Netikrumas yra normalu*
* Litauisch für: Verunsicherung ist normal von Katja Kullmann* Litauisch für: Verunsicherung ist normal
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Ein Jahr liegt mein Litauen mittlerweile zurück. Wochenlang bin ich mit Zügen, Bussen, Autos und Fähren kreuz und quer durch das gar nicht mal so kleine Land gefahren (immerhin: doppelt so groß wie Belgien), hatte Unterkünfte in drei verschiedenen Städten gemietet und mit Dutzenden Menschen Gespräche geführt, meist auf Behelfsenglisch, gelegentlich mit Händen und Füßen und manchmal auch auf Deutsch, mit Professorinnen und Barmännern, Übersetzern und Botschaftsangestellten, Studierenden, Soldatinnen, Marktfrauen, Rentnern. Nicht durch eine, sondern sogar durch zwei militärische Sperrzonen war ich spaziert, Hunderte Fotos hatte ich gemacht und anderthalb Notizbücher vollgeschrieben. Doch nicht die kürzeste Kurzgeschichte ist aus all dem erwachsen, nicht mal das mickrigste Gedicht, wenigstens sechs klingende Zeilen über die Dämmerung über den katholischen Dächern von Vilnius oder über das Schilfgeraschel an der Kurischen Nehrung oder über den bröckelnden Putz an den Art-Déco-Fassaden von Kaunas – nothing, nada, nieko habe ich zustande gebracht.
Es ist sogar noch ärger: Nicht nur, dass ich keinen Text aus Litauen mitgebracht habe – ich habe unterwegs sogar noch einen verloren.
Einen ganzen Roman hatte ich bei der Abreise im Kopf gehabt, eine Hauptfigur, erste Umrisse eines Plots – und Litauen als Szenerie. »Den Aufenthalt in Litauen würde ich dazu nutzen, die Gegebenheiten vor Ort zu studieren, Eindrücke, Bilder, Idiome, Szenen zu sammeln. Geplant ist ein Werk erzählerischer Prosa«: So vernünftig, so planvoll hatte ich es in der Vorbereitung formuliert.
Doch als ich nach den erlebnisreichen Wochen in meine erlebnisarme Schriftstellerinnenwohnung zurückkehrte und auf meinem Schreib-Tisch das Romanexposé liegen sah, den großartigen Entwurf, den Auftrag, den ich mir selbst erteilt hatte, begriff ich mit Gewissheit, was ich zuvor, in den Unterwegswochen, bloß wackelig geahnt hatte: Das wird nichts.
Das Merkwürdige war: Statt Enttäuschung verspürte ich Erleichterung. Ein schlechter Roman wäre es nämlich geworden. Und allein Litauen ist zu verdanken, dass er nie geschrieben werden wird.
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Mein Dank gilt nicht dem Litauen, das ich mir vor der Reise zusammenimaginiert hatte, aus ehrgeizig Angelesenem und online Recherchiertem, sondern dem realen, dreidimensionalen, lebendigen Litauen – seinen blankgeputzten Kirchen und seiner Rundumbeflaggung, seinen dampfenden Speck- und Kartoffelgerichten und seinen volldigitalen Türschlössern und Bezahlsystemen, seiner Kopfsteinpflasterschönheit und seinen monströsen Sowjet-Resten, seinen lichten Kiefernwäldern, glitzernden High-End-Showrooms, staubigen Billigläden, hochgetuneten Angeberautos, einsamen Bushaltestellen und rempelfreudigen Fußgängerinnen – die Fußgängerinnen allein ergäben schon Stoff für mindestens eine Novelle.
Ich danke also dem, was der weitgereiste britische Schriftsteller Graham Greene einmal die gesegnete Wirklichkeit genannt hat.1 Aufs Üppigste hat sie mich in Litauen beschenkt. Und trotzdem halten »immer neue Bedenken vor dem Schreiben« mich zurück, nunmehr schon fast ein Jahr.
Von den »immer neuen Bedenken vor dem Schreiben« hat einer meiner Lieblingsschriftsteller auffällig oft gesprochen:2 Wolfgang Koeppen, der ebenfalls gern und viel unterwegs war. Stoff – das anstrengende, oft frustrierende Bemühen, den Stoff mit den eigenen (woher auch immer kommenden) Gedanken zu verschränken: Kaum jemand legte seine Schriftstellerschwierigkeiten so offen, wie Koeppen es zeitlebens tat.
Eine Schwierigkeit hatte mich schon ereilt, während ich noch in Litauen war: Ich konnte niemanden belauschen, weder in einem Café noch in einer Supermarktschlange, noch an einer Haltestelle. Das Passantenbelauschen ist eine durchaus nicht unwichtige Tätigkeit für eine Schriftstellerin. Doch die litauische Sprache war mir auch nach einem ganzen Monat noch so verschlossen wie am ersten Tag.
Wie abhängig ich als Schriftstellerin von diesem Ding, der Sprache, bin: Beinahe hatte ich es vergessen. Doch Litauen hat mich wieder daran erinnert, Tag für Tag, etwa beim Spazierengehen: An die zwanzig Schaufenster habe ich unterwegs fotografiert, die kaum dekoriert und mit Gardinen verhangen waren und an deren Scheiben litauische Wörter vermutlich für litauische Dienstleistungen warben, die sich hinter den Gardinen abspielten – ob aber für ein Versicherungsbüro, einen Massagesalon oder eine Tierarztpraxis, für Gas-Wasser-Installationen, Steuerberatungen oder Psychotherapien: Es war mir unerschließbar. Diese buchstäbliche Fremdheit war keineswegs eine Qual, in gewisser Weise genoss ich sie sogar. Fielen mir einzelne Wörter besonders auf, gab ich sie in eines dieser Online-Übersetzungs-Tools ein und war häufig überrascht, dass sie etwas ganz anderes bedeuteten, als ich vermutet hatte.
