Heft 882, November 2022

Neutrale oder politische Regierung?

von Mathias Honer

Im Februar 2020 meinte Angela Merkel auf einer Pressekonferenz während eines Staatsbesuchs in Südafrika, die Wahl Thomas Kemmerichs mithilfe von AfD-Stimmen sei »unverzeihlich« und müsse »rückgängig gemacht« werden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Juni 2022 entschieden, dass sich die Kanzlerin so nicht hätte äußern dürfen. Ich halte diese Entscheidung für falsch, wenn auch für erwartbar. Sie reiht sich in eine nunmehr ständige Rechtsprechung der Richterinnen und Richter des Zweiten Senats in Karlsruhe zu den Äußerungsrechten von Regierungsmitgliedern ein. Nehmen Amtsträger staatliche Ressourcen oder die Autorität des Amtes in Anspruch, dürfen sie nicht parteiergreifend Stellung beziehen, müssen sich also parteipolitisch neutral verhalten.

Diese Rechtsprechung ist von einem unterstützenswerten Anliegen getragen: Amtsträger sollen die ihnen im Interesse der Allgemeinheit übertragenen Ressourcen nicht für den parteipolitischen Wettbewerb missbrauchen. Andernfalls droht der offene politische Diskurs Schaden zu nehmen – schließlich ist der Opposition der Zugriff auf die Mittel des Staates verschlossen. Insoweit sichert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Spielregeln einer liberalen Demokratie, artikuliert sich in der (parlamentarischen) Opposition doch das demokratische Versprechen: Auch die Minderheit kann ohne Blutvergießen zur Mehrheit erstarken; nichts muss so bleiben, wie es ist.

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