Mein Autorinnen-Ich funkte ständig dazwischen. Ich nahm die Reise sehr viel persönlicher, als ich es vorgehabt hatte, und dabei verblasste meine Romanheldin, die am Reißbrett entworfene Figur, die Kopfgeburt, von Tag zu Tag mehr. Bis ich sie nicht mehr erkennen konnte.