Netikrumas ist ein solches Wort. In meiner dritten Litauenwoche habe ich es an einem Kiosk entdeckt. NETIKRUMAS stand in fetten Lettern auf der Titelseite einer Zeitung. Laut Übersetzungstool bedeutet es Verunsicherung, und das entsprach exakt der Gemütslage, in der ich mich in jenem Moment, gut eintausend Kilometer von meinem Heim-Schreib-Tisch entfernt, befand. Im Grunde hatte Netikrumas gleich am ersten Tag eingesetzt, schon bei meinem ersten Zusammenstoß mit einer litauischen Fußgängerin. Womöglich hat Litauen mich mit seiner eigenen Netikrumas sogar nachhaltig angesteckt.
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Bei jedem Buch aufs Neue musste ich überlegen, was genau ich eigentlich herausfinden und erzählen will – und wie ich es am besten tue. Fiction oder Non-Fiction: Das ist stets die erste Grundsatzfrage, und das Springen zwischen den Gattungen war mir nie lästig, im Gegenteil, es macht mir Spaß, fordert mich heraus, hält das Denken wach und macht das Schreiben interessant (jedenfalls für mich).
Beim Detroit-Buch (meinem vierten) war die Sache sehr schnell klar.3 Der Strukturwandel interessierte mich: Wie eine reiche Stadt aufs Krasseste verarmen und wie eine krass verarmte Stadt vielleicht wieder reich werden konnte. You can’t make this stuff up,4 lautet ein oft zitierter Merksatz des nichtfiktionalen Schreibens, und darauf vertraute ich damals zu hundert Prozent: Ich war sicher, dass die gesegnete Wirklichkeit in Detroit genügend Storys, verstörende Eindrücke und erhellende Erkenntnisse bereit hielt, die ich erkunden und über die ich schreiben konnte.
Bei Litauen war es nun aber anders. Diesmal wollte ich die unterwegs vorgefundenen Fakten lediglich als Kulisse, Tapete, Hintergrundgeräusch, Ambient-Musik benutzen – und alles andere relativ frei aus meiner Fantasie hinzufabulieren. Die Idee für den Litauenroman war im Grunde ganz einfach. Obwohl, nein, »einfach« war sie eben nicht,5 aber so las sie sich auf den ersten Blick wahrscheinlich, zumindest im Exposé.
Stellen wir uns als Protagonistin eine Bundeswehrsoldatin von etwa Ende dreißig vor, aufgewachsen im Rhein-Main-Gebiet, als Kind einer deutsch-amerikanischen »Mischehe«, Tochter einer hessischen Mutter und eines US-Soldaten. Nun soll sie in Litauen als Teil einer »westlichen Schutzmacht« dauerhaft stationiert werden und tritt damit gewissermaßen in die Fußstapfen ihres Vaters – wiederholt sich damit ein Teil der Geschichte? Oder ist jetzt alles anders, gar schon allein deshalb, weil nun auch Frauen in der Armee dabei sind? Was erlebt die Heldin in dem ihr anfangs komplett fremden Land? Was lernt und erfährt sie über deutsche Schuld und heutiges Deutschsein, was über »Ost« und »West«? Und, schließlich, über das Menschsein im Angesicht neuer (drohender) Kriege?
Klingt nicht schlecht – finde ich immer noch. Doch leider: sträubte sich der Roman. Besser gesagt: Mein Autorinnen-Ich funkte ständig dazwischen. Ich nahm die Reise sehr viel persönlicher, als ich es vorgehabt hatte, und dabei verblasste meine Romanheldin, die am Reißbrett entworfene Figur, die Kopfgeburt, von Tag zu Tag mehr. Bis ich sie nicht mehr erkennen konnte.
Fürchterlich abstrakt klingt das, aber vielleicht lässt es sich nachvollziehen, wenn ich wenigstens einen kleinen Ausschnitt aus dem Material herausrücke. Zum Beispiel Tag 13 und 14 meines Litauenmonats, relativ originalgetreu aus meinen Unterwegsaufzeichnungen wiedergegeben:
Litauen, Tag 13
Der Zug wird langsamer, die Schaffnerin steht schon an der Waggontür, ich stelle mich mit meinem Gepäck dazu. Sie erkennt (woran auch immer) sofort, dass ich keine Einheimische bin, und fragt, in sehr okayem Englisch und mit gerunzelter Stirn: »Wollen Sie hier raus? Sind Sie sicher?«»Ja«, sage ich, nicke ihr unternehmungslustig zu, packe meinen Krempel und steige aus. »Good luck«, ruft die Schaffnerin mir hinterher, »Ačiū!«6 rufe ich zurück. Sie pfeift zur Abfahrt, der Zug fährt an, und mir fällt auf, dass ich nicht nur die Einzige bin, die an dieser Station ausgestiegen ist, es ist auch niemand zugestiegen. Das Innere des Bahnhofshäuschens: wie ausgestorben. Kein Kaffeeautomat, kein Schalter. Nicht mal ein verschlossener.
Draußen, auf dem Bahnhofsvorplatz, drei staubige Autos, ein Pkw, zwei Kastenwagen. Ringsum vereinzelte Häuser, wie hingewürfelt und hinter hohen Hecken verborgen. Oder sind das eher Datschen, ist das eine Schrebergartenkolonie? Hinter einer der Hecken bellt ein Hund. Um die Häuschen herum grünbraune Felder, an einem Ende des Horizonts Industrieanlagen, am anderen Wald. Eine Bushaltestelle steht da glücklicherweise, wie es sich für einen Bahnhof gehört. Bis zum Stadtzentrum sollen es vier Kilometer sein, sagt das Internet. Der Fahrplanaushang sagt: Der Bus hält hier drei Mal am Tag, sonn- und feiertags gar nicht. Nächste Abfahrt: in zweieinhalb Stunden.
Es ist schwülwarm, Gewittergrollen zu hören, das Gepäck schwer. In einem Hotel im Zentrum habe ich ein Zimmer gebucht. Ich rufe dort an, eine ältere Frau ist am Hörer, sie spricht kein Englisch, ich kein Litauisch, aber das kenne ich schon, jokių problemų, irgendwie klappt es trotzdem meist mit der Verständigung. Ich bitte sie, mir ein Taxi an den Bahnhof zu schicken. Sie sagt (soweit ich es verstehe), das könne sie nicht tun, denn sie wisse nicht, wer ich sei. Ich nenne meinen Namen und die Buchungsnummer. Sie sagt (wenn ich es richtig deute), es liege ihr keine derartige Buchung vor. Dann legt sie auf.
So rumpele ich zu Fuß mit meinem Krempel los, an verwaist wirkenden Kleine-Leute-Häuschen und rostigen Fahnenmasten vorbei (wieder, wie fast überall im Land: die litauische Flagge direkt neben der ukrainischen, auf gleicher Höhe). Nach einer Viertelstunde, das Donnern hat zugenommen, erste Regentropfen platschen auf den rissigen Asphalt, rast mir ein schwarzer Kleinwagen mit Taxischild entgegen. Ob ich die sei, die ins Hotel wolle, fragt der Fahrer (wieder in sehr okayem Englisch, wie die Schaffnerin). Erleichtert steige ich ein. Im Taxiradio läuft Justin Timberlake (Sexy back), nach zwei, drei Minuten Fahrt pladdert der Regen so richtig los, und die Siedlung wird dichter, mehrstöckige Plattenbauten links und rechts. »Ah, das muss die ›Kosmonautensiedlung‹ aus Sowjetzeiten sein«, sage ich. »Kann sein«, sagt der Fahrer. An einer riesigen Baustelle, einem weiträumig aufgerissenen Verkehrskreisel hält er an und bedeutet mir, auszusteigen. »Aber ich möchte bitte ins Zentrum«, sage ich. »Das ist das Zentrum«, sagt der Fahrer. Die ganze Stadt werde gerade umgebaut, »alles EU-Geld«, fügt er hinzu und lacht kurz auf (ob eher fröhlich oder eher garstig, ist schwer zu sagen). »Und die Altstadt?«, frage ich. Wieder lacht der Fahrer, zuckt mit den Schultern und wünscht mir einen schönen Tag.
Okay. Ich bin in downtown Jonava, 35 000 Einwohner, Hauptarbeitgeber: die Holzindustrie. Den Koffer stelle ich im Hotel ab (sie haben mich freundlicherweise doch noch aufgenommen), packe meinen Schirm und gehe gleich los. Viel Zeit habe ich ja nicht, an diesem Ort, und will so viel wie möglich sehen. Zuerst die Kauno Gatvé,7 einst der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Jonava, wie ich etwa bei Grigori Kanowitsch las.8 1929 war Kanowitsch in Jonava zur Welt gekommen, 1940, als er elf war, machten Jüdinnen und Juden rund achtzig Prozent der örtlichen Bevölkerung aus. Dann kam Stalin. Dann kam Hitler. Dann wieder Stalin. Und ich sehe: Heute ist vom jüdischen Leben in Jonava noch eine schmale Häuserzeile übrig, etwa ein Dutzend zierliche Gebäude. Und eine Synagoge mit eingeschlagenen Fenstern, einer Menge Müll vor der verrammelten Tür und einem Maschendrahtzaun drumherum. An der Kreuzung schräg gegenüber blinkt das orangefarbene Logo der Autowaschanlage BUBBLES BAY ins gewittrige Grau.
»Scheißnazis«, zischt es in mir, »Scheißstalinismus auch!«, während ich Jonavas schachbrettartig angelegte Straßen abtrotte. »Kackkommunismus, Drecksplanwirtschaft, voll eintönig, diese sture Rechtwinkligkeit«, motze ich, innerlich, und erschrecke – über eine Idiotenkarre, die von hinten an mir vorbei brettert, mit röhrendem Auspuff und Zündungsgeknatter, das wie Maschinengewehrsalven klingt. Ich kenne diese Geräusche von zuhause, aus dem Wedding. Hier wie dort sitzen Männer am Steuer, die ungeheuer bemüht wirken, »Männer« darzustellen, mit grotesk getuneten Motoren, grotesk trainierten Armen, grotesk getrimmten Vollbärten – Karikaturen von Männern. »Arschloch!«, rufe ich dem Arschloch hinterher und sehe endlich etwas Grünes in der Ferne leuchten: die Wiesen am Ufer des Neris,9 der auch durch Vilnius fließt, Was für eine Erholung, hier muss es ganz schön sein im Sommer. Aus einem Grashügel ragt ein Betonklotz. Eine Skulptur vielleicht. (Findet man ja oft in mittelkleinen Städten, gerade in den besonders traurigen Städtchen – was wäre die Kunst ohne die unverwüstliche Zuversicht der Kreiskulturämter.) Ich stapfe näher an den Betonklotz heran und sehe: meinen ersten Weltkriegsbunker in Litauen.10
Danke – damit reicht es mir fürs Erste. Ohnehin muss ich mich ja noch vorbereiten, auf die Verabredung morgen, und bei dieser Verabredung wird es nicht um den Zweiten Weltkrieg gehen, sondern um den dritten.
Litauen, Tag 14
Kurz nach sieben in der Früh: Wieder sitze ich mit einem Fahrer in einem Auto (dieser ist sehr viel älter als der gestrige und spricht kaum Englisch). Der Mann bringt mich ins Örtchen Rukla, zehn Kilometer von Jonava entfernt, 2100 Einwohner, landesweit bekannt für seine »Spukhäuser«11 und seine hohen Arbeitslosen-, Alkoholkranken- und Kriminalitätsraten. (So steht’s im Internet.) Einst unterhielten die Sowjets einen militärischen Stützpunkt in Rukla, heute ist die »Multinational Battlegroup Lithuania der Nato« dort stationiert, Belgier, Luxemburger, Niederländer, Norweger, Kroaten, Franzosen, Deutsche.
Ich bin mit Hauptmann Hehn verabredet. Den Titel »Hauptfrau« gebe es bei der Bundeswehr nicht, ansonsten seien die Gleichberechtigungserfolge beim deutschen Militär aber ganz beachtlich, erklärt sie mir, als sie mich am schwerbewaffnet bewachten Eingang der Kaserne abholt und hinter den Stacheldraht auf das Gelände führt. Um Hauptmann Hehn dort treffen zu können, habe ich schon von Deutschland aus Kontakt zur Bundeswehr aufgenommen. Nicht als Journalistin wolle ich kommen, sondern als Schriftstellerin, hatte ich gesagt. »Keine sicherheitsrelevanten Details werde ich wiedergeben und keine wörtlichen Zitate, es bleibt alles unter drei«, hatte ich dem Verteidigungsministerium, dem Auswärtigen Amt und ich weiß nicht wem noch alles versichert. »Es geht nicht um einen Zeitungsartikel, bloß um einen Roman«, hatte ich in einem Telefonat gesagt – »Ach so, na dann ist das ja alles halb so wild«, war die Antwort.
Hauptmann Hehn ist abkommandiert, sich um meine Neugier zu kümmern, und geht zuvorkommendst darauf ein. Ein halbes Dutzend ihrer »Kameradinnen« habe sie zusammengerufen, sagt sie und führt mich in ein großes, hellgraues Zelt. Es handele sich um einen »Freizeitraum«, erklärt sie, deutet erst auf eine Tischtennisplatte am Eingang und dann auf eine Sitzgruppe am hinteren Ende des Zelts. Dort sitzen sieben Frauen im Halbkreis und blicken mich erwartungsvoll an. Alle sind sie jung, zwischen Anfang zwanzig und Ende dreißig, alle tragen Flecktarn, alle stellen sich mit ihren Dienstgraden vor, von der Aufklärerin bis zur MP, und bei jeder einzelnen überlege ich: Könnte sie meine Romanfigur sein? Oder sie, die mit den dick getuschten Wimpern da drüben? Oder sie, die schon in Afghanistan im Einsatz war? […]
Man sieht: Ich habe nicht nichts geschrieben.
Nur eben … nichts Richtiges.
5
Schreibende Leute sind selten superreich und dennoch privilegiert, zumindest, was das Reisen angeht, denn wenn sie sich geschickt anstellen, finden sie immer mal wieder jemanden, der ihnen ihr Unterwegssein bezahlt, sei es ein Verlag, der einen Reisekostenvorschuss lockermacht, sei es ein Literaturgremium, das ein Fördergeld oder Stipendium zu vergeben hat.
Was mein Litauen angeht, hatte alles mit dem Fernsehen angefangen, und zwar so: Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 tauchte Litauen immer häufiger in den Nachrichten auf, als »geopolitischer Zankapfel«, als »östlicher Außenposten der EU« und »Ostflanke der Nato«. Zunächst war ich lediglich als unauffällige Bürgerin und gewöhnlicher News-Junkie fasziniert. Oft genug hatte Wladimir Putin die Wiederherstellung Großrusslands als sein politisches Ziel angedeutet, nun zeigte sich in der Ukraine, dass er es wohl ernst meinte. Was, wenn Putin sich als nächstes das Baltikum vornähme? Litauen – geografisch eingeklemmt zwischen der hochgerüsteten russischen Enklave Kaliningrad im Westen und dem kreml-treu regierten Belarus im Osten – wäre in diesem Szenario besonders bedroht.
Nie war ich im Baltikum gewesen. Ich wusste bloß, dass Litauen 1990 die erste aller fünfzehn Sowjetrepubliken gewesen war, die ihre Unabhängigkeit von Moskau erklärt hatte. Mutig waren die Litauerinnen und Litauer etlichen Ex-Ostblock-Staaten, inklusive der DDR, vorangegangen.12 Ein ernst zu nehmendes Nato- und EU-Mitglied war dieses Land nun, ein freundlich gesinnter Nachbar. Ich begann, mir Sorgen zu machen, um Litauen und wahrscheinlich auch um mich. Berlin liegt bekanntlich verflucht weit im Osten.
Eines Tages bekam ich mit, dass Deutschland eine Brigade Litauen, 5000 Bundeswehrangehörige, dauerhaft in das Land entsenden würde und dass den Deutschen dort eigene Siedlungen, Schulen, Facilities aller Art gebaut werden sollten. Das war der Moment, in dem sich die Schriftstellerin in mir dazuschaltete. Plötzlich tanzte mir diese Figur durch den Kopf: die deutsche Soldatin im Auslandseinsatz.
»Man muss sich mit seinen Figuren bewegen«, hatte Graham Greene einmal gesagt und hatte wohl recht damit, ich würde mich ein Weilchen in Litauen umsehen müssen, um die Soldatinnengeschichte schreiben zu können. Nur: wie finanziert? Im Akkord las ich ein Dutzend Bücher über oder aus Litauen, Historisches und Heutiges, Sachliches und Belletristisches, das meiste von Männern geschrieben, Antanas Škėma, Tomas Venclova, Rimantas Kmita, und verfolgte weiter die Nachrichten. »Litauen plant Verlängerung des Ausnahmezustands an Außengrenzen«, las ich. Aber auch: »Litauen gilt als glücklichster Ort für Unter-Dreißigjährige.«13
Dann mischte das Schicksal sich ein. Genauer gesagt: ein Google-Zufall. Wieder einmal tippte ich die »Litauen« und »Literatur« in die Suchmaske ein, und es ploppte die Ausschreibung für ein Litauen-Stipendium auf, vergeben vom Hessischen Literaturrat. Ein vierwöchiger Aufenthalt in der Hauptstadt Vilnius wurde in Aussicht gestellt, Unterkunft und Reisekosten würden bezahlt, hinzu kämen 2500 Euro für weitere Unterwegs- und Lebenshaltungskosten. Vergeben werde das Stipendium an Schreibende, die »einen persönlichen Bezug zu Hessen« hätten, hieß es. Ich bin in Hessen geboren und aufgewachsen, und die Bewerbungsfrist lief noch – hoch lebe Hessen, hoch lebe Litauen, hoch lebe die Literatur!
So baute ich die noch dünnen Romanskizzen zu einem vertrauenerweckenden Exposé aus und verfasste ein Anschreiben, das klar machte, dass ich nicht den ganzen Monat schreibend in Vilnius absitzen, sondern lieber quer durchs Land fahren würde, um möglichst viel davon zu verstehen. Ein paar Wochen später erhielt ich tatsächlich die Zusage, freute mich enorm darüber, nahm sofort Kontakt zur Bundeswehr auf und meldete mich auch beim Lietuvos rašytojų sąjunga, dem litauischen Schriftstellerverband, der die Sache mitfinanzierte und -organisierte.
Für die Betreuung der schreibenden Gäste war die Dichterin Indre Valantinaité zuständig, eine Berühmtheit in der litauischen Literaturlandschaft und eine äußerst freundliche und hilfsbereite Kollegin. Mehrmals half Indre mir aus der Patsche, etwa als ich an der Ostsee mein Telefon verlor oder als ich in Vilnius aus einem eleganteren Viertel in ein abgerisseneres umziehen wollte. (»Es kommt mir da irgendwie realer vor«, sage ich zu ihr, sie nahm es gelassen hin.)
Immer wieder tauschten wir uns auch übers Schreiben aus – Indre, die tendenziell feinfühlige Poetin, die sich viel mit Glaubensfragen beschäftigt, und ich, eher der Typus ruppige Reporterin, die sich für alle möglichen Formen des Aberglaubens interessiert und für die Reise die Arbeit an einem Roman über die Astrologiebranche unterbrochen hatte.14 Trotz unserer unterschiedlichen literarischen Auffassungen und Methoden verstanden wir uns blendend. Indre organisierte eine Lesung und einen Vortrag für mich, an den Universitäten von Vilnius und Kaunas, und in die Ankündigungen schrieb sie: »Die Autorin liebt es zu reisen, vermeidet es aber, unterwegs aufzufallen.«15
Die Kollegin hatte genau verstanden, worum es mir ging: Am liebsten wäre ich in Litauen unsichtbar gewesen. Nicht in meiner Romanfigur wollte ich mich bewegen, sondern mit ihr – wie Graham Greene es formuliert hatte. Nicht aus der Ich-Perspektive wollte ich die Geschichte erzählen, sondern distanzierter, im auktorialen Modus, aus der Vogelperspektive.
Vielleicht hätte es, wenn es mir geglückt wäre, ungefähr so geklungen:
Laura /Anja /Kerstin (ich hatte noch keinen Namen für die Figur) hängte den schweren Camouflage-Overall in den Spind, verließ in ihren leichten Lieblingsjeans und einem hellblauen Sakko das Kasernengelände und bestellte im ersten Lokal, das sie sah, einen Teller Šaltibarščiai, die Rote-Bete-Suppe, von der die Kameradinnen geschwärmt hatten. »Schmeckt?«, fragte der Kellner. Sie nickte, mit vollem Mund, und hob den Daumen ihrer linken Hand. »Russische Suppe, gute Suppe«, sagte der Kellner und strahlte. »Russisch?«, fragte sie und verschluckte sich fast. »Taip«, antwortete der Kellner, »da, yes, jawohl, Madame. Wir nennen sie den ›kalten Borschtsch‹«. Erschrocken ließ Laura /Anja /Kerstin den Löffel sinken und …
Aber Laura /Anja /Kerstin hatte kaum eine Chance. Ich verspürte, schlicht gesagt, überhaupt keine Lust, über sie nachzudenken.
Nach dem ersten Kasernenbesuch war mir klar geworden, dass ich noch immer viel zu wenig über den Alltag in der Bundeswehr wusste. Wochenlange weitere Recherchen waren nötig. Kann ich zuhause nachholen – beruhigte ich mich und ergab mich dem Rausch des Unterwegsseins, ließ mich weiter treiben, von einer litauischen Widersprüchlichkeit in die nächste.
Da waren die pastellfarbenen Oberleitungsbusse des Fabrikats Skoda 14 Tr, die noch aus Sowjet-Zeiten stammen und südlich des Flussufers durch die Vilniusser Altstadtgassen kurven – und gegenüber, am nördlichen Ufer, im topmodern aufgemotzten Stadtteil Šnipiškės, glitzerten scharfkantige Spiegelglastürme in der Septembersonne, Statthalter des freidrehenden Hedgefonds-Kapitalismus.
Das KGB-Museum mit seinen zur Besichtigung freigegebenen Verhör- und Folterkammern – und die Bachata-Tänzer, die sich bei frischem Ostseelüftchen stundenlang zu karibischen Klängen bewegen.16
Das litauische Mallorca, der schrillbunte Ferienort Palanga an der Ostsee, wo es Sushi und Daiquiri, Game Center und Karaoke-Boxen, Irish Pubs und vegane Bowls zum Abwinken gibt – und am anderen Ende des Landes das Dörfchen Katra, im streng kontrollierten Sperrgebiet an der belarussischen Grenze gelegen, mit zuletzt noch 19 Einwohnern, fast ausschließlich verwitweten alten Frauen, die, obwohl sie offiziell Litauerinnen sind, nur Russisch sprechen.
Die katholischen Nonnen, die landauf, landab in kichernden Grüppchen unterwegs sind – die modischen jungen Leute in den Universitätsstädten (»Hipster« würden sie in Berlin geschimpft) – die stämmigen Marktfrauen, die auf den schattigen Rückseiten der Lokalbahnhöfe ihre Waren feilbieten, glänzende Speckschwarten und neonfarbene Plastikeimer voller Pfifferlinge, Putzmittel, Bettwäsche, Bling-Bling-Kleider made in Turkey.
YOU CAN’T MAKE THIS STUFF UP, dachte ich fast jeden Tag aufs Neue.
Und die Fußgängerinnen erst. Als ich erstmals mit einer zusammenstieß, auf einem der schmalen Trottoirs in den Gassen von Vilnius, dachte ich, es läge an mir (die Reisestrapazen). Beim zweiten und dritten Mal auch noch (die Zeitverschiebung). Beim vierten Mal wurde ich etwas sauer – und skeptisch. Beim fünften Mal glaubte ich, ein System hinter den Karambolagen zu erkennen. Nur: welches? Auch andernorts wird es mal eng in krummen Altstadtwinkeln, in Frankreich wie in Italien, in Portugal wie in Schottland, in Krakau wie in Prag – aber eigentlich wichen die Menschen sich dabei doch immer quasi automatisch aus. War das nicht ein basaler menschlicher Instinkt? Dass der eine einen Schlenker nach links macht und die andere einen Ausfallschritt nach rechts, dass man halt irgendwie aneinander vorbei scharwenzelt, mal eleganter, mal genervter – jedenfalls: aneinander vorbei und nicht aufeinander zu? In Litauen kam es mir, wann immer es irgendwo mal eng wurde, aber so vor, als ob jeder jeden wegschubste. An den Passantinnen fiel es mir stärker auf als an den Passanten. Und als ich eines Tages in einem Kaufhaus vor einem T-Shirt-Ständer stand und eine junge Frau von hinten über meine Schulter griff, meinen Arm wegdrückte, sich seitwärts vor mich drängte und eiskalt unhöflich nach einem der blöden Shirts schnappte, war ich mir sicher: Ich bildete mir das Gerempel nicht nur ein, es war tatsächlich Usus in Litauen, und niemand störte sich groß daran.
Klischees sind die Pest. Ich lehne sie ab, halte mich (selbstverständlich) für zu klug dafür, konnte nach all den Zusammenstößen aber nicht länger leugnen, dass ich es offensichtlich mit dem zu tun hatte, was der ukrainischstämmige deutsche Schriftsteller Dmitrij Kapitelman als »authentisch unfreundliche post-präsens-sowjetische Verkäuferinnen«-Art beschrieben hat.17
Dabei waren die Litauerinnen im Privaten, im direkten Gespräch, doch so aufgeschlossen und gewitzt, so fürsorglich, großzügig und charmant.
Erst kurz vor dem Ende der Reise traute ich mich und sprach eine Litauerin auf das Gerempel an. Es handelte sich um eine mir besonders sympathische Litauerin, noch dazu um eine, die seit zwanzig Jahren zwischen Litauen und Deutschland hin- und herpendelt, sie ist also mit beiden Welten vertraut. Ich hoffte, sie nicht zu brüskieren, stotterte ungelenk herum. Die Litauerin lachte. »Wahrscheinlich hast du den Kommunismus nicht kapiert!« Dann sagte sie: »Ich weiß sehr gut, was du meinst, immer wenn ich nach Litauen zurückkehre, fällt es mir ebenfalls auf. Ich habe schon laut darüber geschimpft und zurückgeboxt, das kann ich dir sagen!« Ja aber – woran liegt das, wollte ich wissen. Litauen sei eben nicht nur Teil des Ostblocks gewesen, sondern eine Sowjet-Republik, sagte die Litauerin, »und wahrscheinlich steckt das noch immer in uns drin.« – »Du meinst: Mangelwirtschaft, Schlangestehen, das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein? Und jetzt der Kapitalismus, der knallharte Wettbewerb?«, fragte ich. Kurz blickte die Litauerin versonnen in die Luft. »Naja, Länder wie Ungarn, die Tschechoslowakei oder die DDR kamen uns damals unendlich reich vor, weißt du …«, sagte sie. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ach, wir Litauer sind auch einfach Bauern, ein bisschen grob, das ist unsere Mentalität, immer gewesen. Kannst du ruhig so schreiben.« – »Nein, das kann ich nicht so schreiben, das klingt ja übel«, sagte ich. »Doch«, sagte die Litauerin, »genau so! In deinen empfindlichen deutschen Öhrchen klingt es schlimm, ja ja, aber es ist wahr: Sperr vier Litauer in ein Zimmer, und es herrscht dicke Luft, sperr einen fünften dazu, und es gibt Krieg.« Ich schüttelte den Kopf, die Litauerin beharrte: »Schreib das auf Kullmann, unbedingt, und setz gern meinen Namen dazu, macht mir gar nichts, ich bin Litauerin, wir vertragen eine Menge.«
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Vokietija ist der litauische Name für Deutschland. Und je länger ich über mein litauisches Schreibversagen nachdenke, desto plausibler erscheint mir, dass meine Netrikumas nicht nur an meinem (eventuell leicht neurotischen) Autorinnen-Ich liegt, sondern auch an Vokietija.
Ja, die Deutschen waren schon einmal hier – dachte ich unterwegs ungezählte Male. Dass der Nationalsozialismus in Litauen ebenso gewütet hat wie im Rest Europas, oder sogar noch schlimmer,18 wusste ich, dass ich auf deutsche Spuren stoßen würde, war mir klar gewesen. Aber dass es so viele waren … Suchte ich diese Spuren oder suchten sie mich?
Einerseits passten sie durchaus zu meinem Roman-Konstrukt: die Deutschen und ihre Panzer – gestern Mörder, heute Beschützer. Andererseits ging alles wirr durcheinander, die Vergangenheit, die Gegenwart, das Sach- und Fachwissen, die Laura /Anja /Kerstin-Fantasie und meine eigenen, höchst subjektiven Regungen – Verunsicherungen.
Zum Beispiel in Kaunas, der zweitgrößten litauischen Stadt: Am Ufer der Memel spazieren gehen und die giftige erste Strophe des Deutschlandliedes partout nicht aus dem Kopf bekommen: »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« … Später ein Gemälde an einer Kaunaser Hauswand fotografieren und bei Instagram posten: ein Bild von Lea Goldberg,19 der jüdischen Schriftstellerin, die in Kaunas studiert und Deutsch gelernt hatte und 1935 nach Tel Aviv auswanderte, als eine Zionistin der ersten Stunde … Bei einer Kaffeepause die neuesten News checken und lesen, dass an deutschen Universitäten gerade junge Leute, die sich als »links« bezeichnen, wie wild gegen den Zionismus geifern. (Stimmt, den Gaza-Israel-Konflikt gibt es ja auch noch.) … Nicht aufregen, durchatmen, weiter spazieren – und ein weiteres Fotomotiv entdecken: eine Metallplatte, die an die »Märtyrer des Nationalsozialismus« erinnert, an Tausende, die von Kaunas ins KZ Stutthof im heutigen Polen deportiert wurden.20 (Das Bild nicht bei Instagram posten.) … Abends, im Hotel, wieder News aus Germany: Das letzte Urteil im jahrzehntelangen Stutthof-Prozess ist soeben rechtsgültig geworden, eine mittlerweile achtundneunzig Jahre alte KZ-Sekretärin wurde des systematischen Massenmords für mitschuldig befunden.
Nicht nur die Gestern-heute-Achse, auch das Wessi-Ossi-Problem brachte mich immer wieder durcheinander.
Zum Beispiel, als ich einer Vilniusserin erzählte, dass ich, abgesehen von ein paar Tagen in Polen, Tschechien und der Slowakei, noch nie länger in Osteuropa gewesen war. »Nenn uns nicht Osteuropa«, sagte die Vilniusserin. »Warum nicht?«, fragte ich. »Wir sind nicht Osten, wir sind Westen«, sagte sie. »Ah, verstehe, du meinst: politisch betrachtet?« Die Vilniusserin nickte. »Okay, ich meinte es ja auch vor allem geografisch«, sagte ich, »von Deutschland aus gesehen liegt Litauen nun mal im Osten und …« – »Egal«, sagte die Vilniusserin, »lass es einfach, nenn uns nicht Osteuropa, glaub mir, das kommt hier gar nicht gut an.« Ich bedankte mich für den Hinweis (und habe auf dem Rest der Reise das Wort Osten zu vermeiden versucht, so gut es ging).
Auf einmal kam es mir albern, überflüssig, kindisch, gekünstelt vor, eine Figur zu erfinden und ihr all die Dinge unterzujubeln, die mich unterwegs beschäftigt und berührt haben. Ein Roman ist kein Thesenpapier (oder sollte zumindest keines sein). Die gesegnete Wirklichkeit bot so dermaßen viele spannende Geschichten – warum noch eine dazu erfinden?
»Ich wurde gegenüber dem Roman überhaupt mißtrauischer. Ich fing an, mich zu fragen, was ist ein Roman, kann man heute einen Roman schreiben, sind erfundene Figuren das wahre Medium, um heute irgend etwas auszusagen?«21 So hat Wolfgang Koeppen seine Zweifel an der Fiktion einmal formuliert.
Und an jenem Punkt bin ich bis auf Weiteres stecken geblieben.
Unverletzt und übervoll mit Bildern kam ich also wieder zu Hause an, und die Welt drehte und dreht sich weiter. In Litauen werden fünf Männer festgenommen, nachdem in Leipzig DHL-Pakete explodiert sind (vermutlich ein russischer Anschlag, heißt es); in der Ostsee geht immer mal wieder eine Unterwasserleitung hops; in Vilnius ist erstmals eine rechtsextreme Partei ins Parlament gezogen, die »Morgenröte von Nemunas«; der US-Präsident staucht im Weißen Haus vor der versammelten Weltpresse den ukrainischen Präsidenten zusammen; die Brigade Litauen hat mit dem Umzug nach Rūdninkai bei Vilnius begonnen; eine Studentin, die ich dort, in Vilnius, kennengelernt hatte, ist für ein Semester nach Lüneburg gezogen, ihr ohnehin schon gutes Deutsch verbessert sich von Woche zu Woche; in Talkshows im ZDF und in der ARD wird über die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert; im Privatfernsehen laufen Werbespots für die Tauschhandel-App Vinted (founded in Lithuania); das Bundesinnenministerium rät allen Bürgerinnen und Bürgern, sich einen Notfallvorrat für Krisenzeiten anzulegen; und in meinem Briefkasten landet das frisch veröffentlichte Buch von Indre Valantinaité, meiner litauischen schreibenden Kollegin. Aus dem Jerusalem des Nordens. Gedichte aus Litauen heißt es. Folgende Zeile streiche ich mir darin an: »Mein Leben ist nicht in Gefahr. Ich bin satt und gesund. Ich werde nicht verfolgt. Auf den Straßen marschieren keine uniformierten Männer«.22
Kurz darauf erscheint auch mein Aberglaube-Roman, den ich nach der Litauenreise eilig fertig geschrieben habe, und ich treffe in Berlin eine Frau wieder, mit der ich zuletzt in Vilnius einen Eiskaffee getrunken hatte. Wir gehen zusammen ins Kino: in TOXIC, 2024 von der litauischen Filmemacherin Saulé Bliuvaité gedreht und beim Festival von Locarno mit dem Hauptpreis prämiert. TOXIC erzählt von einer Gruppe junger Mädchen in einer heruntergekommenen litauischen Industriestadt, die von einer internationalen Modelkarriere träumen. Der kapitalistische Körperkampf. Die Existenzangst. Die Existenzlust. Die Existenzwut. Der Film endet wortlos, mit einem lange hängenbleibenden Bild: Ein getunetes Angeberauto fährt auf einem verlassenen Jahrmarktplatz im Kreis, minutenlang im Kreis, aggressiv und eierig, wie auf Droge, die Reifen schleudern postsowjetischen Kies in die Luft.
Die Litauerin, die gerade in Berlin ist, und ich, wir finden den Film ziemlich stark. »Könnte fast genauso auch irgendwo in Nordengland spielen«, sage ich danach. »Oder hier im Wedding«, sage ich. Die Litauerin geht zur U-Bahn, ich zu meiner Schriftstellerinnenwohnung, in der ich zweimal sechs Flaschen stilles Wasser, zwölf Nudelpackungen und zwanzig Gemüsekonserven für den Ernstfall gebunkert habe. Als ich an einer Ampel geduldig auf Grün warte, röhren zwei toxische Dreckskarren vorbei, das Auspuffgeknatter ist noch zu hören, als sie längst schon zwei, drei Kreuzungen weiter sind. Ja, so ist das, hier und heute, jetzt und überall – denke ich. Eine gute Geschichte eigentlich. Wo beginnt sie? Wie endet sie? Eines Tages werde ich es wissen. Dann fange ich mit dem Schreiben an.
Zit. n. Jörg Fauser, Gesegnete Wirklichkeit [1981]. In: Ders., Der Klub, in dem wir alle spielen. Über den Zustand der Literatur. Zürich: Diogenes 2020.
Zit. n. Bernd Erhard Fischer: Wolfgang Koeppen in Greifswald. Berlin: Edition A. B. Fischer 2005.
Katja Kullmann, Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet. Berlin: Suhrkamp 2012.
Der US-amerikanische Schriftsteller und »godfather behind creative nonfiction« hat eines seiner Bücher so betitelt: Lee Gutkind, You Can’t Make This Stuff Up: The Complete Guide to Writing Creative Nonfiction – from Memoir to Literary Journalism and Everything in Between. New York: Da Capo Press 2012.
Wahrscheinlich ist keine schriftstellerische Idee je einfach nur »einfach« – sonst würde es ja nicht immer so lange dauern, bis die Leute endlich fertig werden mit ihren Büchern, nicht wahr?
Litauisch für »Danke!«
Gatvé ist das litauische Wort für »Straße«.
Kaddisch für mein Schtetl heißt der autobiografische Roman, den Kanowitsch über seine Kindheit in Jonava schrieb.
Der Neris ist ein 510 Kilometer langer Fluss, der im Norden von Belarus entspringt, durch die litauische Hauptstadt Vilnius und durch Jonava fließt und in Kaunas, der zweitgrößten litauischen Stadt, in die Memel mündet.
Ein paar Tage später, an der Kurischen Nehrung an der Ostseeküste, werde ich weitere Bunker sehen.
Einst unterhielt die sowjetische Armee einen großen Stützpunkt in Rukla. Die nach dem Abzug der Russen in den 1990er Jahren freigewordenen Gebäude sollten zu günstigem Wohnraum umgewandelt werden, die Substanz ist aber schlecht, und angeblich treiben böse Geister dort ihr Unwesen, heißt es in und um Rukla.
Schon den 1980ern war die Unabhängigkeitsbewegung in Litauen lauter geworden, 1989 kam es dann zur »Singenden Revolution« und zu einer 600 Kilometer langen Menschenkette zwischen der litauischen Hauptstadt Vilnius, dem lettischen Riga und dem estnischen Tallin. Diese Demonstration über drei Länder hinweg ging als »Baltischer Weg« in die Geschichtsbücher ein.
Business Insider vom 19. Juli 2024 (www.businessinsider.de/leben/international-panorama/litauen-gilt-als-gluecklichster-ort-fuer-unter-30-jaehrige-so-ist-es-dort-zu-leben/).
Stars heißt der Roman. Er erschien im Frühjahr 2025 bei Hanser Berlin.
Eine der Ankündigungen findet sich in gekürzter Fassung unter: rasytojai.lt/kvieciame-susipazinti-su-katja-kullmann-siumete-lietuvos-rasytoju-sajungos-rezidencijos-viesnia/
Ein Videobeispiel aus Klaipeda an der Kurischen Nehrung: www.youtube.com/watch?v=uvXeYlqNti0
Dmitrij Kapitelman, Russische Spezialitäten. Roman. Berlin: Frölich und Kaufmann 2025.
»Im Holocaust starben fünfundneunzig Prozent der litauischen Juden – nirgendwo sonst erreichte die Vernichtung eine solche Dimension.« Tomas Venclova, Vilnius. Eine Stadt in Europa. Übersetzt von Claudia Sinnig. Frankfurt: Suhrkamp 2006.
Von Lea Goldberg (1911–1970) ist, soweit ich weiß, nur ein Buch ins Deutsche übersetzt worden, der Roman Briefe von einer imaginären Reise (Frankfurt: Suhrkamp 2003), der von einer unglücklichen Liebe handelt.
Oder ins neugeschaffene Ghetto Slobodka vor den Toren der Stadt. Wie in Frankreich, den Niederlanden oder Polen haben nicht wenige mit den Nazis kollaboriert – noch mal eine eigene Geschichte.
Zit. n. Hans-Ulrich Treichel (Hrsg.), Wolfgang Koeppen. Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Frankfurt: Suhrkamp 1995.
Indre Valantinaité, Das Versteck. In: Dies. (Hrsg.), Aus dem Jerusalem des Nordens. Gedichte aus Litauen. Übersetzt von Cornelius Hell. Taufkirchen: Mediathoughts 2025